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Berührende Hommage an den verstorbenen Bruder

Aufbauend auf einem seiner Soloprogramme fürs Burgtheater hat Schauspieler Joachim Meyerhoff einen Familienroman mit autobiografischen Zügen vorgelegt. "Alle Toten fliegen hoch" erzählt von Tod und Verlust, den Unsicherheiten der Pubertät und lässt Ronald Reagans Amerika wiederauferstehen.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Wenn man jemanden der - mittlerweile auch nicht mehr so oft zitierten – "Generation Golf" zurechnen darf, dann ihn. Joachim Meyerhoff, Jahrgang 1967, war ein behütetes Kind. Als Arztspross aus der schleswig-holsteinischen Provinz hat der Schauspieler eine bildungsbürgerliche Musterkindheit westdeutschen Zuschnitts verlebt. Ungewöhnlich an Meyerhoffs Sozialisation war eigentlich nur eins: Sein Vater arbeitete als Chefarzt an der psychiatrischen Klinik der norddeutschen Kleinstadt Schleswig. Die Wohnung der Meyerhoffs befand sich mitten auf dem Klinikgelände. Klein-Joachim wuchs zwischen Paranoikern und Schizophrenen und tobenden Borderlinern auf, im Herzen des Wahnsinns, wenn man so will.
    Dennoch, meint Meyerhoff, er habe eine harmonische und behütete Kindheit gehabt.

    "Ja, würde ich schon sagen. Es war behütet, aber natürlich schon vom ersten Moment an immer behütet innerhalb dieses Krankenhauses. Das war natürlich ein eigenartiger Ort. Aber innerhalb dieser Strukturen war das sehr klassisch, so ein bisschen antiautoritär, mein Vater als Kinder- und Jugendpsychiater hat schon auch ein bisschen für diese Zeit gestanden. Er hatte ein fortschrittlicheres Verhältnis zum Arztsein, er hat nie einen Arztkittel angehabt. Aber ich habe das Behütete immer auch als etwas Brüchiges, als etwas Wackeliges empfunden."

    Das hing natürlich auch mit der psychiatrischen Klinik zusammen, in der Meyerhoff seine Kindheit und Jugend verlebt hat. So brüchig-faszinierend seine westdeutsche Sozialisation auch gewesen sein mag, mit 18 hatte Joachim Meyerhoff nur einen Wunsch: Er wollte weg. Der Gymnasiast, seit jeher durch grottenschlechte Schulleistungen auffällig, meldet sich als Austausch-Schüler für die USA an - und wird genommen. Allerdings landet er nicht in einer jener coolen Städte, die er aus dem Fernsehen und aus Popsongs kennt, sondern im dünn besiedelten Cowboy-Staat Wyoming, konkret, im 25.000-Einwohner-Städtchen Laramie.

    "Ich wollte eigentlich nach Los Angeles oder New York, also in die große weite Welt, und landete aber in der Western-Provinz schlechthin, über die man sich im Rest Amerikas lustig gemacht hat. Also, dieses Laramie ist so ein bisschen das Ostfriesland des amerikanischen Raums."

    Von seinen Erfahrungen in Laramie/Wyoming berichtet Joachim Meyerhoff in seinem Erstlingsroman. Der Gast aus Schleswig-Holstein wohnt für ein Jahr bei Stan und Hazel Atkinson, einem netten, Reagan-wählenden Angestelltenehepaar mit drei Söhnen. Meyerhoff besucht die örtliche High-School und taucht tief ein in die bizarre Welt des amerikanischen Mittelschicht-Daseins. Er amüsiert sich auf Kettensägen-Shows und alkoholgeschwängerten Whirlpoolpartys, er macht einen Trip in den Todestrakt des Staatsgefängnisses von Wyoming und lernt dort einen Todeskandidaten aus Deutschland kennen, er verliebt sich in ein Mädchen namens Maureen, spielt wie ein Besessener Basketball und gewöhnt sich immer mehr an seine "Splendid Isolation" am Rande der Prärie.

    "In den letzten Nächten hatte ich nachts Wölfe heulen gehört. Das mochte ich an Laramie. Dieses Wolfsgeheul. Es erinnerte mich an das Heulen der Patienten in der Psychiatrie, in deren unmittelbarer Nähe ich aufgewachsen war. Mir gefiel die Leere und Weite besser und besser. 500.000 Menschen lebten in Wyoming auf einer Fläche, die so groß ist wie Deutschland. Nur in Alaska leben noch weniger. Meine Highschool hatte einen eigenen Flugplatz, da einige Schüler jeden Morgen mit dem Flugzeug angeflogen kamen. Die Ausreden fürs Zuspätkommen waren nicht so läppisch wie bei mir zu Hause. 'Mein Wecker hat nicht geklingelt', oder 'Ich habe den Bus verpasst.' Hier hieß es: 'Excuse me please, but I got caught in a blizzard with my plane'."

    Joachim Meyerhoff zeichnet sich in seinem Buch als jugendlichen Simpel mit naivem Erfahrungshunger, als bundesdeutschen Provinz-Parzival, der aus seinen Erlebnissen in einem der hinterwäldlerischsten Präriestaaten der USA komische Funken schlägt. Der Schulunterricht macht dem Gast aus Deutschland Spaß. Kein Wunder, darf er sich seinen Stundenplan doch selbst zusammenstellen. Und so belegt Meyerhoff Kurse in "Bergsteigen", "Tischlern", "Bühnenspiel", "Landwirtschaft" und natürlich in seinem absoluten Lieblingsfach: "German".

