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Beobachtung aufgeblasenen Geschwätzes

Auf einer Atlantiküberfahrt prallen unterschiedliche Kulturen und Ressentiments brutal aufeinander. Der Roman "Das Narrenschiff" entstand unter dem Eindruck der NS-Gewaltherrschaft - und ist dennoch heute noch aktuell.

Von Ursula März | 05.12.2010
    Die Geschichte dieses Romans spielt zwischen dem 22. August und dem 17. September 1931 und sie beginnt wie große amerikanische Filme bisweilen beginnen - mit einem "establishing shot" aus demiurgischer Distanz. Wie ein Suchscheinwerfer kreist das Auge des Erzählers über die mexikanische Hafenstadt Veracruz, nimmt Häuser, Straßen, Menschengruppen wahr, unterscheidet sie in zwei Gruppen, die der Reisenden, die sich nervös, mit Koffern und Taschen bepackt zwischen Behörden und Visaschaltern der Hafenstadt hin- und herbewegen. Und die der Einheimischen, die phlegmatisch in Cafés sitzen, an Fenstern lümmeln und das Treiben der Fremden verfolgen, halb teilnahmslos, halb abschätzig. Langsam zoomt sich das Erzählerauge an die Szenerie heran, bis eine einzelne Gestalt im Bild erscheint. Es ist eine Gestalt, wie sie elender, erbarmungswürdiger kaum vorstellbar ist. Ein an allen vier Gliedmaßen verstümmelter Bettler, der sich mit grotesken Bewegungen über die Erde schiebt, darauf hoffend, dass ihm von den Tischen der Restaurants ein Kanten Brot oder ein Stück Fleisch hingeworfen wird, die er, da ihm Hände und Füße fehlen, wie ein Tier mit dem Mund vom Boden aufschnappt.

    "Der Bettler, der sich jeden Tag pünktlich mit den ersten Gästen auf der Terrasse einstellte, kam, die Stümpfe seiner vier Gliedmaßen in ledernde Kappen eingebunden, halb watschelnd, halb kriechend um die Ecke. Er war, als Vorbereitung auf seinen Beruf, in früher Jugend von einem Meister seines Faches so raffiniert verstümmelt und deformiert worden, dass er kaum noch einem menschlichen Wesen ähnelte. Stumm und halb blind kam er näher, die Nase fast am Boden, als folgte er einer Fährte; hin und wieder machte er eine Ruhepause und wiegte langsam seinen hässlichen zottigen Kopf in unerträglichem Leid. Die Männer am Tisch blickten flüchtig zu ihm hin wie auf einen Hund, der selbst für einen Fußtritt zu abstoßend ist, und er wartete neben jedem Einzelnen geduldig auf das Klirren der kleinen Kupfermünzen, die in den klaffenden Lederbeutel an seinem Hals geworfen wurden. Wenn einer der Männer ihm eine ausgepresste Limonenhälfte hinhielt, setzte er sich auf die Schenkel zurück und ließ sich die Frucht in den aufgesperrten grässlichen Mund stecken, um dann mit malmenden Kiefern wieder vornüber zu fallen. Endlich kroch er über die Straße zur Plaza und legte sich unter die Bäume hinter den kleinen Indio, der den Kopf nicht nach ihm wandte."

    Ein Gesellschaftsroman von knapp 700 Seiten und einem mehrere Dutzend Figuren umfassenden Ensemble, der dem Leser, noch bevor sich der Vorhang vor der eigentlichen Handlung gehoben hat, eine allegorische Erscheinung wie diesen Bettler als Vorspiel zumutet, legt frühzeitig die Route der Erzählung fest. Tatsächlich vollzieht sich Katherine Anne Porters Roman "Das Narrenschiff", der 1962 in den USA, ein Jahr später auf Deutsch erschien und nun in einer kritischen Neuedition noch einmal herauskommt, als Fahrt in die Hölle der Menschheit. Man darf an Bilder wie von Hieronymus Bosch denken, zumal an ein Gemälde, das, wie eben Porters Roman, "Das Narrenschiff" heißt. Beide, der Roman aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und das mittelalterliche Bild, gehen auf das 1494 in lateinischer Sprache verfasste Buch "Das Narrenschiff" von Sebastian Brant zurück. Die Amerikanerin Porter las es 1932 in Basel …

    "… noch erfüllt von den Eindrücken meiner ersten Überfahrt nach Europa. Als ich dann über meinen Roman nachzudenken begann, beschloss ich, dieses fast universale, einfache Sinnbild zu übernehmen: das Schiff dieser Welt auf seiner Fahrt in die Ewigkeit. Es ist keineswegs neu - schon vor Sebastian Brant war es ein altbewährtes, bekanntes Symbol. Aber es drückt genau das aus, was ich sagen will: Ich bin ein Passagier auf diesem Schiff."

