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Bin ich ein überflüssiger Mensch?

Die Büroangestellte Aloisia Schmidt ist sich selbst und anderen ein apartes Rätsel. "Fräulein Aloisia Schmidt, geboren am 3. November 1899, [stand] vom l. bis 21. VIII. d.J. bei der unterzeichneten Firma als Kontoristin aushilfsweise in Verwendung": Derart knapp und unpersönlich lautet das erste Zeugnis der Siebzehnjährigen. Zu dieser Zeit tobt der Erste Weltkrieg. Die Gemüter in Österreich-Ungarn sind erhitzt. Lebensmittel werden knapp, der eigene Vater kämpft an der Front. Aloisia jedoch lässt das alles merkwürdig kalt. Denn die junge Frau ist in einem Kokon von Selbstbeobachtungen gefangen. Selbstbestätigung und Selbstbezichtigung wechseln einander ab. Ihre ständige Angst vor dem Versagen kann plötzlich in aufsässigen Gleichmut umschlagen.

Katrin Hillgruber | 14.02.2002
    Diese Widersprüchlichkeit, der ständige Wechsel von Heiß und Kalt, macht diesen Büroroman von 1931, der in Form eines gehetzten Geständnisses geschrieben ist, unerhört modern und spannend. Mit einer von Aloisias Selbstbestätigungen beginnt das Buch ziemlich unvermittelt, wenn es heißt: "Ich bin Stenotypistin. Ich habe nahezu ein Dutzend Dienstjahre hinter mir. Ich stenographiere äußerst flink und bin eine flotte Maschinenschreiberin. Ich erwähne das nicht, um damit zu prahlen. Ich erwähne es nur, weil ich feststellen will, dass ich zu etwas tauge. Denn ich bin ehrgeizig."

    Bereits diese sachliche und doch feierliche Konfession der Stenotypistin lässt erahnen, dass die Geschichte ein ungutes Ende nehmen wird. Als klassische Neurotikerin leidet Aloisia unter der krankhaften Verarbeitung seelischer Erlebnisse. Sie wünscht sich ein Gegenüber, einen männlichen Widerpart, der ihren angeblich nicht vorhandenen, doch in Wirklichkeit starken Willen bricht. Sie sucht jenen Mann, dem ihr Körper und ihr Blut Wort für Wort glauben können, wie sie bekennt. Im neusachlichen Sprachduktus karikiert Mela Hartwig die weibliche Hingabebereitschaft, wie man sie aus Trivialromanen der Jahrhundertwende kennt.

    Nach diversen Enttäuschungen, unter anderem mit einem Hochstapler, der sie nach einem Abenteuer in verschneiter Nacht verlässt, gerät Aloisia Schmidt an ihren Meister. Egon Z. heißt er geheimnisvoll verschlüsselt, ein Anwalt, der ihre Freundin Elisabeth in den Selbstmord trieb. Aloisia wirft sich vor, die launenhafte Schauspielerin nicht am Freitod gehindert zu haben. Diese vermeintliche Schuld bindet sie um so stärker an Egon Z., den wirklich Schuldigen.

    Von Büro zu Büro flottierend, Kündigungen gleichmütig hinnehmend, fleht Aloisia den Anwalt um Arbeit an. Er gibt ihrer Bitte widerwillig nach, hält aber demonstrativ Abstand zu seiner neuen Schreibkraft. Das treibt sie endgültig in die seelische Abhängigkeit und in die erotische Obsession. Durch die fortwährende Beteuerung der eigenen Nichtigkeit sichert sie sich zumindest sprachlich eine Existenzberechtigung. Dieser Ansatz ist hochmodern und übertrifft ähnlich angelegte Werke der dreißiger Jahre wie Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun.

    Bin ich ein überflüssiger Mensch? ist nach Das Weib ist ein Nichts von 1929 der zweite Roman von Mela Hartwig - und der einzige Büroroman aus der Feder einer Frau, was bemerkenswert erscheint. Mela Hartwig wurde 1893 in Wien geboren, als Tochter des Soziologen und Kulturphilosophen Theodor Herzl. Um nicht mit dem gleichnamigen Zionisten verwechselt zu werden, nahm Herzl 1895 nach seiner Konversion zum Katholizismus den Namen Hartwig an. [*] Mela Hartwig war eine Dreifachbegabung und reüssierte als Schauspielerin, Schriftstellerin und Malerin. Letzteres unter ihrem Ehenamen Mela Spira. 1927 prämiierte Alfred Döblin ihre Novelle "Das Verbrechen" bei einem Wettbewerb der Zeitschrift "Die literarische Welt" - ein fulminantes Debüt.

    Dass Mela Hartwig heute zu den großen Unbekannten gehört, hat mit den Zeitumständen zu tun. Ein psychoanalytischer Text von einer Frau, dazu noch von einer Jüdin, war unerwünscht. 1931 hatte sie den Roman "Bin ich ein überflüssiger Mensch?" an den Zsolnay-Verlag in Wien gesandt. Im März '33 sagte man ihr in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland mit folgenden Worten ab: "Sie wissen, sehr verehrte gnädige Frau, dass das Weltbild des deutschen Lesepublikums und besonders der deutschen Frau heute ein anderes ist als die Lebensanschauung, die aus Ihrem Werke spricht."

    Das Ehepaar Hartwig-Spira emigrierte nach England, wo es bald zum Freundeskreis von Virginia Woolf gehörte. Die in Vergessenheit geratene Autorin konzentrierte sich auf die Malerei. Besuche in der Steiermark verliefen derart enttäuschend, dass sie den Gedanken an eine Rückkehr nach Österreich verwarf. Sie starb 1967 in London.

    Dem Literaturverlag Droschl gebührt das Verdienst, Mela Hartwig und ihre nüchterne und doch so fesselnde Prosa wiederentdeckt zu haben. Selten ist ein weibliches Erzähler-Ich schonungsloser mit sich selbst ins Gericht gegangen, wobei die Analyse haarscharf das Wahnhafte streift. Das profunde Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Bettina Fraisl tut ein übriges, um Mela Hartwig und ihr Werk endlich ins Licht zu rücken.

    [*] Anm. d. Red.: Uns lag eine falsche Quelle vor, die Mela Hartwig als Tochter des Zionisten Theodor Herzl auswies. Wir haben das im Beitrag korrigiert.