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Brot aus dem Rachen des Löwen

Niemals - das war bisher die Devise der Türkei, wenn es um Kontakte zur nordirakischen Kurdenregierung von Massoud Barzani ging. Denn Ankara befürchtete, Gespräche mit der Regionalregierung in Erbil könnten als Anerkennung der kurdischen Autonomie in Nordirak verstanden werden. Damit ist es nun vorbei: Die Türkei hat eine erste Gesprächsrunde eröffnet.

Von Susanne Güsten |
    Grenzstation Habur. Auf der Brücke über den Grenzfluss zwischen Irak und der Türkei geht es endlich etwas voran. Ein paar Meter schiebt sich die Lastwagenkolonne voran, doch dann ist schon wieder Schluss. Die Fahrer stellen die Motoren ab, klettern aus ihren brütend heißen Führerhäusern, zünden sich neue Zigaretten an und starren schweigend über das Geländer in den Fluss hinunter. Zu sagen gibt es nichts, jeder Gesprächsstoff ist längst erschöpft. Der Fahrer Mehmet aus Silopi steht mit seinem Lastzug schon fast eine Woche hier, dennoch schätzt er sich glücklich. Normalerweise dauert es viel länger, sagt er:

    "Ich fahre regelmäßig vom türkischen Mittelmeerhafen Iskenderun nach Nordirak. Jetzt komme ich gerade aus Kirkuk zurück, ich habe Rohre für eine Erdölpipeline dorthin geliefert. Normalerweise stehe ich auf dem Rückweg zehn bis 15 Tage an der Grenze, aber diesmal hat es nur sechs Tage gedauert, ich schaffe es also in der halben Zeit."

    Früher war es besser, sagt Mehmet, da konnte er im Monat mindestens drei bis vier Touren nach Nordirak fahren. Bis vor ein, zwei Jahren konnte er gut leben von seinem Fahrerjob, aber nun dauert eine einzige Tour zwei bis drei Wochen, und das bei gleichem Lohn.

    "Bei Gott, wir holen unser täglich Brot aus dem Rachen des Löwen! Es ist sehr schwer. Wir fahren und fahren, aber es bleibt nichts übrig."


    Mehmets Lastzug erreicht endlich das Ende der Brücke und rollt in die türkische Grenzanlage ein, wo die Ursache für die Warterei sichtbar wird. Während Grenzsoldaten in Tarnuniformen sich die Wagenpapiere zeigen lassen, treten andere Soldaten in blauen Arbeitsanzügen an den Lastzug heran. Statt mit Gewehren sind sie mit Schraubenziehern und Zangen bewaffnet, und damit zerlegen sie den Lastwagen in seine Einzelteile. Nach Drogen und nach Schmuggelware suchen sie hier am einzigen Grenzübergang zwischen Irak und der Türkei, nach Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa, aber vor allem nach Waffen - nach Waffen und Sprengstoff für die Kämpfer der PKK, die in Nordirak ihr Hauptquartier hat und auf türkischem Boden angreift. Seit die Kämpfe zwischen den kurdischen Rebellen und der türkischen Armee in den letzten zwei Jahren wieder aufgeflammt sind, geht Sicherheit vor schneller Abfertigung am Grenzübergang Habur. Das bekommen nicht nur die Fahrer zu spüren.

    An der Hauptstraße von Silopi, dem Grenzstädtchen auf der türkischen Seite des Habur, sind die Import- und Exportfirmen angesiedelt, die vom Handel mit Nordirak leben - oder vielmehr: gelebt haben, wie der Niederlassungsleiter Abdullah von der Firma Rehber korrigiert. Aus dem Büro der benachbarten Exportfirma dudelt Radiomusik, und auch Abdullah selbst hat nicht viel anderes zu tun, als zu rauchen und aus dem Fenster zu schauen. Baustahl, Zement und Pipelinerohre liefert sein Transportunternehmen nach Nordirak, aber in letzter Zeit nicht mehr viel davon:

    "Früher haben wir 100 bis 150 Fahrzeuge am Tag über die Grenze geschickt, jetzt sind es noch zwei oder drei am Tag, manchmal fährt auch kein einziger Wagen. In den letzten fünf, sechs Tagen haben wir gerade mal zwei Fahrzeuge losgeschickt. Das liegt an der Situation an der Grenze - seit die Offensive in Nordirak begonnen hat, geht da gar nichts mehr. Früher fuhren am Tag 1.000 Laster über die Grenze, und zwar 1.000 in jede Richtung. Heute kommen pro Tag keine 20, 30 Fahrzeuge mehr rüber. Die Laster stecken drüben fest."

    Nebenan, bei der Firma Nursoy sieht es nicht besser aus. Das Unternehmen baut Wohnsiedlungen in den nordirakischen Städten Erbil und Süleymaniye, doch auf den Baustellen geht nichts mehr voran, weil die Firma mit den Betonlieferungen aus dem türkischen Sanliurfa nicht mehr nachkommt, erzählt die Dispatcherin Leyla:

    "Wir haben 25 Betonmischer, mit denen wir den Beton rüberschicken, die müssten die Tour normalerweise in drei Tagen machen, aber seit Monaten stehen sie auf dem Rückweg immer zehn, fünfzehn Tage an der Grenze, bis sie rüber sind - das bremst uns natürlich ganz stark. Und dann müssen wir die Unkosten der Fahrer bezahlen, während sie an der Grenze warten, ihr Essen und so - das drückt weiter auf den Gewinn. Eigentlich könnte unsere Firma wachsen, denn unsere Geschäfte in Nordirak gehen gut, aber wegen des Problems mit der Grenze läuft nichts mehr."