    Und sie war Passagierin an Bord der "Vera", jenem Schiff der Norddeutschen Lloyd, das im Roman am 22. August 1931 vom mexikanischen Veracruz aus die kanarischen Inseln ansteuert und am 17. September 1931 den Zielort Bremerhaven erreicht. Die Zeit der Handlung ist damit, von jedem Bordfrühstück bis zum Kapitänsdinner, so genau festgelegt wie der exterritoriale Ort, eine Art schwimmender Zauberberg auf dem Atlantik, mit dem klassischen Topos der geschlossenen Gesellschaft.

    "Das Schiff sollte um vier Uhr ablegen, es war Zeit zum Aufbruch. Dr. Schumann überquerte mit dem disziplinierten Schritt eines alten Militärs das Deck und pflanzte sich an der Reling auf; entspannt ohne Schlaffheit, die Hände an den Seiten herabhängend, beobachtete er den unordentlichen Zug von Passagieren, der die Gangway heraufkam."

    Diese internationale Romangesellschaft aus deutschen Ehepaaren, Schweizer Familien, amerikanischen und schwedischen Einzelreisenden, kubanischen Studenten, einer spanischen Tanz- und Gesangstruppe im Auge zu behalten, fällt dem Leser, auch wenn er in den Bordturbulenzen längst heimisch geworden ist, keineswegs leicht. Immer wieder blättert man bei der Lektüre zum zweiseitigen Personenregister zurück, das dem Roman vorangestellt ist, um zu überprüfen, ob es nun die schweizerische Familie Lutz oder die deutsche Familie von Professor Hutten ist, deren Reise durch die Anwesenheit einer seekranken Bulldogge, bzw. durch die Sorge um die ungelenke heiratsfähige Tochter Elsa strapaziert wird. Katherine Anne Porters "Narrenschiff" ist ein historischer Roman im doppelten Sinn. Er bringt die aufgeladene Atmosphäre kurz vor dem Ausbruch des Hitler-Regimes in Erinnerung. Und er bringt dem heutigen Leser, der sich an den Konsum eher schmaler Romankost gewöhnt hat, an Bücher, deren Handlung von zwei Haupt- und drei, vier Nebenfiguren bestritten werden, den Geschmack an der üppigen Mahlzeit des großen modernen Epos in Erinnerung. In der Nussschale des "Narrenschiffs" ist, en miniature, die gesamte menschliche Spezies vertreten.

    "Eine junge Mexikanerin in der für ihre Gesellschaftsschicht üblichen eleganten Trauerkleidung, zermürbt und entkräftet nach einer kürzlichen Entbindung, kam langsam über die Gangway; sie stützte sich auf den Arm des indianischen Kindermädchens, das den Säugling in einem lang herunterwallenden, bestickten Gewand auf dem anderen Arm hatte. Die Indianerin trug mit funkelnden Steinen besetzte Ohrringe, und ihr weiter, bunt bestickter Pueblo-Rock enthüllte bei jedem Schritt für einen kurzen Augenblick ihre sittsam ausschreitenden, zierlichen nackten Füße. Ein ziemlich farbloses Ehepaar folgte, offenbar die Eltern des stämmigen Mädchens, das zwischen ihnen ging und beide an Größe und Gewicht übertraf; alle drei blickten mit stumpfen, verwirrten Mienen um sich. Zwei einander sehr ähnliche mexikanische Priester mit strengem Blick und blauschwarzen Wangen gingen rasch um den langsamen Zug herum und setzten sich an die Spitze. "Schlechtes Vorzeichen für diese Überfahrt", sagte ein junger Offizier zu einem anderen, und beide blickten diskret nach der anderen Seite. "Immerhin nicht so schlimm wie Nonnen", meinte der zweite, "sinken tut ein Schiff nur, wenn Nonnen drauf sind". Die vier hübschen schlampigen Spanierinnen mit ihrem straff über die Ohren zurückgekämmten schwarzen Haar und den dünnsohligen schwarzen Schühchen, deren Spitzen zu kurz und deren Absätze schief getreten waren, verabschiedeten sich seelenruhig mit vielen Küssen von einem halben Dutzend ortsansässiger junger Männer, die mit Blumen und Obstkörben ans Schiff gekommen waren. Dann gesellten sich ihre eigenen vier jungen Männer mit den Wespentaillen zu ihnen, und sie schlenderten zusammen hinauf, die Mädchen mit taxierenden Blicken auf die Reihe der blondhaarigen jungen Offiziere. Die Zwillinge trotteten gleichgültig hinterher; sie hatten verschmierte Gesichter und naschten ununterbrochen Süßigkeiten aus schmuddeligen Tüten."

