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Bierdel: EU muss mehr Verantwortung übernehmen

"Mit der alten Politik der Abschottung und der Heuchelei wird es so nicht weitergehen." Europa sei langfristig auf Zuwanderung angewiesen, so Elias Bierdel, Gründer der Organisation "borderline europe". Dafür bedürfe es einer gemeinsamen Einwanderungspolitik.

Elias Bierdel im Gespräch mit Jasper Barenberg | 15.02.2011
    Jasper Barenberg: Schon am Sonntag hat die italienische Regierung für Lampedusa den humanitären Notstand erklärt. Viele Flüchtlinge mussten trotz Kälte auf der Mole des alten Hafens ausharren. Wer etwas mehr Glück hatte, fand Platz in improvisierten Notunterkünften. Inzwischen wurde ein altes Auffanglager wieder geöffnet. Über 2.000 Menschen drängen sich jetzt dort, wo offiziell 800 Platz finden.
    Mit Flüchtlingsdramen dieser Art beschäftigt sich Elias Bierdel bereits seit Jahren. Seine Organisation "borderline europe" dokumentiert unter anderem, was sich an den Außengrenzen Europas bei diesem Thema abspielt. Jetzt ist er am Telefon. Schönen guten Morgen!

    Elias Bierdel: Guten Morgen nach Köln.

    Barenberg: Herr Bierdel, die Überfahrt war lebensgefährlich, wir haben es gerade noch einmal gehört. Wie müssen wir uns die Situation der Flüchtlinge vorstellen, die Lampedusa erreicht haben?

    Bierdel: Also das ist mit allem Respekt eine relativ komfortable Geschichte gewesen, vergleichen wir es mit den schrecklichen Bedingungen von Überfahrten über die letzten Jahre, wo Leute ja in ungleich primitiveren Fahrzeugen unterwegs waren, in großer Zahl gestorben sind. Hier war es jetzt eine Welle von Leuten, die mit relativ stabilen Booten losgefahren sind, und deshalb Gott lob, soweit wir bisher wissen, ist ja auch die Rate von denen, die gestorben sind, relativ klein. Verstehen Sie, ein heroischer Freiheitskampf, der endet, ein Regime, was zusammenbricht, wir wissen nicht genau, wie es weitergeht, und da ist es doch völlig normal, dass Menschen sozusagen auch in dieser Weise ihre Freiheit leben wollen, indem sie jetzt eben eine Überfahrt machen nach Europa, von dem sie sich erhoffen, dass sie dort, gerade weil sie eben ein tyrannisches Regime abgeschüttelt haben, willkommen wären. Und nun wird sich zeigen, wie weit es damit her ist.

    Barenberg: Schaffen es die Behörden in Italien, für eine ordentliche Unterbringung zu sorgen?

    Bierdel: Das ist eben immer so ein Spiel. Da ist ganz viel Politik dabei, auch Propaganda natürlich. Warum hat man nicht unmittelbar das große Lager in Lampedusa, was da stand, was fertig ist, wo das Personal bereit steht, geöffnet, um diese Menschen aufzunehmen? Warum hat man die Tore zunächst verschlossen gelassen? - Eben damit man jene Notstände selbst erzeugen kann, über die man sich dann anschließend aufregt. Wenn ich dieses Wort höre, humanitäre Notlage auf Lampedusa, da stellen sich mir natürlich die Nackenhaare auf, denn wenn wir überlegen, wo sind denn wohl die Menschen in Not, eher im Süden des Mittelmeers, oder eher im Norden, dann ist es doch vollkommen klar. Sind wir in der Lage, umzugehen mit diesen Menschen, die da zu uns kommen, die Schutz und Hilfe suchen, oder auch "nur" eine bessere Lebensperspektive, neue Chancen für ihre jungen Menschen, sind wir dazu in der Lage ja oder nein? Das wird sich jetzt zeigen müssen. Wir haben eine Zeitenwende im arabischen Raum, und die bleibt nicht ohne Folgen auch für uns. Europa muss jetzt, und zwar schnell, neue überzeugende Antworten finden. Mit der alten Politik der Abschottung und der Heuchelei wird es so nicht weitergehen.