    "Zweite Stunde: Deutsch. German bei Donna Candalaria. Das erste Mal in meinem Leben Klassenbester. Das Deutsch der Deutschlehrerin war erbärmlich. Wir lernten Gedichte bei ihr. Sie liebte deutsche Gedichte. 'Was reitet so spat durch Nacht und Wind.' Oder sie rief: 'Und jetzt alle! Walle, walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe', und die Klasse, die Hälfte davon Kaugummi kauend, leierte: 'Waali, waali mancha Strakka, daas zum Zwakka Wasser fliiese.' In den Tests schnitt ich immer mit 'sehr gut' ab. Ich war immer schlecht in der Schule gewesen. Das fragwürdige Zustandekommen meiner Bestnoten hier war mir schnuppe."

    Da prallen zwei Welten aufeinander, nicht nur sprachlich. Das politische Weltbild seiner Gasteltern in seiner ganzen konservativen Simplizität wirkt – wie das der meisten Menschen in Laramie – schockierend auf Meyerhoff. Die Todesstrafe wird ebenso einschränkungslos befürwortet wie privater Waffenbesitz und die Aufrüstungspolitik des "Star-Wars"-Präsidenten Ronald Reagan.

    "Das waren wirklich fast Reaktionäre. Es war gar nicht so einfach, die Herzlichkeit der Leute in Einklang zu bringen mit deren politischer Gesinnung. Man wird unglaublich freundlich aufgenommen, aber sobald man über bestimmte Themen spricht, wird es auf einmal erschreckend, geradezu erschütternd. Und in diesem Zwiespalt habe ich mich immer bewegt. Sobald ich mit meinen Gasteltern über bestimmte Dinge sprach, hätte man eigentlich sofort seine Koffer packen müssen, aber in allen anderen Dingen war es von unglaublicher Nähe und eigentlich viel offener, als ich es zu Hause erlebt habe."

    Joachim Meyerhoff hat ein kurzweiliges und amüsantes, ein streckenweise wirklich witziges Buch über seine Erfahrungen in den USA vorgelegt. Dass der Mann pointiert und pointensicher zu schreiben versteht, stellt er öfter als einmal unter Beweis, etwa wenn uns an seiner olfaktorischen Begegnung mit einem Stinktier teilhaben lässt, oder wenn er das Porträt seines Basketball-Trainer an der High-School zeichnet, eines knarzigen Vietnam-Veteranen namens "Coach Carter", der militaristische Jovialität mit einer bedenklichen Liebe zu deutschen Schäferhunden verbindet. Überhaupt, der Basketballsport: Er wird zu Joachim Meyerhoffs Erweckungserlebnis in der Neuen Welt.

    "Ja, Basketball zu spielen in Schleswig, wo ich herkam, da war das eine Randsportart. Aber aufgrund meiner Größe hatte ich immer schon eine gewisse Basketball-Sehnsucht. Und da passierte dann eigentlich das Tolle, dass ich auf einmal die Chance bekam, es in das Basketball-Team zu schaffen. Dann gab es harte Auswahl-Wettkämpfe, und als ich tatsächlich in das Team gewählt wurde, war ich sehr, sehr euphorisch. Denn wenn man es in das Team geschafft hat, in die erste Mannschaft, dann war man plötzlich jemand an der Schule. Zu den Spielen der Mannschaft kamen jedes Mal 500 Leute, die Matches wurden live im Lokalfernsehen übertragen, das muss man sich mal vorstellen. Wobei man eines deutlich sagen muss: Innerhalb der Mannschaft war ich ein Geduldeter. Vielleicht hatte ich es einfach nur in die Mannschaft geschafft, weil Carter, der Coach, so eine große Liebe zu Deutschland hatte."

    Joachim Meyerhoff hätte ein anekdotensattes, aber letztlich harmloses Buch geschrieben, wenn er auf Seite 183 nicht das Verhängnis in das Leben seines Protagonisten einbrechen ließe. Ein Anruf des Vaters unterrichtet den Austauschschüler aus Deutschland, dass einer seiner Brüder, der mittlere, bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Mit quälender Intensität beschreibt Joachim Meyerhoff das Entsetzen, die innere Leere, das Gefühl bohrender Unwirklichkeit, die ihn nach dem Eintreffen der Schreckensnachricht heimgesucht haben. Der 18-Jährige fliegt zurück nach Deutschland, nimmt am Begräbnis des Bruders teil und kehrt nach Laramie zurück. Sein toter Bruder, erzählt Joachim Meyerhoff, sei bis heute gegenwärtig in seinem Fühlen und Denken.

    "Ich habe mich eigentlich sehr früh entschieden, diesen Tod nicht zu akzeptieren, in dem Sinne, dass einem gesagt wird: Es gibt eine Zeit der Trauerarbeit, und dann muss man sich damit abfinden. Ich habe mich dann entschlossen, diese Trauer nicht anzunehmen, sondern zu sagen: Ich will diesen Bruder immer bei mir haben."

    In seinem Buch löst Joachim Meyerhoff dieses Versprechen ein. Es ist, neben einer bisweilen zum Brüllen komischen Reminiszenz an sein Jahr in den Vereinigten Staaten, auch eine berührende Hommage an den toten Bruder. Ein starkes Debüt.

    Joachim Meyerhoff: "Alle Toten fliegen hoch – Teil 1: Amerika", Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 320 Seiten, EUR 18,95 (Deutschland), EUR 19,50 (Österreich).