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Bramahnen und Dalits an den Urnen

700 Millionen Inder wählen zurzeit ein neues Parlament. Noch bis Mitte Mai wird abgestimmt. Lokale Belange, vor allem aber das Kastenwesen spielen dabei eine bedeutende Rolle: "Man gibt nicht seine Stimme ab, sondern man stimmt für seine Kaste ab", heißt ein Sprichwort, das in Indien seit Jahren die Runde macht.

Von Kai Küstner |
    So manche deutsche Kuh würde sich vermutlich beschweren, wenn sie so leben müsste wie ein Großteil der Menschen in diesem Dorf: Es liegt mitten in Uttar Pradesh, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens. Shubam zum Beispiel besitzt für sich, seine behinderte Frau und seine drei Kinder eine winzige Lehmhütte mit Strohdach. Möbel hat er nicht. Sie alle schlafen auf dem Staub-Fußboden:

    "Ich hätte so gerne ein Haus und Wasser zum Trinken", sagt Shubam, von den Politikern da draußen hat er noch nie etwas erwartet - und auch noch nie etwas bekommen, was seine Lage verbessert hätte. Trotzdem interessiert ihn Politik. Er will auf jeden Fall wählen gehen. Und zwar die Partei der jetzigen Chefin des Bundesstaats Uttar Pradesh, Mayawati heißt die:

    "Auch wenn ich keinen materiellen Vorteil und auch keinen Job habe: Ich bin froh, dass sie da ist. Denn sie gibt uns Selbstvertrauen. Ich habe jetzt keine Angst mehr, so wie früher."

    Shubam gehört wie die meisten Dorfbewohner zur Kaste der Dalits, die einst die "Niedergetretenen" genannt wurden, und so weit unten im indischen Kastensystem angesiedelt sind, dass sie streng genommen gar nicht mehr dazugehören.

    Hier in Uttar Pradesh ist das Unfassbare passiert. Eine dieser Kaste der Dalits enstammende Frau, Mayawati, hat es geschafft, zu dem zu werden, was man in Deutschland Ministerpräsidentin nennen würde. Die Leute bewundern - und wählen - sie alleine schon deshalb, weil sie eine "von ihnen" ist, meint auch dieser Professor an einem kleinen College nicht weit von dem Dorf entfernt:

    "Kaste ist der ausschlaggebende Faktor bei dieser Wahl im ganzen Land. Mayawati tut nur etwas für ihre Kaste, nicht für die anderen."

    Offiziell ist das Kastensystem - also die Tatsache, dass man per Geburt in einer höher oder tiefer liegenden Schublade der Gesellschaft steckt und dieser nie wieder entkommt - abgeschafft. Je weniger entwickelt ein Gebiet, um so stärker verwickelt ist es aber in dieses traditionelle Unterdrückungssystem.

    Als seien sie gebeten worden, dies zu beweisen, betreten zwei junge Männer in dem Dörfchen den Versammlungsplatz. Kumar Singh ist Arzt, gehört aber der Kaste der Dalits an. Bihari ist Bramahne, er ist erst 15 Jahre alt, aber er hat schon eine ordentliche Dosis Tradition eingeimpft bekommen:

    "Wenn mir Kumar bei sich zu Hause ein Wasserglas anbietet, dann nehme ich das nicht an", erzählt der Knabe. Denn Dalits würden als unrein gelten. Und das, obwohl er Kumar als seinen Freund bezeichnet.

    "Ich weiß auch, dass in uns das selbe Blut fließt. Aber meine Eltern haben mir das nun mal so beigebracht."

    Die Kasten-Kraft scheint hier ungebrochen. Auch wenn sie im Notfall gegenüber dem Überlebensdrang klein beigeben muss: Normalerweise, erzählt der Arzt, würden sich Bramahnen hinterher waschen, wenn ich sie anfasse. Wenn sie aber eine Spritze von mir brauchen, lassen sie das mit sich machen. Auch für ihn ist die Dalit-Vorkämpferin Mayawati eine Heldin:

    "Es verändert sich hier einiges. Seit Mayawati übernommen hat, geht es für uns vorwärts. Wir kriegen Arbeit, sogar meine Frau hat einen Job bekommen."

