Gertrude Stein starb 1946, mit 72 Jahren. Wenige Tage vor ihrem Tod erschien die Erzählung ”Brewsie und Willie”. Der Text ist, anders als etwa das vorausgegangene Buch, >>Kriege, die ich gesehen habe <<, nicht aus autobiographischer Perspektive geschrieben. Hier versucht Stein, die Stimmen der jungen Soldaten einzufangen, mit denen sie am Ende ihres Lebens so gern zusammentraf. In Bögen und Kreisen von endlosen, vagen Anfängen und Neuanfängen reden diese GIs hin und her: Was es bedeute, Amerikaner zu sein. Warum sie sich so viele Sorgen machten, obwohl sie als Heeresangehörige doch gefüttert, angezogen und zu Besichtigungen gefahren würden. Warum sie nach Hause wollten und sich gleichzeitig vor der dort drohenden Arbeitslosigkeit fürchteten. Daß die Industrialisierung wie Kaugummi sei, man kaue und werde nicht satt. Die Industrialisierung mache aus Menschen Angestellte, die alle gleich seien und nicht selbständig denken und fühlen könnten. Unter all den Donalds, Jos und Eds schwingt Brewsie sich, unterstützt von Willie, zum Wortführer auf. Er äußert eine für Sieger nicht gerade selbstverständliche Vermutung. Es sei nicht sicher, ob sie den Krieg gewonnen hätten. Auf alle Fälle befänden sie sich jetzt im gefährlichsten Moment ihrer Geschichte. Zurückgekehrt in die USA, würden sie arbeiten müssen und keine Zeit mehr zum Nachdenken haben. Dabei müsse es doch vor allem um das Erkunden von Neuland gehen und sie müßten abreißen, was bereits gebaut worden sei. Im Epilog des Buchs steigt Gertrude Stein selbst auf das Rednerpult. Sie bündelt die Gespräche, vor allem aber Brewsies Überlegungen, in einen Apell. Es müsse ein geistiger Kampf um Neuland geführt werden. Man solle produzieren, ohne den Reichtum des Landes zu erschöpfen. Die Leute sollten nicht Massenarbeiter, sondern Individualisten sein, sie sollten sich den Tatsachen stellen, ihre Komplikationen ausdrücken lernen, und bei all dem sollten sie so langsam vorgehen wie nur eben möglich.
Der Text zeichnet ein ungewöhnliches Portrait der Soldaten. Sie wirken unsicher und furchtsam, Brewsie nennt sie Babies. Was sind das für Sieger? Sie haben soeben, 1946, die Faschisten geschlagen; als Leser heute könnte man hinzufügen, 1996 haben sie auch den kalten Krieg gewonnen. Und was raten, fünfzig Jahre vorher, Brewsie/Stein? Innehalten. Eine Perspektive entwickeln.Das Vorhandene niederreißen, um Neues zu erkunden, und sei das Neue auch eine Dürre. Als steckten diese Sieger, damals wie heute, in unhaltbaren Behauptungen, - so klingt das.
Gertrude Stein hat sich nach der Befreiung Frankreichs bei ihren zahlreichen Treffen mit Soldaten geradezu einen Spaß daraus gemacht, ihnen die Köpfe zu verwirren. Nicht erst in "Brewsie und Willie", sondern auch in den realen Begegnungen mit Zeitgenossen behauptet sie, Verwirrung anzurichten und den Leuten Ungehorsam beizubringen, sei die einzige Möglichkeit, Frieden zu erlangen. Aber man erfaßt den Text nicht, wenn man ihn lediglich als den einer am Ende ihres Lebens politisch radikalisierten Autorin liest. Überdies finden sich in der Analyse des Zeitgeschehens unhaltbare, hilflose bzw. luxeriöse Behauptungen wie die, man könne nicht gleichzeitig seinen Lebensunterhalt verdienen und leben. Die ersten Kritiker von "Brewsie und Willie" monierten schon damals, das Buch berühre Themen, die mit den eigentlichen Interessen von GIs wenig zu tun hätten. Mit der Frage, wie realistisch Stein in ihrem letzten Buch gewesen sei, kommt man dem Verständnis des Textes kaum näher. Vielleicht muß man auch bei dieser Arbeit sagen, was für das gesamte Werk gilt: Im Mittelpunkt des Schreibens steht für das Genie, das Stein in sich sah, allemal Gertrude Stein. Die Schlangensätze, das Wörterfließband, das sie in Bewegung versetzt, wiederholen wie ein säkularisierter Rosenkranz die immergleiche, eine Botschaft, "ich bin der ich bin”. Stein hatte den Anspruch, mit ihrem Schreiben das 19. Jahrhundert zu beenden und eine neue Sprache zu finden. Die Sprache, die sie fand, kennt keine Tiefe, täuscht sie auch nicht vor. Sie ist, wie Bilder, reine Oberfläche. Dabei ist der Wortschatz auf eine Art basic english reduziert, Steins Reaktion gegen Affektation, Ziererei.
Vergleicht man die Autorin mit ihren Zeitgenossen und Nachfolgern, muß man zugeben: es ist, immer noch, eine unverbrauchte, fremdartige Sprache, ob sie einem nun gefällt oder nicht, ob sie sich verkauft oder nicht. Und Gertrude Stein selbst wurde nicht müde, diese Neuheit herauszustellen.
Selbst die Erzählung ”Brewsie und Willie” kann man auch - auch - lesen als die beschwörende Botschaft: ich bin, wie ein Soldat, jemand, der kämpft; jemand, der Altes beendet und überwindet. Ich wage es, selbständig wahrzunehmen und betrete damit Neuland. Das ist eine gefährliche Angelegenheit, die man immer wiederholen und dabei so langsam wie möglich betreiben muß:
"Hör zu Willie, sagte Brewsie, du denkst irgendwie, daß ich alles zu viel durchhechle, du bist wie alle mit einer Geschichte, ihr wollt daß die Mitte schneller geht aber das ists, Willie, das ists, sie geht zu schnell, mußt sie runterbremsen, ehrlich, du willst dann zwar den Schluß, aber Willie es gibt keinen Schluß, du mußt es langsamer angehen, bestimmt gibt es eine Antwort. Ich fühle die Antwort irgendwie, manchmal weiß ich daß ich die Antwort weiß, aber warte Willie, warte bis ich dir alles davon von vorn erzähle, vielleicht wenn ich dir alles davon von vorn erzähle kommst du auch auf die Antwort, keine Antwort aber eine Art weiterzumachen ... Ich sag dir und auch wenn es sich anhört als hätte ich nicht viel Verstand, es gibt keine Antwort, es wird keine Antwort geben, es hat nie eine Antwort gegeben, das ist die Antwort."
Man kann solche Sätze lesen als Gertrude Steins Poetologie - und die ist, zugegeben, in postmoderner Zeit alles andere als populär. Inzwischen hat sich vieles, was einmal als Errungenschaft galt, erschöpft. Angesichts der heutigen Wiederkehr des Gegenständlichen in die Literatur, und verglichen mit dem verführerischen Erzählen vieler postmoderner Autoren ist "Brewsie und Wilie" ein abstrakter, schwer zugänglicher Text. Ihn trotzdem zu genießen, erfordert ein radikales ”Runterbremsen” des eigenen Lesetempos. Ja, es hilft sogar, sich diese Arbeit laut vorzulesen. Man kann dann die Erfahrung machen, wie der Stein ins Rollen kommt. Eine unablässiges Drehen, eine Bewegung, eintönig, ziellos, und darin faszinierend.