    Aus diesem soziologischen Panorama, das Porter zu Beginn des Romans entwirft, klingen sie schon heraus, die verdächtigen Töne nationaler, kultureller und ethnischer Ressentiments. Im Lauf der zweieinhalb Wochen, die das bunt gemischte Romanvölkchen auf dem "Narrenschiff" verbringt, werden sie sich zuspitzen und in Konflikten entladen, deren Kampflinien nichts anderes markiert als nackter Rassismus. Das ist das Kerngeschehen des Romans. Herr Rieber, Herausgeber einer Fachzeitschrift für Damenbekleidung, der das Privileg genießt, am Tisch des Kapitäns zu speisen - seinerseits ein Exemplar aus der Typologie des deutschen Präfaschisten - fädelt eine Intrige ein, um Herrn Freytag aus der Tischnachbarschaft zu vertreiben. Denn Herr Freytag soll, so will es die Gerüchteküche an Bord wissen, ein Jude sein. Das ist er nicht, allerdings ist er mit einer Jüdin verheiratet, seine Reise nach Deutschland dient dem Zweck, sie nach Südamerika zu holen. In stummer Übereinstimmung der Reisenden wird Herr Freytag an einen Tisch komplimentiert, an dem Herr Löwenthal, jüdischer Fabrikant und Vertreter katholischer Devotionalien, seine Mahlzeiten bis dahin allein einnahm. Diese Episode enthält den Virus, der sich ab nun ausbreitet und epidemische Ausmaße annimmt. Der Name des Virus ist: menschliche Feindschaft. Die Reisenden des Oberdecks sind die Feinde der 800 spanischen Arbeiter, die im Zwischendeck wie Tiere zusammengepfercht sind. Die Bewohner der alten Welt fühlen sich als Feinde der neuen. Gemeinsam ist den Europäern und Amerikaner allerdings die Ablehnung der Südamerikaner, wobei es auch hierbei feine Unterschiede gibt: Die Kubaner nehmen einen leicht höheren Rang ein als die Mexikaner. Der Virus dringt in Ehen ein, macht aus Kindern Teufel, die zum schieren Vergnügen die Bulldogge von Professor Hutten ins Meer werfen, ja er erreicht sogar den Schiffsarzt Dr. Schumann, der eigentlich die Position der neutralen Instanz einnimmt. Er verfällt in Hassliebe zu einer heruntergekommenen, drogensüchtigen spanischen Aristokratin, die als politisch Verbannte von Kuba nach Teneriffa deportiert wird, und nutzt seine medizinische Autorität, um sie in ihrer Schiffskabine gefangen zu halten. Als breit angelegter Gesellschaftsroman setzt sich Porters "Narrenschiff" aus einer kaum zitierbaren Menge einzelner Handlungsstränge und Nebenepisoden zusammen, die sich aber ausnahmslos bündeln in der Erzähldynamik des Romans, dem Anstieg der kollektiven Stimmung auf der Fieberkurve der Aggression. Zwangsläufig und eine Spur zu vorhersehbar kommt es zur Eskalation am Ende. Ein großes der Schiffsbelegschaft vollzieht sich als brutale Höllenparty, wie Hieronymos Bosch sie hätte malen können. Was Katherine Anne Porter hier darstellt, ist die Nachtseite der Zivilisation, die Barbarei. Für die historische Einordnung des "Narrenschiffs" ist die Produktionsgeschichte des Romans ausschlaggebend. Er entstand nach 1945, das heißt, mit und in dem Wissen um den Rassenwahn des deutschen NS-Regimes, um die wahnhafte Tendenz jedweden fanatischen Nationalismus. Von der ersten Zeile an schwingt in der nationalen Typisierung der Schiffspassagiere etwas Unheimliches mit.

