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Bewährungsprobe für die spanische Demokratie

Vor 30 Jahren stürmten Putschisten das spanische Parlament und versuchten, die Demokratie zu stürzen, die sich nach Francos Tod langsam etablierte. Javier Cercas befasst sich in seinem gründlich recherchierten Werk mit einen Moment, der entscheidend für Spaniens Zukunft war.

Von Kersten Knipp | 06.06.2011
    Bilder gibt es, die verdichten sich zu Schlüsselszenen einer ganzen Epoche. Ein solches Bild sah die Welt, sahen insbesondere die Spanier kurz nach dem Putsch vom 23. Februar 1981 in ihrem Land. Ranghohe spanische Militärs haben sich gegen die junge Demokratie verschworen. Gegen Abend sind die Volksvertreter gerade im Begriff, einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Adolfo Suarez, der bisherige Amtsinhaber, ist vor drei Wochen zurückgetreten, er führt das Amt nur noch kommissarisch. Doch dann stürmt eine Truppe von rund 170 Soldaten und Offizieren das Parlament und schießen um sich. Der spanische Schriftsteller Javier Cercas hat nun eine 500 Seiten starke Studie über diesen bewegenden Tag vorgelegt. Eine Spurensuche - wie der Autor:

    "Immer wieder sah ich das Bild der Putschisten, die in das Parlament eindringen und losschießen. Und dann bleiben drei Leute auf ihren Stühlen sitzen. Und das, obwohl sie sich eigentlich auf den Boden schmeißen sollten. Ich habe mich gefragt, warum sie das taten, vor allem im Fall von Adolfo Suarez. Was bedeutete es, dass er auf seiner Bank sitzen blieb? Mein ganzes Buch kreist um diese Frage. Am Ende habe ich keine eindeutige Antwort. Aber ich versuche die persönliche Wahrheit dieser drei Figuren zu finden, eine Wahrheit, die eng mit dem Triumph der spanischen Demokratie zusammenhängt."

    Dass die Demokratie sich durchsetzte, war alles andere als selbstverständlich. Franco mochte tot sein, doch die Diktatur saß weiterhin fest in den Köpfen – vor allem in denen der Bürger, die geglaubt hatten, dass sich mit der Demokratie alle Widrigkeiten wie von Zauberhand selbst aufheben werden. Und vor allem in den Köpfen der Militärs, die die neue Staatsform nicht hinnehmen mochten.

    "Nach Francos Tod warteten die Militärs auf eine Gelegenheit zum Staatsstreich. Denn das spanische Heer war immer noch franquistisch. 1981 scheint die Zeit reif. Spanien findet sich in einer kollektiven Depression. Das Land durchläuft eine schwere ökonomische Krise. ETA schreckt das Land mit einem mörderischen Terrorismus. Durch die Einrichtung der "autonomen Regionen" – dem Baskenland, Katalonien, Galizien – haben die Menschen das Gefühl, Spanien würde sich auflösen. Dies alles führt zu einer großen Enttäuschung über die Demokratie."

    Der 1932 geborene Adolfo Suarez hatte allen Grund, an diesem Abend um sein Leben zu fürchten. Denn er war es, der das alte Regime an sein Ende geführt hatte. Entsprechend viele Feinde hatte er sich unter seinen ehemaligen franquistischen Mitstreitern gemacht. Es ist paradox, meint Javier Cercas: Das Ende des Franquismus führte ausgerechnet ein Mann herbei, der zeit seines Lebens in diesem System gelebt hatte, der dessen Geist atmete, sich eine andere politische Ordnung kaum vorstellen konnte. Wenn er sich doch für sie entschied, dann auch darum, weil sich mit ihr auch sein persönliches Schicksal verknüpfte. Denn die alte Ordnung, so viel habe Suarez begriffen – davon ist Cercas überzeugt - war unweigerlich an ihr Ende gekommen.

    "Suarez ist ein Politiker des Franquismus. Er ist eine faszinierende Persönlichkeit, eine Figur wie aus einem Shakespeare-Stück. Er ist sehr ehrgeizig, er ist ein Emporkömmling. Und darum ist er fähig, etwas zu tun, was vollkommen unmöglich erscheint, nämlich den Franquismus zu zerlegen, ihn zu überwinden. Er kannte das Regime sehr gut, und gerade darum war er fähig, es zu überwinden. In der Demokratie hingegen wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Er kannte und verstand dieses System nicht. Darum wurde er in der Demokratie zu einem recht ungeschickten Politiker. Er ist darum eine ausgesprochen tragische Person, ein Held des Verrats."

    So läuft Adolfo Suarez am Abend des 23. Februar zu von niemandem vermuteter Größe auf. Der ehemalige Ministerpräsident trotzt den Putschisten: Er bleibt sitzen, er weicht ihnen nicht. War das politischer Opportunismus? Zu Teilen ganz sicher, meint Cercas. Aber zugleich war es sehr viel mehr. Es war der Akt eines Menschen, der sich so sehr mit einer neuen politischen Idee verknüpft hatte, dass er von einem bestimmten Punkt an nicht mehr zurückkonnte. Cercas ist überzeugt: Genau das verleiht Suarez die politische Größe – wenn auch eine Größe ausgesprochen fragwürdiger Art, meint der Autor.

    "Ich glaube, es gibt eine Ethik der Loyalität, aber keine Ethik des Verrats. Es gibt Momente, in denen ist es schwieriger, ehrenhafter, und mutiger, eine Sache zu verraten, als weiterhin zu ihr zu stehen. Auch Suarez war ein Verräter. Die Franquisten hatten ihn auf seine Rolle vorbereitet. Er war jung, intelligent, er sah gut aus. So sollte er so etwas wie der Kennedy des Franquismus ohne Franco werden. Doch innerhalb eines Jahres verwirklichte dieser Mann die Demokratie. Er verriet und täuschte alle. Im Jahre 1980 galt er als Dämon. Ich selbst glaube, er war weder ein Heiliger noch ein Dämon. Ich sehe ihn lieber als das, was er war: einfach ein Mensch."

    Mit "Anatomie eines Augenblicks" hat Javier Cercas ein faszinierendes Buch vorgelegt. Bestens recherchiert, führt es jene Kräfte, Motive und Traditionen zusammen, die zum Putsch des 23. Februars 1981 führten. Er zeigt die Tiefendimension der Geschichte auf: Die Protagonisten im Parlament kannten sich seit Jahrzehnten, gehörten Parteien an, die sich seit dem Bürgerkrieg 1936 und der nachfolgenden Diktatur in tödlichem Hass gegenüber standen. Und dennoch waren die Menschen fähig, die Demokratie einzuleiten. Diese Leistung kam einem kleinen politischen Wunder gleich. Und Cercas zeigt, dass dieses Wunder Menschenwerk war.


    Javier Cercas: "Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde" S. Fischer Verlag,
    569 Seiten, 24,95 Euro
    ISBN: 978-3-100-11369-6