Eine brillante Idee, so Chaim Lapid, reicht jedoch nicht für ein ganzes Buch. Er brauchte noch einige weitere und über die kann er durchaus reden: "Dieser Mord findet in einer Art Entwicklungsprozeß statt. Wie jeder, der das Buch liest, feststellen wird, ist mehr als nur einer verantwortlich für den Mord, natürlich nur in symbolischem Sinne. Das beginnt mit den Eltern und ihrem Verhalten gegonüber dem Opfer und geht dann so weiter. Obwohl es einen Mörder gibt, zumindest in juristischem Sinne, gefiel mir die Idee eines Mordes, bei dem man nicht mit dem Finger nur auf einen einzigen zeigen kann. Ich denke, auch wenn ich mir dessen nicht sicher bin, daß es im wirklichen Leben oftmals auch so ist. Jeder Mord, jeder Tod hat seine eigene Geschichte. Ich habe das Gefühl, und ich bin nicht der erste, dem das so geht, daß die Art und Weise nicht stimmt, wie wir so etwas in Zeitungen oder vor Gericht behandeln: wir finden ein Opfer, einen Mörder und es endet damit, daß wir jemanden ins Gefängnis schicken. Meistens sind die Geschichten viel komplizierter und viele sind an dem Entwicklungsprozeß beteiligt, an dessen Ende eines Tages ein lebendiger Mensch oder ein kleines Kind zu einer Leiche im Wald oder im Sand wird. Viele sind gewissermaßen mit dafür verantwortlich oder daran beteiligt, und in ‘Bresnitz’ steckt dieser Aspekt auch mit drin."
Kommissar Bresnitz findet, nachdem er einen selbstverschuldeten schweren Verkehrsunfall glücklich überlebt hat, aus dem Krankenhaus entlassen auf seinem Schreibtisch ein ganzes Dutzend ungelöster Kriminalfälle vor, aus denen er sich unverständlicherweise und zum Ärger seiner Vorgesetzten ausgerechnet jenen heraussucht, der völlig unlösbar scheint. In einem abgelegenen Stück Wald haben Spaziergänger den Körper eines jungen schlanken Mannes entdeckt, der mit irgend einem dumpfen Gegenstand erschlagen worden ist. Keiner kennt ihn, keiner scheint ihn zu vermissen. Er ist weder eine Verbrechergröße noch irgendein Prominenter. Warum sich also mit ihm abgeben? Doch Bresnitz ist verbiestert. Was er sich einmal vorgenommen hat, das verfolgt er mit hartnäckiger Sturheit gegen jeden Widerstand und der Erfolg scheint ihm ja auch Recht zu geben. Er entdeckt die Identität des Opfers, bekommt zudem noch einen Verdächtigen auf dem Silbertablett serviert. Doch der erweist sich als unschuldig. Die Suche geht weiter. Immer neue Verdächtige tauchen auf.
Das gilt übrigens nicht nur für den Mordfall, sondern auch für Bresnitz’ gerade beendete Liebesaffäre. Daß ihn seine außereheliche Geliebte nicht mehr sehen will, macht den verheirateten Mann rasend. Er versucht herauszufinden, ob sie einen neuen Liebhaber hat, überwacht ihre Wohnung, verfolgt eifersüchtig jeden möglichen Nebenbuhler, macht sich mit seinen Verdächtigungen geradezu lächerlich. Ein merkwürdiger Kommissar, ein zutiefst israelischer, meint sein Erfinder, der spindeldürre, schmächtige Chaim Lapid: "Zuerst einmal ist vielen meiner Leser die Tatsache aufgefallen, daß er zwar ein alter, fetter, starker Mann ist, zugleich aber auch schwach und empfindlich. Sie können es natürlich als primitiven Versuch des Autors ansehen, sich selbst zu tarnen, um nicht identifiziert zu werden. Um etwas ernsthafter zu antworten: Man könnte sagen, daß sein Charakter etwas ziemlich typisch Israelisches aufweist. Natürlich gibt es fünf Millionen Israelis und keiner ist wie der andere, aber Schriftsteller versuchen manchmal so wie Zeitungsleute zu verallgemeinern. Das, was ihn als israelisch auszeichnet, ist diese Kombination von stark, rauh, manchmal gewalttätig und intellektuell. Er ist ein Intellektueller, ein Mann, der liest. Ich muß gestehen, ich war mir dessen als Schriftsteller nicht bewußt, aber man hat mich darauf hingewiesen und die Leute können einem wirklich ziemlich oft erklären, was man selbst geschrieben hat. Insofern ist dies eine ziemlich israelische Kombination, auf der einen Seite die Tradition des Jüdischseins und intellektuellen Jüdischseins insbesondere in diesem Jahrhundert, und auf der anderen Seite der plötzlich vorhandene israelische Staat mit einer Armee und so weiter. Ein Junge wie ich, der eine typisch intellektuelle akademische Ausbildung genossen und über Philosophie und Literatur geschrieben hat, ist zugleich Teil vieler anderer Welten. Ich war eine Zeitlang Soldat in der Armee und bin Reservist. Es ist also gewißermaßen etwas Typisches."
Ob es Chaim Lapid wirklich gelungen ist, einen typisch israelischen Kommissar zu beschreiben, mögen seine Landsleute besser beurteilen können. Auf alle Fälle ist er interessant genug, um den Leser ans Buch zu fesseln und genau das zu erreichen, was dem Schriftsteller vorschwebte: "Abgesehen von dem Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, gibt es auch noch den Wunsch, etwas anders zu machen als die anderen. Ich glaube, daß es sich die meisten von uns Schriftsteller zu leicht machen. In der Malerei zum Beispiel würde heute niemand im Traum daran denken, so zu malen wie die Expressionisten oder im Stil der Klassik. Jeder Maler begreift, daß man was anderes malen muß, wenigstens soweit das in den eigenen bescheidenen Kräften liegt. Aber bei Büchern und Filmen kann der Autor aufgrund der schrecklichen Bedeutung des Plots in exakt derselben Art und Weise, demselben Stil schreiben wie viele vor ihm. Ich meine dagegen, daß man in jedem neuen Buch nach einer neuen Technik suchen, etwas Neues ausprobieren muß. Man kann nun fragen, was an ‘Bresnitz’ neu ist. Dort gab es zwei Herausforderungen: Zum einen wirklich einen guten israelischen Kriminalroman zu schreiben - die Geschichte der Krimis ist in Israel sehr kurz, und die meisten waren nicht sehr israelisch, hätten überall sonst stattfinden können. Ich denke, ‘Bresnitz’ spielt wirklich in Israel. Die andere Herausforderung bestand darin, für diesen Krimi ein so extremes Ende zu finden. Ich weiß, daß niemand mehr etwas Neues schreibt, weil sich bereits alles in der Vergangenheit finden läßt, aber ich glaube dennoch, daß ich eine so extreme Lösung gefunden habe, daß ‘Bresnitz’ mehr ist als nur ein weiterer Krimi. Ich habe es zumindest versucht."
Das Expriment ist geglückt. Chaim Lapid hat tatsächlich die Krimiliteratur um eine sehr ungewöhnliche Figur und einen ebenso ungewöhnlichen Plot bereichert.