Luca Samotti - Anfang 30, Dreitagebart, Lederjacke und Männerdutt - wollte sich lieber nicht in den Redaktionsräumen von "Bergamo News" treffen: Ansteckungsgefahr. Also setzen wir uns vor eine Kaffeebar, unweit der Straße zum großen Krankenhaus von Bergamo. In dieser Klinik rangen die Ärzte im März und April um das Leben tausender Covid-Patienten.
"Dieses Geräusch war das einzige, das wir hörten, in den vergangenen drei oder vier Monaten. Stell Dir vor: eine geschäftige Stadt wie Bergamo, völlig still, bis auf die Sirenen der Krankenwagen. Es war grässlich. Schrecklich!"
"Niemand war sicher"
100.000 Einwohner hat Bergamo, eine Universität und eine wunderschöne Altstadt, durch die normalerweise die Touristen strömen. Doch dann kam das Virus. Covid-19 verbreitete sich in der dicht besiedelten Lombardei mit ihren vielen Firmen und Kontakten ins Ausland rasant. Das Gesundheitssystem brach zusammen, fast 17.000 Menschen starben, vor allem die älteren, aber nicht nur. Niemand war sicher, sagt Luca Samotti.
Er und seine fünf Kollegen von "Bergamo News" arbeiteten wie verrückt: Der Chef schickte sie alle schon im Februar ins Homeoffice. Luca Samotti wohnt in Dalmeri, einem Dorf in der Nähe der Provinz-Hauptstadt, zusammen mit seiner Verlobten und im engen Kontakt mit seiner Großmutter. Darum lehnte er anders als manche Kollegen Reporter-Einsätze außer Haus meist ab. Stattdessen recherchierte er von früh bis spät am Telefon.
Persönliche Betroffenheit
"Wir versuchten unserer Gemeinschaft alle Informationen zu geben, die wir hatten, sobald wir sicher waren, dass sie stimmten. Wir fanden heraus, dass die offiziellen Zahlen der Regionalregierung für die Provinz Bergamo nicht stimmten: Sie sagten, im März habe es 2.500 Tote gegeben. Aber tatsächlich waren es fast 6.000. Ich kann sagen, dass wir eine Generation von Großeltern verloren haben."
Ausnahmslos jeder in Bergamo, auch er und seine Kollegen, hätten jemanden aus dem Familien- oder Freundeskreis an das Virus verloren. Wegen dieser persönlichen Betroffenheit sei es für sie als Journalisten schwierig gewesen, zu dem Thema professionelle Distanz zu wahren.
"Aber wir haben uns eine Regel gegeben: Wir müssen nach der Wahrheit suchen. Ohne den Menschen noch mehr Angst zu machen, als sie ohnehin schon hatten. Sag ihnen einfach die Wahrheit."
Weltweite Aufmerksamkeit für Italien
Die "Bergamo News", eine reine Online-Zeitung mit vielen jungen Lesern, ist sehr aktiv in den sozialen Medien. Am 21. März postete Luca Samotti auf seiner Facebookseite ein Video, das eine lange Schlange von Lastwagen am Monumentalfriedhof in Bergamo zeigt: Die Armee holte hunderte Särge ab und brachte die Toten zur Einäscherung nach ganz Nord- und Mittelitalien. Denn auch die Krematorien der Lombardei waren überlastet. Luca Samotti und seine Kollegen wollten der Welt zeigen, was da auf uns alle zukommt, wenn nicht schnell gehandelt wird.
"Wenn man daran denkt, dass die Provinz Bergamo 1,1 Millionen Einwohner hat und es Tage gab, an denen wir 800.000 Leser hatten! Nicht nur hier aus der Gegend: Die Augen der Welt ruhten damals auf Bergamo."
Fokus auf ein Thema
Viel Verantwortung für das kleine Redaktionsteam: Sie veröffentlichten darum oft viele Karten und Grafiken, die leicht zu verstehen waren. Außerdem vereinfachten die Autoren den Sprach-Stil ihrer ja auf Italienisch geschriebenen Artikel. "Bergamo News" sei damals mindestens drei Mal so umfangreich gewesen wie vor Corona, erzählt Luca, mit nur einem Thema.
"Keine Sportnachrichten mehr, keine Kunst, keine Kultur, Politik: Alle diesen Themen wurden von Covid verdrängt."
Mittlerweile versuchen sie, zur Normalität zurückzukehren: Die Reporter berichten auch wieder über Verkehrsprobleme und die Kommunalwahlen.
"Nicht vergessen, was passiert ist"
"Vielleicht überbewerten wir manche Themen auch, um mal über etwas Anderes schreiben zu können, als Covid. Wir wollen nicht vergessen, was passiert ist, wir wissen es ganz genau. Das bleibt für immer in uns. Aber wir - und wir glauben auch unsere Leser - wollen die Situation hinter uns lassen."
Doch das ist nicht so leicht, denn auch in Italien steigen die Neuinfektionen neuerdings wieder. Und wieder ist die Lombardei einer der Hotspots. Die Aussicht auf eine zweite Welle sei beängstigend, sagt Luca Samotti.