    Für bestimmte Berufe, gerade staatliche, gibt es mittlerweile Quotenregelungen. Eine gewisse Anzahl an Stellen ist für Angehörige einer Kaste reserviert, auch für die Dalits. Andernfalls hätten die große Schwierigkeiten, sich gesellschaftlich nach oben zu arbeiten, wie Arzt Kumar Singh aus leidvoller Erfahrung weiß:

    "Als ich noch zur Schule ging, hat mal einer meiner Lehrer, ein Höherkastiger, das Schulgeld, das ich ihm brachte, zerknüllt und in den Müll geworfen. Ich würde nie gute Noten bei ihm bekommen, hat er gesagt."

    In Indien macht seit Jahren ein Satz die Runde, der im Grunde nur auf englisch so richtig Sinn macht: "You don't cast your vote, you vote your caste" - "Man gibt nicht seine Stimme ab, sondern man stimmt für seine Kaste ab", so die zugegeben etwas holprige Übersetzung. Sie umschreibt dafür aber sehr genau einen Trend, der in Indien in den 90er-Jahren begonnen hat und heute eine größere Rolle spielt denn je: Auch die eigentlich Chancenlosen verfallen nicht in politische Apathie, sondern gehen in Scharen an die Urnen. Auch diese Dorfbewohnerin geht wählen: "Maywati regiert perfekt", meint diese Frau.

    Unabhängige Beobachter sagen, Mayawati habe viele gute Ideen, aber ihrem Staat - einem der ärmsten Indiens - habe sie trotzdem bislang nur minimalen Fortschritt gebracht. An einigen Stellen der Hauptstadt von Uttar Pradesh, Lucknow, wird allerdings emsig gearbeitet.

    Hier werden allerdings nicht Hospitäler, Zufluchtsorte für die Obdachlosen oder Straßen gebaut. Nein, die Landeschefin ist dabei, sich hier zu Lebzeiten ihre eigenen Denkmäler zu errichten. In einem fast an Nordkorea erinnernden Personenkult, wird hier auf einer riesigen Fläche zum Beispiel ein Kuppelbau errichtet. Dazu eine Prachtstraße, die eines Tages gerahmt sein soll von 99 überlebensgroßen Sandstein-Elefanten, dem Symbol der Partei. Die Bauarbeiter, die hier schuften, sehen das keineswegs als Geldverschwendung in einem Staat, der so gar nicht den Eindruck macht, als sei Geld für 99 Sandsteinelefanten übrig:

    "Mayawati gibt mir Arbeit, sie kümmert sich um mich. Wir alle hier auf der Baustelle lieben sie. Wir würden das auch alles noch einmal abreißen und neu bauen, dann hätten wir noch mehr Arbeit. Sie ist wie ein Göttin für uns."

    Gut möglich, dass selbst diese vulgäre Zurschaustellung von Macht Mayawatis Ansehen in der Bevölkerung steigert. Dass die Frau einer Kaste, für die sonst immer nur Brotkrumen vorgesehen waren, die vom Tisch der Mächtigen fielen, nun auf einmal mit den Mächtigen an diesem Tisch sitzt, reicht schon.

    Wenn die Wahl ganz verquer laufe, könne sie unter Umständen sogar am Kopf dieses Tisches Platz nehmen und Premier-Ministerin Indiens werden, rechnen Analysten vor. Zumindest aber könnte Frau Mayawati die beiden traditionellen großen Parteien, Kongress und BJP, empfindlich stören und es ihnen sehr schwer machen, eine eigene Mehrheit im Parlament zu bekommen. Sollte ihr aber tatsächlich ein Machtwechsel gelingen, sagen Spötter, würde sie vermutlich auch in Neu Delhi als erstes damit beginnen, sich ein paar Sandstein-Elefanten zu errichten.