Samstag, 20. April 2024

Archiv

Brexit-Verhandlungen
Europapolitiker fordert Härte gegenüber Großbritannien

Die britische Premierministerin Theresa May habe derzeit "für nichts im Unterhaus eine Mehrheit", sagte der EU-Abgeordnete Jens Geier (SPD) im Dlf. Doch auch wenn die Brexit-Bedingungen der EU an Großbritannien "sehr, sehr hart" seien, brauche es den Druck, damit "die britische Regierung die letzten Schritte macht".

Jens Geier im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 17.10.2018
    Jens Geier (SPD), Chef der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament, Vizevorsitzender des Haushaltsausschusses und dort auch zuständig für den Brexit im Plenarsaal
    Jens Geier sitzt für die SPD im Europäischen Parlament, wo er Vizevorsitzender des Haushaltsausschusses ist (picture alliance / dpa / Thierry Monasse)
    Jürgen Zurheide: Am Telefon begrüße ich Jens Geier. Er sitzt für die SPD im Europaparlament. Guten Abend, Herr Geier!
    Jens Geier: Guten Abend, Herr Zurheide.
    Zurheide: Herr Geier, beginnen wir mal. Wir haben gerade noch mal gehört: 90 Prozent sind fertig. Das sind ja immer so schöne Sätze. Ich kenne eigentlich den anderen Satz: Fertig ist es erst, wenn alles fertig ist. Wie sehen Sie das? Was liegt da auf dem Tisch?
    Geier: Es liegt in der Tat eine Menge auf dem Tisch. Das Europäische Parlament hatte von Anfang an gesagt, es geht uns um drei Dinge, damit wir zustimmen können: Großbritannien muss seine finanziellen Verpflichtungen einhalten, die sie bis Ende 2020 eingegangen sind; das ist erreicht. Die Rechte der EU-Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien und umgekehrt der britischen Bürgerinnen und Bürger in der EU müssen geregelt sein, und zwar auf möglichst hohem Standard der Freizügigkeit, was der augenblicklichen Situation so nahe wie möglich kommt. Und das Dritte ist das Vermeiden einer offenen Zollsituation in Nordirland und die Vermeidung von Grenzkontrollen – nicht nur wegen des Karfreitagsabkommens, was wir schützen wollen, sondern auch, weil wir uns natürlich nicht leisten können, dass über eine unkontrollierte irische Grenze alles Mögliche in die EU kommt, was wir da nicht haben wollen. Letzteres ist noch nicht fertig.
    Zurheide: Genau. Der letzte Punkt ist dann sozusagen der Knackpunkt, der im Moment auf dem Tisch liegt.
    Geier: Richtig.
    "Sie hat für nichts im Unterhaus eine Mehrheit"
    Zurheide: Der Barnier-Vorschlag lautet ja, statt zwei Jahre Übergangsfrist möglicherweise drei, aber das dann verbindlich fest, und das kriegt Frau May nicht durch bei sich mit den eigenen Leuten. Ist das richtig beobachtet?
    Geier: Sie hat für nichts im Moment im Unterhaus eine Mehrheit. Die Neinsager haben unterschiedliche Motive, aber sie sagen aus unterschiedlichen Motiven Nein. Für die harten Brexiteers und für die Democratic Unionist Party aus Nordirland geht das alles nicht weit genug, nicht radikal genug, nicht schnell genug. Den anderen ist es zu hart. Die vereinigen sich dann im Nein, und damit steht Frau May dann ziemlich alleine da.
    Zurheide: Jetzt haben wir auch gerade gehört, dass die Front der Europäer ziemlich geschlossen dasteht, und das "ziemlich" nehme ich jetzt wieder aus meiner Frage raus. Ist das wirklich so? Überrascht Sie das eigentlich? Oder sagen Sie: Nein, da ist auch so viel Druck zum Beispiel im Europäischen Parlament, dass das so sein muss?
    Geier: Die Briten haben von Anfang an darauf spekuliert, die Front der 27 aufzuknacken. Sie haben einiges versucht, es auch durchzusetzen. Ich bin sehr zufrieden, dass es ihnen bisher nicht gelungen ist, und das hat damit zu tun, dass es in den Hauptstädten doch ein großes Verständnis dafür gibt, wenn das gelingen würde, dass Großbritannien mit einer Rosinenpickerei anfangen könnte, die anschließend die Integration des gemeinsamen Marktes gefährdet. Ja, das ist der eine harte Grund, der dann alle in die Disziplin zwingt. Der andere ist dann tatsächlich: Das Austrittsabkommen braucht die Zustimmung des Europäischen Parlaments, und die Bedingungen sind von uns relativ hoch gesetzt. Selbst wenn den Briten es gelänge, in die Verhandlungsfront der 27 Regierungen Breschen reinzuschlagen, bei uns wird es schwer.
    "Keiner will Grenzkontrollen, unterbrochene Lieferketten"
    Zurheide: Dann gibt es diese wunderbaren Sätze, die wir auch von der Kanzlerin heute gehört haben, natürlich von allen Seiten, die da gerade ein Stück in Optimismus machen: Kein Deal ist die schlechteste Lösung. Das ist richtig. Ich füge hinzu, das ist aber fast eine Plattitüde in der gegenwärtigen Situation, oder?
