Freitag, 19. April 2024

Archiv

Buch der Woche
Anthony Ryan: Das Lied des Blutes

Anthony Ryans setzt in seinem Fantasy-Roman auf bewährtes Material aus dem Motivkatalog des Genres. Doch mit Fabelwesen geht der Autor durchaus sparsam um. Drachen, Phönixe, Basilisken und anderes übernatürliche Getier sucht man vergebens, meint unser Rezensent Hartmut Kasper.

Von Hartmut Kasper | 14.12.2014
    Zwei Schwerter in einem Fachgeschäft für Fantasy-Bedarf des Alexa Shopping Centre in Berlin.
    Vaelin, der Protagonist in "Das Lied des Blutes" ist das erste Schwert des Königs (imago/epd)
    Wer in Buchläden an den größeren und schwer beladenen Verkaufstischen vorbeiflaniert, dem fallen immer wieder Titel ins Auge wie "Das Lied von Eis und Feuer" von George R. R. Martin, "Das Lied der Erde" von Elspeth Cooper, "Das Lied der Dunkelheit" von Peter V. Brett oder "Das Lied der Dämonen" von Wolfgang Thon.
    Dekoriert sind die hoch gestapelten Titel dieser sangeslustigen Gattung in einem weitgehend einheitlichen Gepräge: ein Schwert, ein Pferd, ein Wappen, ein Mann in einer mediävistischen Tracht.
    Unter 700 Seiten tun es diese Bücher selten.
    Das ist beim neuesten Fantasy-Lied, dem "Lied des Blutes" von Anthony Ryan, nicht anders.
    Selbstverständlich wartet auch dieses Werk mit einer Landkarte auf. So lässt sich dem Weg seines Helden, der nach altem Brauch auch Lebensweg ist, leichter folgen. Das gezeichnete Gefilde ähnelt umrisshaft den britischen Inseln. Die von Ryan ausgedachten Länder heißen Renfael, Nisrael, Cumbrael und Asrael, und wer von Asrael aus Richtung Süden in See sticht, fährt über eine Erineische See zum Alpiranischen Reich, woselbst ein Kaiser regiert, während auf der Insel bloß ein König das Sagen hat. Fährt man mit dem Finger Richtung Norden, stößt man auf den Nordwald, hinter dem sich die Nordlande erstrecken. Noch höher im Norden liegt ‒ wie ein einzig wuchtig Wort verkündet ‒ Packeis.
    Anthony Ryan wurde 1970 hoch im Norden der britischen Inseln, in Schottland nämlich geboren; er hat aber seit vielen Jahren in London gelebt und gearbeitet ‒ und zwar im Öffentlichen Dienst. Damit ist er Vaelin, dem Helden seines Romans, nicht ganz unähnlich.
    "Das Lied des Blutes" ist die Geschichte von Vaelin Al Sorna, Sohn Kralyk Al Sornas, des Ersten Schwerts des Königs, ehemaligen Kriegsherren und Anführers des königlichen Heeres, und der Heilerin Ildera Vardrian; die Geschichte eines Mannes, der als Kind schon von seinem kriegsherrlichen Vater in die Obhut eines kriegerischen Ordens gegeben und daselbst seitdem zum wackeren und listenreichen Krieger ausgebildet wird, der später von seinem König Janus zum Dienst bestellt, das heisst zum Befehlshaber berufen wird und der für diesen König in einen Krieg zieht, wie er sinnloser und unbedingter kaum sein könnte.
    Vaelin Al Sorna, der große Krieger
    Vaelin zeichnet sich in diesem großen Waffengang für seinen König aus, nicht anders als in den zahllosen Schlachten und Scharmützeln zuvor. Ohne es zu wissen oder eigentlich zu wollen, bringt er in einem Gefecht den designierten Thronerben des Alpiranischen Kaiserreichs ums Leben.
    Da dieser vorbestimmte Nachfolger die Hoffnung des Kaiserreichs verkörpert hat, bezeichnen die Alpiraner Vaelin nunmehr als "Hoffnungstöter".