    "Dann kam eine Reihe von Nordamerikanern, deren Gesichtszüge Dr. Schumann kaum zu unterscheiden vermochte, nur dass es sich um Amerikaner handeln musste, war offensichtlich. Sie waren im Allgemeinen magerer und zartknochiger als die Deutschen, aber nicht so grazil wie die Spanier und die Mexikaner. Außerdem war es ihm unmöglich, sie - wie die Angehörigen anderer Nationen - gesellschaftlich zu klassifizieren; alle hatten merkwürdig gespannte, geistesabwesende Gesichter, die aber fast nie irgendwelche Schlüsse auf ihren Charakter zuließen. Eine recht hübsche Frau mittleren Alters in Dunkelblau machte einen sehr ehrbaren Eindruck, bis auf einen großen, unregelmäßigen blauen Fleck an ihrem Arm unterhalb des kurzen Ärmels - höchstwahrscheinlich ein Andenken an eine Liebesnacht -, der absolut nicht zu ihr passte und ihr etwas leicht Anrüchiges verlieh. Das Mädchen in der blauen Hose hatte schöne Augen, aber ihr freches, leichtfertiges Auftreten machte sie Dr. Schumann trotz ihres guten Aussehens unsympathisch, denn seiner Ansicht nach war Bescheidenheit die schönste Tugend für ein Mädchen. Der junge Mann an ihrer Seite hatte ein edel geschnittenes Profil mit Römernase und abweisende blaue Augen - eigensinnig wie ein störrisches Kaltblut. Ein großer, schlaksiger dunkler Bursche, der, wie Dr. Schumann sich erinnerte, in irgendeinem texanischen Hafen an Bord gekommen war, kehrte von einem Landausflug zurück; er hielt sich dicht hinter den spanischen Mädchen und musterte sie mit einem Blick, den man nur lüstern nennen konnte."

    Das literarische Werk der 1890 geborenen Katherine Anne Porter ist schmal, es besteht aus einigen Erzählbänden, einer großen Sammlung journalistischer Reportagen und dem opus magnum "Das Narrenschiff". Porters Leben selbst war ein Abenteuerroman, sie reiste unermüdlich um die Welt, sie heirate mehrmals und immer unglücklich, sie war am Ende so arm wie einsam und sie galt lange als eine literarische Hoffnung, die sich nicht recht zu erfüllen schien. Bis 1962 in Amerika "Das Narrenschiff" herauskam, ein sofortiger Erfolg und eine Überraschung auch insofern, als die Gattung des großen Gesellschaftsromans in der Literaturgeschichte tatsächlich eher Männersache ist. In Deutschland indes stieß der Roman auf Skepsis, auf geteilte Kritiken, ja auf Ablehnung. Er wurde als antideutsch und polemisch empfunden.

    "Der Professor erinnerte sich, dass er diese wilden Lümmel von Anfang an missbilligt und seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass sie in ihrem unverständlichen Kauderwelsch mit so noblen, verehrungswürdigen Namen wie Nietsche, Schopenhauer und Kant um sich warfen; hatte er sich verhört, oder hatten sie wirklich gewagt, den Namen Goethe zu missbrauchen? Neben weniger großen, aber immer noch ehrwürdigen Namen wie Shakespeare und Dante? Selbst wenn sie sich einigermaßen ruhig verhielten, waren ihre Gesichter niemals ernst, ihre Stimmen hatten nie einen nachdenklichen Klang. Wie die Affen schnatternd, wagten sie den Namen Nietzsche auszusprechen - zweifellos bereitete es ihnen eine gemeine Befriedigung, ihn zu missdeuten und zu entehren. Keine Ehrfurcht, keine geziemende Demut vor großen Dingen - darin versagten alle diese nichtnordischen Rassen, insbesondere die iberische, lateinische und gallische; wahrhaftig, die Frivolität, der erschreckende Mangel an intellektuellem Ernst, war bei ihnen eine endemische Krankheit, eine Seuche, die sie überall in die Neue Welt eingeschleppt hatten. Professor Hutten hätte ein für alle Mal an der Menschheit verzweifeln können, wäre ihm nicht die Hoffnung auf das Fortleben des alten germanischen Geistes geblieben. Er nahm sich tapfer zusammen und versuchte, seine Frau zu trösten."