    Geier: Sie mögen das als Plattitüde sehen, aber es ist ja so. Ich meine, keiner will eine Situation, wo wir in Dover kilometerlange Schlangen haben und in Calais auch – von Lastkraftwagen, die da nicht abgefertigt sind. Keiner will Grenzkontrollen in Irland wieder haben. Keiner will unterbrochene Lieferketten – denken Sie an den Airbus. Die ganzen Tragflächen des Airbus kommen komplett aus Großbritannien. Die wissen heute überhaupt nicht, wie sie mit dem Brexit umgehen können. Aber der harte Brexit, wo das alles dann noch mal verzollt werden muss, kontrolliert werden muss, ist für die Lieferkette für dieses Flugzeug eine absolute Katastrophe. Insofern ist "No Deal ist die schlechteste Lösung" plattitüdenhaft, aber sehr wahr. Der Umkehrschluss kann dann aber nicht sein, dann ist jedes Abkommen gut, sondern die Bedingungen bleiben dann sehr, sehr hart, und nur, wenn wir die aufrecht erhalten, haben wir auch genug Druck, dass die britische Regierung die letzten Schritte macht, die sie noch gehen kann.
    "Der Brexit-Flügel der Konservativen trägt die politische Verantwortung"
    Zurheide: Dann kommen wir zu dem, was ich vorhin schon mal angedeutet habe, oder was man vielleicht so analysieren kann, wie es heute Abend viele tun. Frau May konnte heute noch gar nicht zustimmen. Sie haben es ja auch gerade noch mal geschildert. Sie steht unter doppeltem Druck. Da sind die Widersacher in der eigenen Partei, die harten Brexiteers. Da ist eine öffentliche Meinung (nur noch 34 Prozent, aber immerhin sind die da). Und sie hat diese DUP, die nordirische, die ihre Mehrheit beschaffen muss. Braucht sie quasi die letzte Ausfahrt, wie das dann in Brüssel immer so ist, möglicherweise im November oder im Dezember bei einem Sondergipfel, oder bleibt dann stehen, was wir auch heute gehört haben – helfen Sie uns da bei der Einschätzung –, dass dieser Sondergipfel nur kommt, wenn man vorher schon eine Lösung hat? Das widerspricht ja so den Brüsseler Verhandlungsprinzipien, oder?
    Geier: Wir müssen uns eigentlich nicht dafür interessieren, wie Frau May ihre Probleme gelöst bekommt. Großbritannien wollte aus der Europäischen Union aussteigen. Sie haben sich jetzt in eine Position manövriert, wo niemand mit nichts mehr zufrieden zu sein scheint. Das ist eine innenpolitische Katastrophe, für die die Konservativen, vor allen Dingen der Brexit-Flügel der Konservativen die politische Verantwortung trägt. Keiner auf der Seite des Kontinents hat Veranlassung, denen aus dieser Klemme rauszuhelfen. Das dürfen die ganz alleine machen. Ob die das mit Überzeugungsarbeit tun oder anders, das vermag ich nicht einzuschätzen. Aber May muss einschätzen, was sie der EU zugestehen kann. Wenn es Zugeständnisse gibt, die reichen, dann können wir abschließen. Dann haben wir ein Austrittsabkommen, und dann geht das geregelt seinen Weg. Das ist das, was die europäische Seite interessieren muss. Unter welchen Bedingungen Frau May dann eine Zustimmung in London erreicht, steht auf einem anderen Blatt.
    "Wir nennen das die Ratifizierungskrise"
    Zurheide: Entschuldigung, wenn ich dazwischen gehe. Das ist aber genau doch die entscheidende Frage. Da müssen Sie sich im Zweifel keinen Kopf machen. Nur dann heißt es, dann knallt es, denn sie wird die Zustimmung von den harten Brexiteers nicht bekommen und von der DUP genauso wenig, oder? Und die Opposition, ob ihr die aus der Patsche hilft und nicht dann sagt, dann machen wir lieber Neuwahlen – mit welchem Ergebnis auch immer.
    Geier: Das ist eine Möglichkeit. Wir nennen das in der Diskussion die Ratifizierungskrise. Wenn sie mit einem Abkommen nach Hause kommt, wo sie grünes Licht aus Brüssel, von den 27 Regierungen und vom Europäischen Parlament bekommen hat, dafür aber keine Mehrheit im Europäischen Parlament bekommt, dann könnten wir wiederum sagen: Okay, wenn ihr mehr Zeit braucht für die Überzeugungsarbeit, dann…
    Zurheide: Im englischen Parlament.
    Geier: Im britischen Parlament. – Wenn sie dafür im britischen Unterhaus dann die nötige Mehrheit verfehlt, das ist möglich. Wenn sie sieht, sie hat sie nicht, wird sie das Gesetz möglicherweise gar nicht einbringen, weil wenn sie verliert, dann muss sie Neuwahlen fürchten, und die muss sie wirklich dann fürchten. Dann könnte die europäische Seite sagen: Okay, wenn ihr mehr Zeit für die Überzeugungsarbeit für dieses Abkommen braucht, dann können wir das auch einräumen. Wir können nur nicht sagen, wir können nicht den Vertrag ignorieren. Das heißt, der 29. März ist eine harte Grenze, die eingehalten werden muss.
    Zurheide: Herr Geier, ich vermute, wir werden noch öfter über dieses Thema reden. Ich bedanke mich heute Abend ganz herzlich über diese Einschätzungen.
    Geier: Sehr gerne.
    Zurheide: Das war Jens Geier, für die SPD im Europäischen Parlament. Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.