    Am Ende des Feldzugs wird Vaelin von seinem Dienstherren, dem König, verraten und muss sich in Gefangenschaft begeben.
    Der Kaiser des Alpiranischen Reiches verurteilt Vaelin zum Tode ‒ gewissermaßen jedenfalls: Vaelin soll sich einem Zweikampf stellen, einem Schwertduell mit einem Piraten.
    Dieser Pirat gilt als unüberwindlicher Soldat, und er wird den Zweikampf mit viel Eifer bestreiten. Denn sein Vater ist vor Jahren vom Vater Vaelins getötet worden.
    Nun ‒ zu Beginn des Romans und etwa ein halbes Jahrzehnt nach seiner Festnahme ‒ ist Vaelin auf dem Weg zur Pirateninsel.
    Während der Schiffspassage erzählt er seine Lebensgeschichte dem mitreisenden Lord Verniers Alishe Someren. Der Lord lauscht interessiert, denn er ist kaiserlicher Geschichtsschreiber, ein wissensdurstiger Mann. Und er hat eine Monografie verfasst über den von König Janus vom Zaun gebrochenen unseligen Krieg.
    Nun bietet das Gespräch mit Vaelin ihm Gelegenheit zu erfahren, wie es wirklich gewesen ‒ oder wenigstens: Wie die Gegenseite die Geschehnisse sieht.
    Historikerfigur als Ich-Erzähler
    Der Historiker Lord Verniers tritt in einer Rahmenerzählung als Ich-Erzähler auf; Vaelins Biografie wird zu einer einzigen Retrospektive. Dass die Geschichte, die Vaelin dem Historiker vorträgt, in manchem Detail nicht wahr ist und in Vaelins Sinn gefiltert wird, erfährt dieser Ich-Erzähler nicht, wohl aber der Leser.
    Warum die Geschichte auktorial und damit am Ich-Erzähler vorbei erzählt wird, ist eines der Mysterien dieses mit Rätseln nicht knausernden Buches.
    Möglich aber, dass wenigstens diese Denksportaufgabe in den Folgebänden gelöst wird. Handelt es sich beim "Lied des Blutes" doch nur um den ersten Teil einer geplanten Trilogie über das Leben und die Abenteuer von Vaelin.
    Vaelin und Lord Verniers Alishe Someren – klangvoll sind die Namen der Helden wie der Schurken in dieser Romanwelt, reich an Vokalen wie an Attributen. Aluran Maxtor Selsus ist der Kaiser, Seliesen Maxtor Aluran die besagte Hoffnung des Reiches.
    Lakrhil Al Hestian kommandiert als Oberhauptmann das siebenundzwanzigste berittene Regiment des Königs, sein Sohn Linden Al Hestian das fünfunddreißigste Fußregiment. Man ist Kaiser, König, Lord oder ‒ wenn man denn einem der Orden vorsteht, von denen die Geschichte auch erzählt ‒ Aspekt.
    Klangvoll sind jedenfalls die Namen der hohen Damen und Herren. Die Namen der vielen anderen Schlagetots, Diebe und Huren bleiben dagegen ihrem Stand angemessen kurz und knapp.
    Vaelin wächst also im sechsten Orden auf. Seine Lehrmeister sind Erzieher, die von den heutzutage angesagten didaktischen Methoden entweder nie gehört haben oder wenig halten: Gruppenpuzzle, Rollenspiel, Partnerarbeit – alles Fehlanzeige:
    Der Unterricht ist eher traditionell frontal und sieht beispielsweise bei Meister Grealin so aus:
    Am Ende jeder Unterrichtsstunde stellte Grealin ihnen Fragen über das, was sie soeben gehört hatten. Wer sie richtig beantworten konnte, wurde mit Süßigkeiten belohnt. Wer die Antwort nicht wusste, erntete ein trauriges Kopfschütteln oder eine enttäuschte Bemerkung. Meister Grealin war von allen Meistern am wenigsten streng. Er schlug sie nie mit dem Rohrstock, sondern bestrafte sie nur mit Worten und Gesten.
