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Blutige Befreiung

Am 6. Juni 1944 begann eine der entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs: die Landung der Alliierten in der Normandie. Als "D-Day" ist dieses Ereignis in die Geschichtsbücher eingegangen. Einer der renommierten europäischen Historiker hat die Schlacht um die Normandie nun noch einmal rekonstruiert: der Brite Antony Beevor.

Von Niels Beintker |
    Zuerst kamen die Gerüchte. Der Morgen war anders als sonst in der nordfranzösischen Stadt Caen, im Hinterland der Küste der Normandie. Die deutschen Besatzer, Angehörige der 716. Infanteriedivision, erhielten Nachrichten von der Landung alliierter Fallschirmjäger in der Gegend. Meldefahrer wurden zur Küste geschickt, Soldaten in Alarmbereitschaft versetzt. In kürzester Zeit bemerkten Bürger der Stadt die Unruhe. Schon um sechs Uhr morgens standen Frauen an den Bäckereien an, um Baguette zu hamstern. Jungen setzten sich auf die Fahrräder, fuhren zum Meer. Einer kehrte zurück mit den Worten: Sie landen. Das ganze Meer sei schwarz von Schiffen. Eine der größten Schlachten des Zweiten Weltkriegs hatte begonnen. Zugleich eine der blutigsten, zeigt der britische Historiker Antony Beevor in seinem umfangreichen Buch über die Landung der Alliierten in der Normandie. Die Zahl der getöteten deutschen Soldaten pro Division und Monat sei mehr als zweimal so hoch gewesen wie an der Ostfront.

    "Die Schlacht von Stalingrad war sehr viel härter und zudem auf ein überschaubares Territorium beschränkt. In der Normandie aber starben im Durchschnitt, allein auf deutscher Seite, 2300 Mann pro Division und Monat. Das waren, verglichen mit der Front im Osten, mehr als doppelt so viele Gefallene. Allein das zeigt, dass die Schlacht in der Normandie sehr viel heftiger gewesen ist, als wir bislang angenommen haben."
    Insgesamt verloren in den knapp drei Monaten zwischen der Landung in der Normandie und der Befreiung von Paris am 25. August 1944 mehr als 500.000 Menschen ihr Leben. Antony Beevor schildert das Geschehen auf den diversen Schlachtfeldern in der Normandie mit großer atmosphärischer Dichte und einer beklemmenden Detailversessenheit. Nichts bleibt dem Leser erspart: die Seekrankheit der Soldaten auf den Landungsschiffen von Amerikanern und Briten nicht. Auch nicht die Schreie der Sterbenden, die auf dem Weg an Land erschossen wurden. Oder die Notamputation eines verletzten Soldaten bei völligem Bewusstsein, ohne jegliche Betäubung. Ein realistisches Bild des Krieges, auch mit Blick auf das Verhalten vieler alliierter Soldaten.

    "Es war eine sehr blutige Schlacht. Am Anfang landeten amerikanische Fallschirmjäger auf der Halbinsel Cotentin, mitten im Feindgebiet und bereit zu töten – so wie man ihnen das bei der Ausbildung beigebracht hatte. Gefangene sollten ermordet werden. Eine schreckliche Einstellung. Möglich war das auch, weil die Kommandeure der Fallschirmjäger immerfort betonten, man habe keine Zeit, sich um die Gefangenen zu kümmern. Es hieß: Sorge zuerst für dich. Und das hieß: Erschieß die Gefangenen."
    In den ersten drei Tagen der Landungsoffensive wurden nach Augenzeugenberichten mehr als 180 kanadische Soldaten von Mitgliedern der berüchtigten SS-Panzerdivision "Hitlerjugend" hingerichtet. Ihre alliierten Gegner reagierten mit vergleichbarer Gewalt, wie Antony Beevor zeigt. Am 8. Juni etwa wurde eine kleine Gruppe der Division von Briten überrascht. Der Oberst der Deutschen, ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, wurde auf ein Fahrzeug der Alliierten gebunden und starb bei einem Gefecht, der Rest der Gefangenen wurde kurzerhand erschossen.

