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Beklemmende Wehklage

Eine Frau und ein Mann erzählen, obwohl sie schon tot ist. Sie, die kürzlich Verstorbene, um die 40 war sie, er, der Mann in den 60ern. Sie erzählen in inneren Monologen, jeder für sich, von sich und vom anderen und von der Welt. Alternierend erklingen ihre Stimmen in kurzen Kapiteln und verbinden sich zu einem Roman, den Maralde Meyer-Minnemann großartig ins Deutsche übertragen hat, um dies gleich vorweg zu sagen. Die namenlose Tote, erinnert er, war eine Frau von "mitleidloser geistiger Beweglichkeit", der Duft ihres Körpers eine "erregende Mischung aus Rosen, Zimt und Sex", ein "wahres Nationalarchiv der Leidenschaften", infiziert von einem "unheilbaren Virus" der Freude, der alle ansteckte und mitriss.

Von Christoph Schmitz | 29.09.2004
    So entsteht nach und nach über seine und ihre Erinnerungen das sehr plastische Porträt einer klugen und engagierten Person, die ihren Studenten die Geschichte der Zivilisation als einen "systematischen Ausschluss der Frauen" offenbart, womit sie aber aufräumen will - denn auch das zeichnete sie aus: die Kraft und der Mut zur Macht, ins Geschehen einzugreifen und die Welt zu verbessern. Sie wechselt in die Politik und kämpft, bald als Ministerin, für die Sache der Frauen und Kinder, vor allem der unterdrückten und misshandelten.

    Aber da haben sich die Wege des Paares schon getrennt, obwohl es auch zuvor nie richtig zusammengekommen ist. Ihrem politischen Pathos steht sein Trauma als Soldat im portugiesischen Kolonialkrieg in Afrika mit seinen Greuel entgegen. Auch die soziale Herkunft der beiden könnte nicht größer sein, stammt er doch aus einer alten, wohlhabenden Lissabonner Familie mit nach wie vor auch für ihn vorteilhaften Kontakten in die Vorstandsetagen der Wirtschaft und sie aus den bescheidenen Verhältnissen einer kleinbürgerlichen Adoptivfamilie. Doch kaum lernen sie sich an der Universität kennen, er, der alte Student, sie die junge Professorin, da entzündet sich ihr Interesse aneinander, entzünden sie sich gegenseitig zu einem Rausch des kritischen Dialogs, hochfliegender Pläne und einer Suche nach Übereinkunft.

    Aber auch das an dir, dem ich am meisten widerstand, wurde am Ende Fleisch meines Fleisches. Ich habe deine Lieben und deinen Hass adoptiert.

    Sagt er. Und sie:

    Du warst genauso Frau wie ich, ich war genauso Mann wie du – (...) alles zwischen uns war Sex, sublimer Sex ohne das Quietschen von Matratzenfedern.

    Ein Paar sind sie und sind es dennoch nicht:

    ... nicht einmal in jener Nacht, in der wir beide allein deine Flasche alten irischen Whiskey geleert haben und den allerersten Sonnenanstrich auf den Dächern von Lissabon gesehen haben, ist es uns, auch nicht eine Sekunde lang, in den Sinn gekommen, das auszuprobieren, was man den Taumel des Körpers nennt. In gewisser Weise kannten wir den Körper des anderen auswendig; wir hatten Hemmungen und Ausschweifungen getauscht wie Kinder Sammelbilder. Mehr als Freude, war es eine Art Stolz, was uns bei diesem Austausch finsterer Intimitäten berauschte. Ohne mit dir zu schlafen, lernte ich von dir die Siege und Niederlagen eines Mannes, die turbulente Strenge der Lust, die Panik vor dem Versagen, die Relativität der Hingabe als Regel absoluter Hingabe.

    Ines Pedrosa hat eine ungewöhnliche Liebesgeschichte geschrieben, sowohl was das Verhältnis ihrer beiden Figuren angeht als auch die Art und Weise, wie die beiden Figuren erzählen. Denn sie wollen weniger die Stationen ihrer Begegnung abarbeiten, als ihr gemeinsames Leben und ihre Zeitgenossenschaft meditieren. Die äußeren Lebensgeschichten scheinen dabei nur beiläufig auf. Die Monologe schwingen sich auf zu einer lyrischen Meditation über die Liebe, das Leben und über einen Gott, der den Tod und die Schrecken seiner Welt eingepflanzt hat. Und mit dem allgegenwärtigen Tod verwandelt sich ihr Hohes Lied immer wieder in eine beklemmende Wehklage. Und dann stockt einem der Atem, wenn zur Klage gleich der Beweis geliefert wird. Während er im Fernsehen ein Reportage über die Verbrechen Pinochets verfolgt, prügelt in der Nachbarwohnung ein Vater seine kleine Tochter zu Tode, worauf sie ihn aus ihrem jenseitigen Dasein vergeblich aufmerksam macht.

    Doch so konkret und direkt wird es selten in Ines Pedrosas Roman. Das ist seine Stärke, aber mitunter auch seine Schwäche. Zu oft für meinen Geschmack gleiten die Worte ins Ungefähre und manchmal, wenn auch selten, in eine hermetische Sprachakrobatik. Die aber in anderer Hinsicht wiederum Sinn macht. Denn im Verlauf der Monologe geschieht etwas Merkwürdiges. Die beiden Stimmen reden nicht mehr nur vor sich hin, also aneinander vorbei, sondern korrespondieren zunehmend miteinander. Was zu Lebzeiten beider in Gang gesetzt worden ist, die Vereinigung, strebt nach ihrem Tod der Vollendung, einer unio mystica zu. Darum wird das Erzählen zu einem Ringen um Worte, so wie sich die Mystik ihren Weg zu Gott über Paradoxien bahnt, auf Kosten des Verstehens.

    Ich brauche keine Geschichte mehr zu erzählen. Ich lasse alle Glanzeffekte fallen und erreiche das Herz der Liebe, diese deckende Farbschicht, die über der Zeit schwebt und alles verändert, was sie berührt. (...) Wichtig ist nicht der Plot, die Form, nicht einmal die Farbe. Wichtig ist das gemeinsame Kreisen eines Körpers und einer Seele um den nackten Kern ihrer Wahrheit.

    Ines Pedrosa
    Du fehlst mir
    Luchterhand, 300 Seiten, EUR 20,-