
Die Hauptfigur Fred wird er in der klinisch weißen Bühnenwohnung in Berlin gerade erst geboren. In Dortmund stirbt die Figur schon. Das ist dank der Kamera-Life-Übertragung zu sehen. Immer wieder kann man dem 420 km entfernten Publikum sogar zuwinken. Insgesamt gibt es sieben Lebensstationen. Die Rollen werden in Berlin und Dortmund von unterschiedlichen Schauspielern, aber in identischen Kostümen gespielt. Spannend wird es in der Mitte, bei Freds Hochzeit. Da begegnen sie sich sogar und interagieren. Ist dieses technische Großunternehmen nun eine meisterhafte Theatererweiterung - oder eher digitaler Firlefanz? Barbara Behrendt hat die Uraufführung von "Die Parallelwelt" im Berliner Ensemble gesehen:
Alles gleichzeitig
Vier quadratische Räume, zwei nebeneinander, zwei übereinander. Unten agieren leibhaftige Schauspieler, oben fängt eine Leinwand Bilder ein. Kay Voges verhandelt die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Es ist derselbe Fred, der unten seinen ersten Schrei tut, dessen letzter Schrei in der Ansicht darüber erstirbt, im selben Moment.
Das Doppelgänger-Motiv ist im Theater zwar nicht gerade neu, nichtsdestotrotz könnte die Inszenierung ein spannendes Experiment zur Überwindung von Zeit und Raum sein: Wenn ein Atom laut Quantentheorie an mehreren Orten gleichzeitig ist – kann das nicht auch der Mensch? Und wie steht es bei dieser Dopplung um unsere stets behauptete Einzigartigkeit?
Faszinierende Technik plus esoterische Nebelkerzen
Doch die Inszenierung erfreut sich so sehr an ihrer hochprofessionellen Live-Bildregie, dass der Inhalt zum Nebenprodukt schrumpft. Während sich Freds Leben in sieben Szenenbildern auf den Tod zubewegt, wird in Wiederholungsschleifen pseudophilosophisch von der nicht messbaren Realität, der Kreisförmigkeit der Geschichte und der Wahrscheinlichkeit unserer Existenz schwadroniert. Noch verquaster fallen die "Intermezzi" zwischen den Szenen aus, in denen esoterische Nebelkerzen über Karma, Labyrinthe, die Unendlichkeit und den Riss in unseren Seelen gezündet werden:
Er: "Vielleicht ist alles Sichtbare nur Schein." Sie: "Vielleicht ist alle tiefere Wahrheit komplett unsichtbar." Er: "Vielleicht ist das Ideale gar nicht sichtbar. Aber vielleicht denkbar!" Sie: "Das Ideale, die Vollendung, das residiert vielleicht in den hochliegenden Regionen!" Er: "Ja, Denken heißt vom Himmel herab auf die Erde zurück denken."
Wenn Fred heiratet, verschränken sich die Ebenen und die Spieler in Dortmund und Berlin treffen, zumindest per Video, spielfreudig aufeinander. Die längste Zeit der bedeutungsschwangeren, vorhersehbaren zwei Stunden weiß Voges die reale Anwesenheit echter Schauspieler aber nicht zu nutzen.
Wo bleibt der Mensch?
Er verschenkt somit auch die vielleicht interessanteste Frage dieser Inszenierung im Zeitalter der Digitalisierung: Was hat der stoffliche Körper in all seiner Sinnlichkeit, in seiner direkten Ansprache an den Zuschauer dem zweidimensionalen Videobild voraus – und wo siegt das inszenierte Bild über das reale Fleisch und Blut? Große Schauspieler wie Peter Moltzen, Stephanie Eidt, Josefin Platt agieren in ihrem abgesteckten Quadrat fast ausschließlich mit Blick in die Linse, verdeckt vom Kameramann. Hochwertig produzierte Videos, technische Raffinesse und perfekt ausstaffierte philosophische Thesenträger sind an diesem Abend zu sehen – aber keine Menschen.