    Barenberg: Nun wird in der Europäischen Union ja derzeit vor allem überlegt, wie man den italienischen Sicherheitskräften zur Hilfe eilen kann, und zwar mithilfe seiner schnellen Eingreiftruppe beispielsweise, der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Das fordern heute Morgen auch Politiker der Union. Ist das jetzt das größte Problem?

    Bierdel: Das ist ja genau das übliche Verfahren, wie wir das über die letzten Jahre erlebt haben, bei den Kanarischen Inseln, vor Gibraltar, dann Lampedusa, dann die griechisch-türkische Grenze. Überall dort, wo Europa versucht, sich gegen diesen Migrationsdruck, den sogenannten, zu stemmen, überall dort, wo diese Bewegung von Menschen zu einem Sicherheitsproblem deklariert werden – das müsste man ja hinterfragen -, aber da, wo das passiert, gibt es nur einen Weg, nämlich die Eskalation in immer höhere Zäune, immer brutalere Grenzanlagen und letzten Endes eben auch in die blanke Gewalt. Wir haben es ja erlebt in Griechenland und wir erleben es auch im Mittelmeer im Bereich von Lampedusa schon seit einigen Jahren. Dort ist die italienische Regierung zu einem Verfahren übergegangen, das ja in keiner Weise übereinstimmt mit den Rechtsgrundsätzen, die in Europa gelten sollten, wo eben Bootsflüchtlinge abgedrängt werden, wo sie aus ihren Booten gerissen werden, libyschen Kräften übergeben werden, und diese Partnerschaft, wo sozusagen Muammar Gaddafi tatsächlich zum Menschenrechtsbeauftragten der Europäischen Union geworden ist und eben das Flüchtlingsproblem, wie sie das hier definieren wollen, übernimmt für uns, an diesen Stellen liefern wir unmittelbar Menschen, die Schutz und Hilfe suchen bei uns, aus an irgendwelche Folterregime. Das kann so nicht weitergehen, vor allen Dingen, wenn wir uns anschauen, wo die Ursachen liegen für diese Bewegungen. Das wäre eine Aufgabe auch für die europäische Politik, sich damit zu beschäftigen, denn Europa ist unmittelbar und schuldhaft verstrickt in diese Verhältnisse, unter denen Menschen leiden. Wir plündern unseren Nachbarkontinent Afrika aus, das ist überhaupt keine Frage, und wir kippen unsere Überschussproduktion dort auf die Märkte, wir zerstören damit die Binnenmärkte, wir wissen all dies. Am Ende kommt der Klimawandel, auch für den sind die Afrikaner nicht verantwortlich zu machen. Der Klimawandel, der dafür sorgen wird, dass immer mehr Menschen dort ihre Heimat verlassen müssen. All dies stellt die Verantwortungsfrage – nur ganz kurz! – an uns Europäer neu und wir werden uns dieser Frage stellen müssen.

    Barenberg: Und wir werden uns auch überlegen müssen, wie wir uns schützen können vor einem völlig ungeregelten Ansturm?

    Bierdel: Das ist eben die Frage. Wir benutzen eine Diktion, die eben vor allen Dingen den Sicherheitsaspekt sieht. Bleiben wir doch jetzt mal bei dem Beispiel Lampedusa. Wo besteht im Augenblick eine Sicherheitsgefahr für die Bevölkerung in Lampedusa, für die Italiener, für uns Europäer? Die gibt es nicht und wir müssen versuchen, abzurüsten auch in diesem Denken, wo jeder Mensch, der zu uns kommt, automatisch eine Bedrohung darstellt. Wir wissen, dass wir in Europa massiv Zuwanderung brauchen werden, auch das ist eine völlig ungelöste Frage. Die Propaganda geht in eine völlig andere Richtung und wir werden eben jetzt auch darüber neu nachdenken. Es ist ja ganz lustig, dass in Ihrer Sendung jetzt anschließend ein Beitrag folgt, wie ich hören konnte, darüber, dass Ausländer in die Bundeswehr zugelassen werden. Ja wo kommen die Ausländer her? – Aus dem Ausland. Und da müssen wir eben auch hier uns neu justieren. Europa hat keine gemeinschaftliche Einwanderungspolitik, sondern verständigt sich nur auf die Abwehr von Menschen, und das ist unzulänglich.

    Barenberg: Vielen Dank, Elias Bierdel, Gründer der Organisation "borderline europe", außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter am österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung.