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Bis die Augen zufallen

Der Zweite Bildungsweg ist für erwachsene Schüler auch eine zweite Belastung. Denn die Zeit für Hausaufgaben müssen sie sich vom Job oder der Familie mühsam erkämpfen. Doch dafür lernen viele Abendschüler auch bewusster, denn jetzt haben sie, was ihnen in der Kindheit oder Jugend noch fehlte: konkrete Ziele, für die es sich zu lernen lohnt.

Von Jens P. Rosbach |
    " So, wir beschäftigen uns ja gerade mit Kurzgeschichten und ich habe Ihnen jetzt eine Kurzgeschichte mitgebracht von Wolfgang Borchardt, "Das Brot", und ich möchte Frau Azari bitten, die vorzulesen. "

    Azari: " Wolfgang Borchardt - "Das Brot". Plötzlich wachte sie auf ... "

    21 Uhr, Deutschstunde im Berliner Peter-Silbermann-Abendgymnasium. An den Tischen sechs Hörer, ausgerüstet mit Federtaschen, Wasserflaschen und Power-Energy-Tabletten. Sie sollen Dialogstrukturen in einem Nachkriegstext analysieren. Mike Khoury-Chaumar kommt jeden Abend in die Schule, um sein Abitur nachzumachen. Als Teenager habe er das versäumt, erklärt der 27-Jährige, damals habe er nur Spaß im Sinn gehabt.

    " Mit 18 geht man eher auf Partys und Mädels, Autos und so weiter. Und da kümmert man sich halt nicht um die Schule. Das kennen bestimmt sehr viele junge Menschen, die einfach nach Hause kommen, Rucksack in die Ecke schmeißen und rausgehen. Und das wird den meisten erst später bewusst, dass man da halt was verpasst hat. "

    Khoury-Chaumar absolvierte eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, merkte aber bald, dass er lieber als studierter Ingenieur arbeiten würde.

    " Ich will nicht nur einfach ein Auto reparieren, ich möchte eigene Motoren entwickeln. Ich möchte für die Zukunft etwas entwickeln, vielleicht einen eigenen Wagen - und das ist halt so ein Traum von mir. "

    Für seinen Traum musste der Abendschüler erstmal einen Job mit möglichst vielen Frühschichten finden. Er fand ihn bei McDonald's. Sein Tagesablauf seitdem: Von sieben Uhr morgens bis nachmittags halb vier Geld verdienen, von 17 bis 22 Uhr Schulbank drücken und bis Mitternacht am Schreibtisch lernen. Hausaufgaben, die er nachts nicht schafft, muss er dann morgens in der Fast-Food-Küche zu Ende bringen.

    " Letztens Englisch-Aufgabe, Englisch-Grammatik. Da habe ich eine halbe Stunde Pause gehabt und habe dann den Zettel raus geholt und habe dann schnell die Hausaufgaben gemacht. Also wirklich: Man sucht sich jede Minute, die man frei hat, um da Hausaufgaben zu machen. Man muss schon wirklich zielstrebig sein. "

    Auch Martina Cordes kommt Abend für Abend in die Berliner Silbermann-Schule. Die 26-Jährige stammt aus einer syrisch-christlichen Familie. Früher hatte sie viel Ärger zu Hause und keine Lust auf Schule. Ohne Abschluss jobbte die Jugendliche als Altenpflegerin, heiratete überstürzt - und wurde von heute auf morgen arbeitslos.

    " Und als ich dann halt schwanger geworden bin, habe ich dann gesagt: Nee, so kannst du nicht bleiben, kannst nicht als so ein asoziales Stück da rum ... Hartz-IV-Empfängerin und keine Ahnung, habe ich keine Lust gehabt. Und da habe ich gesagt: So, du musst was machen. "

    Cordes trennte sich von ihrem Mann - und schaffte es trotz zweier Kinder, an der Abendschule ihren Realschulabschluss nachzumachen. Jetzt holt sie auch noch das Abitur nach. Die ehrgeizige junge Frau will Jura studieren, um Anwältin für Ausländer zu werden. Die Belastung sei enorm, erzählt die Alleinerziehende. Sie sei ständig auf dem Sprung und müsse manchmal sogar den Abendunterricht plötzlich abbrechen.

    " Wenn die Kinder krank sind, wenn was ist, da muss ich ja immer parat sein. Also ich kann zum Beispiel mein Handy nie ausmachen, wenn was klingelt, dann denke ich schon: Oh scheiße, was ist jetzt los? Weil sonst ruft mich ja keiner an, außer meine Babysitterinnen. Dann muss ich schnell raus rennen und sagen: Okay, gut, ich muss los. "

    Lehrerin: " Ich habe jetzt eine Textstelle, die ich Ihnen gerne hier vorstellen möchte. Das ist Zeile 46/47: Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. Was muss er daraus schließen? Das ist die Frage an Sie! "

    Sechs Hörer - sechs Finger, die in die Höhe schnellen. Alle wollen mit diskutieren - trotz der späten Stunde. Deutschlehrerin Sabine Triebel berichtet, dass ihre Schüler - trotz aller Motivation - mitunter aber auch mal schlapp machen.

    " Ja, manchmal passiert eben so etwas, dass dem einen oder anderen dann tatsächlich die Augen auch zufallen vor Müdigkeit, aber wenn man ihn dann anspricht, er doch gleichwohl immer einen sehr wissbegierigen Eindruck macht. Sie haben einen großen Wunsch, es wirklich zu verstehen und fragen sehr viel nach auch. Das ist ganz, ganz toll zu beobachten. "