    Naturbursche statt Zivilisationsgebrechling
    Andere Pädagogen des Ordens sind da nicht so zimperlich.
    Wer bei den Prüfungen versagt, wird aus dem Orden verstoßen ‒ wenn er, was nicht garantiert ist, diese Prüfungen denn wenigstens überlebt hat.
    Eigentlich müsste ich wütend sein, dachte Vaelin. Wir sind noch Kinder, und diese Prüfungen bringen uns um. Doch statt Wut empfand er nur Erschöpfung und Trauer.
    Für eine Prüfung werden die Zöglinge auch schon einmal in der winterlichen Wildnis ausgesetzt und müssen dort um ihr Leben kämpfen, gegen Kälte, Hunger, Tiere. Und Meuchelmörder.
    Gut, wenn man wie Vaelin kein Zivilisationsgebrechling ist, sondern ein rechter Naturbursche:
    //Er öffnete seine Ohren für die Stimme des Waldes, das Seufzen des Windes, das Rascheln der Blätter, das Knarren der Äste. Kein Vogelgezwitscher. Das bedeutete, jemand war ganz in der Nähe. Es konnte ein Mensch sein oder auch mehrere. Er wartete auf das verräterische Knacken von Zweigen (...), aber nichts war zu hören.
    (...) Vaelin besaß noch andere Sinne, und der Wald konnte ihm viele Dinge verraten. Er schloss die Augen und atmete leise durch die Nase ein.
    Er (...) nahm die Gerüche von blühenden Glockenblumen wahr, von verrottenden Pflanzen, von Tierdung ... und von Schweiß. Von menschlichem Schweiß.//
    Das ist für einen wie Vaelin Spur genug:
    Er (...) spannte in einer fließenden Bewegung den Bogen und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen (...). Er wurde von einem überraschten und schmerzerfüllten Knurren belohnt.
    Harte Schule des 6. Ordens
    Vaelin geht dem Knurren nach.
    Der Mann trug schmutziggrüne Hosen (...). Vaelins Pfeil ragte ihm aus seiner Kehle. Er war tot.
    Die harte Schule des sechsten Ordens zieht die Kinder zu professionellen Soldaten heran, drillt und ertüchtigt sie. Ziel und Zweck der heiligen Einrichtung sind unverhüllt und klar:
    Der Glaube ist die Quelle all unserer Stärke, doch unser Dienst am Glauben erfordert Stahl. Mit Stahl ehren wir den Glauben. Stahl und Blut – das ist eure Zukunft.
    Stahl und Blut und Glaube ‒ dieser Dreiklang bestimmt die Ausbildung Vaelins in seinem Orden, dem militantesten der sechs heilsgewissen Bruderschaften, die in den Vereinigten Königslanden zum Nutz und Frommen des Glaubens unterwegs sind.
    Dieser sechste Orden schlägt Schlachten, verfolgt Ketzer und was dergleichen gottgefälliges Tagwerk mehr ist.
    Die anderen Orden widmen sich anderen guten Werken. Der zweite Orden beispielsweise steht ganz im Zeichen von "Besinnlichkeit und Erleuchtung"; in den Stuben des dritten Ordens hocken die Kartografen, "Schreiberlinge und Büchersammler"; der fünfte Orden hilft und heilt und macht den Sanitätsdienst.
    Sieben bleibt die magische Zahl
    Während einer Art Praktikum beim Fünften Orden lernt Vaelin dort die Heilmeisterin Sherin kennen ‒ und mehr schätzen, als sein Zölibatsgelübde ihm erlaubt.
    Sechs Orden also, die mit König Janus um die eigentliche Macht im Königreich wetteifern.
    Sechs Orden? Sind es in unseren Sagen nicht immer die glorreichen sieben Zwerge, sieben Horkruxe, sieben Samurai?
    Natürlich.
