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Brexit und Wissenschaft
Abwarten und weiterforschen

Politik und Wirtschaft debattieren schon lange über die Folgen des Brexit, aber was bedeutet der EU-Austritt Großbritanniens für die Wissenschaft? Fördermittel aus Brüssel beispielsweise dürften schwieriger zu bekommen sein. Grund zur Panik sehen viele dennoch nicht.

Von Ralf Krauter | 08.04.2019
Eine Wissenschaftlerin benutzt ein Mikroskop in einem Labor in Großbritannien. Durch den Brexit könnten Forscher viele Nachteile entstehen.
Wie soll Wissenschaft funktionieren ohne Austausch von Wissenschaftlern und Informationen? Diese Frage stellen sich viele Forscher angesichts des bevorstehenden Brexit. (imago stock&people/Simon Belcher )
Jens Christian Claussen ist vor einem Jahr nach England gezogen, um als Hochschullehrer am Institut für Mathematik der Aston University in Birmingham zu unterrichten und zu forschen. Der drohende Brexit war damals schon ein Thema – und macht ihm bis heute Sorgen.
"Denn wie soll Wissenschaft funktionieren, ohne Austausch von Wissenschaftlern und Studenten, von Informationen? Wissenschaftler besuchen Tagungen. Wir haben gerade Besucher im Erasmus-Programm aus der EU, aber auch aus der Ukraine zu Gast. Wenn diese Austausche gefährdet würden, wäre das natürlich ein großer Verlust."
Ein harter Brexit, bei dem kein Vertrag regelt, wie Großbritannien und die EU-Staaten künftig zusammen arbeiten, wäre auch für die wissenschaftliche Kooperation die schlechteste Variante, sagt der promovierte Physiker.
"Das wäre erst mal kurzfristig ein bisschen katastrophal, weil man dann erst mal wieder die Forschung macht, die man für sich alleine mit Papier und Bleistift macht. Das ist in der Mathematik und Physik etwas einfacher. Aber sobald man Experimente macht und große Kollaborationen braucht oder seine Netzwerke weiter pflegen will, ist das natürlich ein Einschnitt. Ein harter Brexit, bei dem die Mobilität eingeschränkt ist, würde erst mal für zwei bis drei Jahre für die Wissenschaft und die Universitäten in England aber letztendlich auch für den Kontinent ein großer Verlust sein."
Weitere Teilnahmen über Assoziierungsabkommen
Nach drei bis fünf Jahren, dürfte sich die Lage allerdings wieder normalisieren, hofft Jens Christian Claussen – sofern bis dahin neue Abkommen vereinbart wurden, die den Austausch von klugen Köpfen regeln. Für das Studentenaustauschprogramm Erasmus zum Beispiel, sei man da schon auf einem guten Weg. Einerseits muss sich keiner, der aktuell daran teilnimmt, Sorgen machen, vorzeitig nach Hause geschickt zu werden. Andererseits könnte Großbritannien über ein Assoziierungsabkommen weiter teilnehmen.
"Da ist England dran interessiert, da ist die EU dran interessiert. Das muss man irgendwann unterschreiben. Schwieriger wird es bei Mobilitätsprogrammen wie europäischen Doktorandennetzwerken, bei denen jeder Doktorand, der nach England gehen würde, aus dem Ausland käme und jeder englische Doktorand auch das Land wechseln müsste. Wenn man also 100 Prozent Mobilität eingebaut hat – und das ist eine wunderbare Geschichte – dann ist das natürlich inkompatibel, dass man die Tür einfach mal kurz zumacht."
Auch Fördermittel aus Brüssel, etwa vom Europäischen Forschungsrat, dürften Forscher in Großbritannien künftig schwerer bekommen. Die Regierung in London hat zwar versprochen, laufende EU-Forschungs-projekte weiter zu finanzieren. Doch ob sie diese Zusage halten wird, ist offen. Und für neue Projektanträge von oder gemeinsam mit Forschern in Großbritannien würde nach einem harten Brexit bis auf weiteres die rechtliche Grundlage fehlen.
"Das wird sicherlich die nächsten Jahre dann erst mal so sein, dass England da ausgeklinkt wird. Und sich dann ähnlich wie die Schweiz oder Norwegen ein Spezialmodell überlegen muss, wie man denn die Mobilität der Wissenschaftler trotzdem gewährleistet."
Weg von der Insel
Jens Christian Claussen sieht dennoch keinen Grund zur Panik und hat beschlossen, erst mal abzuwarten. Von den internationalen Forschern in seinem Umfeld, die mehrjährige Arbeitsverträge haben, denke noch keiner ernsthaft ans Kofferpacken, sagt er. Von denen, deren Verträge bald auslaufen, orientieren sich aber tendenziell mehr als früher weg von der Insel – wegen der anhaltenden Unsicherheit.
Wie sich die Briten am Ende entscheiden? Da wagt der Experte für die Modellierung sozioökonomischer Systeme keine Prognose. Er hofft aber, dass es über kurz oder lang ein zweites Referendum geben könnte. Eines, bei dem die Bürger zwischen wirklich realistischen Optionen wählen dürfen und den Versprechen der Brexit-Befürworter nicht mehr so arglos auf den Leim gehen.
"Wenn dieses Szenario tatsächlich passiert, sind alle Optionen drin. Und wenn die Briten dann tatsächlich sagen: Wir sind das vereinigte große Königreich, wir wollen gute Freunde bleiben, aber wir sind einfach draußen, dann muss man das akzeptieren. Aber es kann auch sehr gut sein, dass durch die vielen jungen Leute die sich europäisch fühlen und durch die Wirtschaft – dass diese Kräfte zusammen dann doch so stark sind, dass man sich dann doch wieder auf ‚remain‘ einigt."