    Von dieser Art sind Katherine Anne Porters scharf geschliffene Beobachtungen. Ihr entgeht weder das schauderhafte Elend des verkrüppelten Bettlers am Hafen von Veracruz noch das pseudoteutonisch aufgeblasene Geschwätz eines deutschen Professors. Porters Erzählkunst ist reiner Desillussionismus.

    ""Frau Rittersdorf, die sich des gesellschaftlichen Abstands zwischen ihr und Herrn Rieber wohl bewusst war, unterdrückte um der Gerechtigkeit willen ihr Vorurteil und stimmte ihm zu. "Sie haben Recht, Herr Rieber", sagte sie herablassend, "wir dürfen nicht vergessen, dass nur ihr Gott sie auserwählt hat. Wir sind in keiner Weise verpflichtet, uns nach seinem schlechten Geschmack zu richten ..." – "Die religiöse Frage interessiert mich nicht", sagte Herr Rieber, ohne von Frau Rittersdorfs Herablassung etwas zu ahnen, "ich habe nur den dringenden Wunsch, dass die deutsche Nation, der Blutstrom unserer Rasse, von dem jüdischen Gift gereinigt wird." - "Aber Sie sind ja ein richtiger Antisemit!" rief die kleine Frau Schmitt plötzlich erschrocken. "Ich kenne keine Juden, aber ich habe nichts gegen sie ..." – "Ich bin absolut kein Antisemit", erwiderte Herr Rieber streitsüchtig. "Wie können Sie so etwas sagen? Ich habe die Araber sehr gern, ich habe einmal unter ihnen gelebt und gefunden, dass sie sehr brave Leute sind". Frau Rittersdorf wandte sich lächelnd an Dr. Schumann. "Sie haben noch nichts gesagt, lieber Doktor. Wie denken Sie über die Juden?" Dr. Schumann sagte milde und entschieden: "Ich habe nichts gegen sie zu sagen. Ich glaube, dass sie und wir denselben Gott verehren." - "Aber Herr Doktor", sagte Lizzi mit vorgebeugtem Oberkörper den Kopf wiegend, "Sie sind doch Katholik, nicht wahr? Verehren die Katholiken nicht zuerst die Jungfrau Maria und dann erst Gott?" - "Nein", sagte Dr. Schumann. Er legte Messer und Gabel gekreuzt auf den Teller, faltete sorgfältig seine Serviette zusammen und erhob sich ohne besonderen Nachdruck. "Würden Sie mich bitte entschuldigen", sagte er und ging."

    Kennen wir sie nicht - diese Stammtischgespräche um Religion, Kultur und Rasse? Um Intelligenzgene, Kopftuchmädchen und Intregrationskrisen? Katherine Anne Porters "Narrenschiff" gehört zu jenen großen Romanen der abendländischen Literaturgeschichte, deren Stoff historisch überholt sein mag und die sich dennoch lesen, als spielten sie in der Gegenwart, als befänden wir uns selbst an Bord der "Vera" mitten auf dem Atlantik, mitten im feindseligen Klima des Ressentiments. Dass der Roman nun noch einmal auf Deutsch erscheint, ist ein Glücksfall, dass er in der alten, nur leicht bearbeiteten Übersetzung von Susanna Rademacher erscheint, ist völlig plausibel.

    Buchinfos: Katherine Anne Porter: "DAS NARRENSCHIFF". Aus dem Amerikanischen von Susanne Rademacher. Überarbeitete und kommentierte Neuausgabe, mit einem Nachwort von Elke Schmitter, Manesse Verlag Zürich 2010 (amerikanische Erstveröffentlichung 1962, dt. 1963), 699 Seiten. 26,95 Euro