    Im Lauf der Geschichte verdichten sich denn auch die Hinweise, dass es vor Jahrhunderten ‒ also in der Vorgeschichte dieser vorgeschichtlichen Welt – einen siebenten Orden gegeben hat, eine ebenso fantastische wie geheimnisumwitterte Bruderschaft:
    Der siebente Orden (...) war der Orden des Dunklen; seine Brüder und Schwestern tauchten in die Geheimnisse der dunklen Gabe ein, auf der Suche nach Macht und Wissen (...) Der siebente Orden wurde immer mächtiger und benutzte seine Kenntnisse der dunklen Gabe dazu, sich als Herrscher über die anderen Orden aufzuschwingen. (...) Deshalb kam es zum Krieg unter den Gläubigen, und am Ende wurde der siebente Orden vernichtet. Mit großem Blutvergießen.
    ‒ wie auch sonst in einem Buch, das "Lied des Blutes" heißt.
    Was es nun mit der dunklen Gabe auf sich hat ‒ nun:
    Die Mitglieder des Ordens behaupteten, durch ihr Wissen den Ahnen näher zu sein, ihre Stimmen zu hören.
    Der von den Orden des Königreichs vertretene Glaube stellt sich nämlich vor, die Seelen der Ahnen hätten sich nach ihrem Tod nicht verflüchtigt, sondern in ein Jenseits verfügt. Dort ginge es ihnen gut, und sie würden mit den lieben Lebenden gerne im Gespräch bleiben.
    Die andere Welt, das Totenreich
    Gegen Ende des Romans wird dem Helden von einem, der es wissen muss, einem Wiedergänger aus dem Totenreich nämlich, berichtet, dass jene andere Welt tatsächlich existiert und auch die abgeschiedenen Seelen dort hausen, ja ‒ aber dieses Jenseits sei leider alles andere als das ausgemalte Paradies; es sei ein grauenvoller Ort, schmerzerfüllt und hoffnungslos.
    Und, ja: Kontakte zwischen Hüben und Drüben sind möglich.
    Denn auch in diesem Roman gilt: Zauber ist Realität. Und so verfügt ‒ man ahnt es – auch Vaelin über eine magisch-dunkle Gabe, eine außersinnliche Wahrnehmung und übernatürliche Kraft: Er hört das titelgebende "Lied des Blutes".
    Das Lied des Blutes schwoll in ihm an, eine neue Melodie, weit stärker und klarer als zuvor. (...) die Musik wurde von Bildern begleitet, von Geräuschen und Gefühlen, von denen er wusste, dass es nicht die seinen waren. Er begriff, dass er zum ersten Mal wirklich über das Lied gebot ... dass es ihm endlich gelang zu singen.
    Das Lied des Blutes ‒ das ist so etwas wie eine innere Stimme:
    Mal warnt sie ihn vor Gefahr, vor ruchlosen Attentätern; mal verschafft sie ihm telepathische Einblicke in die Gedanken anderer Menschen.
    Mal rüstet das Lied ihn unversehens mit neuen Fertigkeiten aus, macht ihn beispielsweise zum Bildhauer.
    Das Lied leitet ihn, begleitet ihn, ist zugleich Soundtrack und Leitmotiv seines Lebens.
    Dabei ist Vaelin nicht der einzige, dem eine metaphysische Stimme ein Lied singt:
    Da gibt es Ahm Lin, einen Steinmetz in einer von Vaelin eroberten Stadt, der zum Mentor des jungen Helden wird.
    Ein Wolf mit dunklen Gaben
    Und da gibt es ‒ vielleicht die ungewöhnlichste Figur des Romans ‒ einen Wolf, ebenfalls mit der dunklen Gabe ausgerüstet, der die finsteren Wälder durchstreift und Vaelin wenn nötig vor noch finstereren Mordgesellen rettet, die, Vaelin weiß vorläufig nicht, warum, ihm nach dem Leben trachten.
    Nach und nach gewinnt Vaelin unter den Mitschülern Mitstreiter, dann Freunde ‒ außerdem ein Pferd, Speier geheißen und laut Personenverzeichnis sein "übellauniges Schlachtross".
    Schließlich einen Hund, Bosko, der jeden jetztzeitigen Kampfhund in den Schatten stellt.
