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Brillierendes Musiktheater

Das Musiktheater in Mitteleuropa erfuhr 1945 eine tiefe Krise. Dass eine traditionsbewusste Zukunft in neuen Bahnen gab, war maßgeblich dem Regisseur Walter Felsenstein zu verdanken. Er setzte er im Herzen von Berlin wie kaum ein anderer Wegmarken eines realistischen und zugleich phantastischen, werktreuen und durch stimmige Übersetzungen brillierenden Musiktheaters.

Von Frieder Reininghaus | 08.10.2005
    In den Nachkriegsjahren wurde die aus Ruinen auferstehende Musiktheaterlandschaft maßgeblich von einem Regisseur geprägt: von Walter Felsenstein. Im Juni 1947 erhielt er auf Initiative der Sowjetischen Militäradministration in Berlin die Lizenz, als Intendant und Chefregisseur eine "Komische Oper" nach dem Vorbild der Opéra comique in Paris zu betreiben.

    Im ehemaligen Metropol-Theater entwickelte er ein Modell des Theatermachens, das der kulturpolitischen Leitlinie Moskaus folgte, zugleich aber deutlich Eigenständigkeit demonstrierte:

    "Unter realistischem Musiktheater verstehe ich die Realität der Gesangsnotwendigkeit, dass also ein Mensch glaubhaft singt."

    Felsensteins Arbeit war auf ein "realistisches" Theater gerichtet, in dessen Zentrum eine stringente, gesellschaftlich reflektierte Aussage steht (und nicht etwa Kunstfertigkeit der Stimmen oder bloßer Wohllaut des musikalischen Gewebes). - Der Weg dorthin verlief nicht gradlinig:

    "Ich bin Wiener. Nach verschiedenen Vorsprechen, die durchaus nicht immer erfolgreich verliefen, bin ich dann gelandet bei dem berühmten Schauspiel des Wiener Burgtheaters."

    Auf diese erste kursorische Berührung mit der professionellen Theatersphäre und die Begeisterung für die russischen Theaterrevolutionäre der frühen 20er Jahre folgten Engagements als "Jugendlicher Liebhabe"' am Theater Lübeck, in Mannheim und Beuthen. Dort führte Felsenstein auch erstmals Regie.

    Mit aktuell neuem Musiktheater konnte sich der vielseitige junge Mann Ende der 20er Jahre in Basel, Anfang der 30er Jahre in Freiburg befassen. 1936 wurde er von der Reichstheaterkammer wegen seiner Ehe mit einer "nichtarischen" Frau ausgeschlossen. Walter Felsenstein wich nach Zürich aus, kehrte jedoch 1940 auf Initiative von Heinrich George ins Reich zurück - ans Schiller-Theater in Berlin und an die Seite so strammer Nazis wie Karajan oder Clemens Krauss.

    Nach Kriegsdienst und Kriegsende kam die Stunde des vielseitigen und scharfzüngigen Theatermanns: am Hebbel-Theater brachte er mit "Pariser Leben" nach 12 Jahren Aufführungsverbot eine erste Offenbach-Neuinszenierung heraus. Das eröffnete die Chance zu einem Neuanfang mitten im sich spaltenden Berlin.

    Das Ensemble mit Sängern aus Ost und West wuchs ebenso wie ein Chor mit schließlich mehr als 70 solofähigen Stimmen; das Orchester erreicht eine Sollstärke von 120 Mann: Die "Komische Oper" etablierte sich in einem Häuserblock zwischen Behrenstraße und dem Boulevard Unter den Linden. Ihr Chef, der österreichischer Staatsbürger blieb, setzte auch nach dem Bau der Mauer durch, daß westberliner Mitarbeiter weiterbeschäftigt wurden.

    Neben gerühmten Verdi- und Mozart-Inszenierungen war es vor allem das Engagement für Offenbach, das Felsensteins Bedeutung als prägender Regisseur befestigte: "Orpheus in der Unterwelt" und eine an den Schauspielvorlagen orientierte Neufassung von "Hoffmanns Erzählungen" mit grotesk-lemurenhaftem Sängerpersonal, optischen Anspielungen auf Ensor und Kubin - alles in surreal greller Überdeutlichkeit. 1963 dann "Ritter Blaubart". Die Inszenierung der sperrigen Travestie von Charles Perraults bekannter Erzählung hielt sich 30 Jahre im Repertoire.

    Als Felsensteins "Blaubart" frisch auf den Markt kam, musste sich der Regisseur gegen den Verdacht verwahren, er habe die Geschichte verschärft und mit Gags versehen. Das war ein Verfahren, das er generell ablehnte - er hielt es allemal mit hartnäckiger philologischer Vorarbeit.

    "Ich habe keine Bearbeitung oder eigene Fassung hergestellt, sondern nahezu wörtlich eine eigene Übersetzung des Originals vorgenommen ohne aber die Musik im Geringsten anzutasten."

    Felsenstein - der Name klingt nach Paläolithikum, verbürgte aber drei Berliner Nachkriegsjahrzehnte lang einen eigenwilligen Weg der Modernität und soliden Umgang mit der dehnbaren Grundmasse Oper. Den historischen Rang von Max Reinhardt erreichte er nicht, doch sind bedeutende Kollegen und Nachfolger aus seiner Schule hervorgegangen: unter anderem Götz Friedrich, Joachim Herz, und Harry Kupfer. Die Komische Oper leitete Walter Felsenstein bis zu seinem Tod am 8. Oktober 1975.