    "Es gibt zahlreiche Fälle von Soldaten, die gefangene SS-Angehörige sofort erschossen haben. Entweder aus Rache oder weil sie Angst hatten, die Gefangenen könnten noch eine Granate zünden. Bislang haben sich die Historiker eher zögerlich mit der Frage der Ermordung von Kriegsgefangenen beschäftigt. Gerade in amerikanischen Darstellungen der Schlacht um die Normandie ist das eine auffällige Leerstelle. Der Verlust einer großen Generation hat die amerikanische Geschichtswissenschaft wohl sehr beeinflusst."
    Anders gesagt: vor allem der Tod so vieler junger Amerikaner, aber auch vieler Kanadier und Briten in der Normandie fand bislang großen Raum bei der Erforschung und Schilderung des D-Day. Nicht aber die auch von ihnen begangenen Kriegsverbrechen. Insofern bietet Antony Beevors Buch ein sehr viel umfassenderes Bild der Schlacht um die Normandie als alle anderen Darstellungen zuvor. Gestützt auf einen riesigen Fundus von Archivmaterialien, Tagebüchern und anderen zeitgenössischen Dokumenten kann er die Kämpfe vom alliierten Aufbruch zur Normandie bis zur Siegesfeier von Charles de Gaulle in Paris minutiös nachzeichnen: die blutigen Entscheidungen um die strategisch wichtige Hafenstadt Cherbourg, die großen Bombardements, etwa von Caen, schließlich die Kämpfe bei Falaise, die mit der Einkesselung der deutschen Panzerverbände endeten, dem großen und grausamen Finale in der Normandie. Bei allem Bemühen, das Vorgehen der alliierten Einheiten genau und kritisch zu dokumentieren, übergeht Antony Beevor auch nicht die Kriegsverbrechen der Deutschen, allen voran der SS-Divisionen. Ihr Vorgehen gegen die französische Zivilbevölkerung war entsetzlich brutal. Etwa im zu grausiger Berühmtheit gelangten Dorf Oradour-sur-Glane in der Nähe von Limoges, das von Mitgliedern des Panzerregiments "Der Führer" bis auf die Grundmauern zerstört wurde. 642 Menschen starben, zum Teil wurden sie bei lebendigem Leib verbrannt. Und überhaupt war die Zivilbevölkerung vielfach schwer betroffen von den Kämpfen in der Normandie. Bereits bei den ersten Bombardements, noch vor der Landung am 6. Juni 1944, wurden 15.000 Menschen getötet, erklärt Antony Beevor:

    "Auch im Verlauf des D-Day wurden mehr französische Zivilisten von den Alliierten getötet als umgekehrt alliierte Soldaten im Kampf. Und im weiteren Verlauf der Offensive starben noch mals 15.000 Zivilisten. Wir sprechen also über mindestens 35.000 Menschen, die bei den Angriffen der Alliierten in der Normandie gestorben sind. Dazu kommen über 100.000 Verletzte. Als ich mit der Recherche begann, war das für mich eine besonders erschreckende Erkenntnis: Es sind mehr französische Zivilisten bei den Luftangriffen der Amerikaner und Engländer gestorben, als britische Bürger bei den Angriffen der deutschen Luftwaffe im gesamten Zweiten Weltkrieg."
    Im Krieg endet schließlich jede Moral, auch wenn er im Namen der Befreiung geführt wird. Das ist der eigentliche Kern von Antony Beevors Buch über den D-Day und die Schlacht in der Normandie. Der britische Historiker ist ein großartiger Erzähler, er nimmt seine Leser mit seiner brillant geschriebenen, wenn auch manchmal zu detailverliebten Darstellung gefangen, lässt sie nicht mehr los, konfrontiert sie mit dem unvorstellbaren Wahnsinn militärischer Gewalt. Über sein besonderes Interesse für die Militärgeschichte sagt Antony Beevor, er wolle nicht wie ein Feldherr über Kriege schreiben, wie einer, der auf dem Hügel über dem Schlachtfeld steht und das Gemetzel aus der Ferne betrachtet. Sondern aus der Mitte heraus, dem Schauplatz von Tod und Gewalt. Mit seinem jüngsten Buch ist ihm das einmal mehr gelungen. Die Schlacht um die Normandie bleibt kein abstraktes Geschehen. Sie wird schonungslos dokumentiert. Allein schon deshalb gehört Antony Beevors große Studie zu den wichtigsten historischen Büchern dieses Jahres.

    Anthony Beevor: D-Day. Die Schlacht um die Normandie. Das Buch ist bei C. Bertelsmann erschienen. 640 Seiten kosten 28 Euro, ISBN: 978-3-570-10007-3.