    Vor Vaelin kuscht er, wie sich versteht.
    Hund und Ross und Reiter, dazu die Gabe eines weissagenden Gesangs ‒ was braucht es mehr für einen zünftigen Fantasy-Helden?
    Vielleicht eines noch: das Auserwähltsein.
    Und siehe da ‒ tatsächlich entpuppt sich Bruder Vaelin als Auserwählter; seine Ankunft und sein Wirken ist Gegenstand einer ur-alten Prophezeiung, er ist nicht nur Ordensbruder und Hoffnungstöter, sondern auch noch ...
    ... die Schwarzklinge. Vor vielen Jahrhunderten hat einmal eine Seher von einem nahezu unbesiegbaren Schwertkämpfer und Ketzer gesprochen: (...) An seiner Klinge werdet ihr ihn erkennen, denn sie ist in einem unnatürlichen Feuer geschmiedet und von der dunklen Gabe gelenkt.
    Vaelin, der nun also angekommen ist, erweist sich jedoch weder als strahlender Held noch als tumber Killer. Das Töten ist ihm keine Lust, sondern bloßes Handwerk.
    Er leidet viel: Am Verlust der verstorbenen Mutter, am Verlust vieler Kameraden, vor allem aber daran, dass sein Vater ihn dem Orden übergeben, ja ausgeliefert hat.
    Er denkt; er zweifelt; er zieht Konsequenzen.
    "Das Lied des Blutes" erzählt eine durchaus beflecktere Version jener heroischen Tage der Fantasy-Vorzeit.
    Ryans Helden sind ‒ von den allerliebsten und selbstlosen Heilerinnen des fünften Orden wie Sherin einmal abgesehen ‒ keine Lichtgestalten. Selbst der König, dem Vaelin dient, hat nichts Elbenhaft-Reines an sich, sondern er ist ein verschlagener Typ und begnadeter Intrigant.
    In einem Interview, das Anthony Ryan am 2. Juli 2013 dem Internet-Literaturblog The Qwillery gegeben hat, antwortet er auf die Frage, welche Figur ihm am leichtesten von der Hand ging:
    Vaelin ist der Hauptcharakter (..) Aber wie auch immer: Den meisten Spaß hatte ich mit den Passagen über König Janus, diesen furchtbaren alten Ränkeschmied.
    Auch Vaelins Mitschüler und seine Feinde werden nicht schlicht schwarz-weiß gezeichnet. Da sind die vielen Ordensleute, die Adligen, zahllose Krieger ‒ die meisten von ihnen mit Dreck am Stecken, Hintergedanken und dunklen Familiengeheimnissen.
    Ferner treten auf: Trunkenbolde, Gesetzlose, Diebe mit dem Herzen am rechten Fleck, Hurensöhne und Hurentöchter ‒ berufliche Werdegänge also, wie man sie in den Berichten über das Auenland noch kaum vernahm.
    Am Ende des Romans legt Vaelin das Schwert nieder, des Tötens überdrüssig. Insofern könnte man bei diesem Roman von dem Fantasy-Äquivalent zu einem bürgerlichen Bildungsroman reden, mit durchaus kritischer Haltung den vielen Schwertkämpfen und Schwertkämpfern gegenüber.
    Robuste Charakterisierung
    Womit ich aber nicht behaupten will, dass der Autor profunde psychologische Studien vorlegt. Insgesamt nämlich bleibt der Stil der Charakterisierung eher robust:
    //Hinter den Berittenen tauchte ein Trupp Fußsoldaten der Schwarzen Falken auf. (...) Ein paar von ihnen (...) warfen Vaelin dabei hasserfüllte Blicke zu. (...) Die Augen des Reiters verengten sich, doch seine wütende Miene blieb unverändert. (...) Einer der Schwarzen Falken spuckte mit vor Wut gerötetem Gesicht aus. (...) Die wütenden Mienen der anderen Falken überzeugten Vaelin davon, dass sie ihn (...) alles andere als zivilisiert behandeln würden.