    Nicht nur ihre Firma, die ganze Stadt und die gesamte Grenzregion leiden unter der Situation an der Grenze, erzählt Leyla:

    "90 Prozent der Leute hier in Silopi sind arbeitslos, mein Vater zum Beispiel auch, alles wegen dieser Situation am Grenzübergang."

    Weit über Silopi hinaus reichen die verheerenden Auswirkungen. Auf einem einsamen Gehöft abseits der Straße, die von der Grenze über Silopi zur Kreisstadt Cizre führt, beklagt der Bauer Mehmet Zonguralp den Zusammenbruch des einzigen Wirtschaftsfaktors, den diese Region je gekannt hat:

    "Früher hatten die Leute hier Geschäfte, sie hatten Lokale, die Lastwagen kamen aus Nusaybin, aus Mersin, aus Antep vorbei, die Fahrer kauften hier ein und aßen hier, das war gut - jetzt gibt es nichts mehr davon. Viele unserer Nachbarn sind schon fortgegangen, um Arbeit zu suchen, nach Istanbul, in die Haselnussplantagen an der Schwarzmeerküste, selbst nach Osten sind einige gegangen. Erst heute sind wieder welche aufgebrochen, nach Izmir wollen sie, ein ganzer Lastwagen voller Leute ist heute aus Silopi losgefahren."

    Zwischen Schafen und Hühnern steht auf dem Hof von Bauer Zonguralp ein riesiger Tanklastwagenanhänger herum, ziemlich angerostet und sichtlich nutzlos. Eine traurige Erinnerung an bessere Tage, sagt der Bauer:

    "Damit sind wir früher immer in den Irak gefahren, aber jetzt lassen sie so alte Lastwagen nicht mehr zu. Früher hatte hier jeder einen alten Laster vom Schrottplatz, unsere Frauen haben ihren Brautschmuck verkauft, und wir haben uns alle einen Schrottlaster gekauft und sind damit über die Grenze hin- und hergefahren, da war das Leben gut. Aus Silopi, Cizre, Nusaybin kamen sie mit ihren Lastern, selbst die Armen konnten sich einen Wagen vom Schrotthändler holen, und alle fuhren damit nach Nordirak. Jetzt ist das alles vorbei."
    Und das liegt weniger am PKK-Krieg und dem Stillstand an der Grenze, sondern vielmehr an der Europäisierung der Türkei. Per Gesetz verfügte das türkische Parlament vor zwei Jahren die schrittweise Stilllegung von allen Lastwagen, die mehr als 25 Jahre alt sind - eine viertel Million Schrottlaster wurde damit von den Straßen der Türkei gefegt. Ein großer Gewinn für die Verkehrssicherheit im Land, aber ein schwerer Schlag für den kleinen Grenzverkehr mit dem Irak. Bauer Zonguralp blickt bekümmert auf seinen Tanker:

    "Jetzt steht das Ding halt hier auf dem Hof rum. Das ist jetzt nur noch Schrott. Früher hatten wir dazu natürlich noch die Zugmaschine, für die haben wir vom Schrotthändler gerade noch 1.000 Lira bekommen nach dem neuen Gesetz. Eine neue Zugmaschine würde 70.000 Lira kosten, so viel Geld hat hier kein Mensch. Deshalb können wir nicht mehr in den Irak fahren. Jetzt fahren nur noch die großen Leute in den Irak."

    Dass das Geschäft mit Nordirak, soweit es überhaupt noch zu machen ist, an der verarmten Grenzregion vorbeigeht, das beklagen auch die örtlichen Behörden. Verdient werde an dem Grenzhandel nur im Westen, klagt Halit Zeybek, der Vizebürgermeister der Kreisstadt Cizre:

    "Drüben in Nordirak wird ja groß gebaut, deshalb kaufen sie viel Stahl und Zement aus der Türkei, außerdem Kleidung und Lebensmittel. Aber das allermeiste davon kommt aus dem Westen des Landes, aus Ankara, Kayseri und so, wo es massenhaft Fabriken gibt - dort profitieren sie viel mehr vom Handel mit Nordirak als wir hier an der Grenze."

    Fabriken und Arbeitsplätze brauche die Grenzregion, meint Zeybek, und vor allem Frieden und politische Unterstützung:

    "Wenn in Silopi eine Freihandelszone gegründet werden könnte, das wäre gut, dann würde der Grenzhandel aufblühen. Es wird immer mal wieder darüber gesprochen, aber konkret ist noch nie etwas passiert. Wenn diese politische Krise mal überwunden werden könnte, dann würde hier alles viel besser."

    Darauf hoffen nicht nur die Menschen auf der türkischen Seite. Auf der irakischen Seite des Grenzübergangs werden die Lastwagen aus der Türkei zügig abgefertigt; in der Grenzstadt Zakho ist alles zugepflastert mit Werbung für türkische Marken. Bessere Wirtschaftsbeziehungen wären auch für die Menschen auf dieser Seite der Grenze existenziell wichtig, sagt Abdulvahab Barzani, der Sicherheitschef der irakischen Grenzstation:

    "75 bis 80 Prozent aller unserer Importe hier in Irakisch-Kurdistan kommen aus der Türkei. Mehr als 600 türkische Unternehmen sind hier bei uns angesiedelt. Eine Freihandelszone im Grenzgebiet wäre sehr wünschenswert. Auch die türkische Regierung hat inzwischen eingesehen, dass die Probleme hier nicht militärisch zu lösen sind, im Gegenteil: Wir brauchen mehr gemeinsamen Handel."