    (...)Vaelin warf einen Blick in Richtung des Oberhauptmanns. Dieser (...) zitterte förmlich vor Wut: »Du da!« Er deutete auf einen Kavalleristen. »Such Hauptmann Hentil. Er soll seine Kompanie herbringen.«
    »Eine ganze Kompanie! (...) Ihr erweist uns eine hohe Ehre, Herr!«
    Ein paar Leute in der Menge lachten, was Al Hestian erst recht zur Weißglut brachte.//
    Ja, so sind sie, jedenfalls die meisten von Vaelins Widersachern: hasserfüllt und mit einem vor Wut mal weiß-, mal rot-, Hauptsache glühendem Gesicht.
    Keine Frage: Anthony Ryan vermag, bewährtes Material aus dem Motivkatalog der Fantasy sach- und fachgerecht in eine eigene Erzählung einzubinden und sie sprachlich gefällig zu verfugen.
    Mit Fabelwesen geht der Autor durchaus sparsam um. Drachen, Phönixe, Basilisken und anderes übernatürliche Getier sucht man vergebens.
    Immerhin gibt es diesen telepathischen Wolf, der durch die Wälder geistert und Vaelin gegebenenfalls zu Hilfe eilt.
    Insgesamt aber wirken Tier- und Pflanzenwelt realitätsnah, scheint Vaelins Kosmos keine rundum fantastische Anderwelt zu sein, sondern etwas wie ein nur leicht verwunschener Seitenzweig zum europäischen Mittelalter.
    Das Ensemble besteht aus Figuren, die nicht mehr so eindeutig und unvermischt gut oder böse, liebens- oder hassenswert erscheinen wie einst die Bewohner von Mittelerde; dafür fehlt ihnen jedoch die reiche Bandbreite an Tönen, mit denen Tolkien seine Geschöpfe begabt hat.
    Ryans Figuren erreichen auch bei Weitem nicht die psychologische Tiefenschärfe, wie sie beispielsweise ein Patrick Rothfuss in seiner Königsmörder-Chronik den Gestalten verleiht.
    Und wenn Vaelin aus dem sechsten Orden mit seiner geliebten Sherin aus dem fünften Orden nach langen Jahren des Schmachtens endlich den Zölibat miteinander brechen, dann wird weichgezeichnet und schöngeredet, was das Zeug hält:
    //Nächtens schlich sich Sherin zu ihm, und wenn sie einander liebten und hinterher aneinandergeschmiegt dalagen, empfand er große Erleichterung. Manchmal weinte sie (...)
    Seine Hand strich über die glatte Stirn, über die sanfte Rundung ihrer Wange und die anmutige Linie ihres Kinns. Es war wundervoll, ihr Gesicht zu berühren und zu spüren, wie sie jedes Mal erschauerte, bevor ihr die Röte in die Wange stieg. »Denk an mein Versprechen, Liebste«, sagte er und tupfte mit dem Daumen eine Träne aus ihrem Auge.//
    Sollte Vaelin, der kriegsmüde Krieger, am Ende auch noch Romantiker, sollte diese Art von mittelalterlich-mirakelhaft kostümierter Dichtung einfach romantisch sein?
    Immerhin: Seit Alters her hat romantische Literatur sich ja auf die Fahne geschrieben, Sehnsucht zu wecken, und Sehnsucht weckt "Das Lied des Blutes" allemal ‒ und sei es nach einem Roman, dessen Helden einmal über keine dunklen Gaben verfügen, sondern zum Beispiel Versicherungsvertreter sind, Verwaltungsinspektorinnen und Supermarktkassierer, Sehnsucht nach einem einfach nur alltagsprallen Erzählen; in der Schlange an der Kasse werden dann keine Schwerter, sondern allenfalls Payback-Karten gezückt, und niemand drängelt sich vor, schon gar kein Auserwählter.
    Und gesungen werden müsste das selbst auch nicht unbedingt.
    Anthony Ryan: "Das Lied des Blutes"
    Aus dem Englischen von Sara und Hannes Riffel.
    Klett-Cotta 2014, 775 Seiten, 24,95 Euro.