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Buch der Woche: "Siegfried Unseld"
Der bedeutendste Verleger unserer Zeit

Er war ein Titan der deutschen Nachkriegsliteratur: Siegfried Unseld hatte als Angestellter des Suhrkamp Verlags begonnen, am Ende war er zum Großverleger geworden. Zwölf Jahre nach dem Tod Unselds hat Suhrkamp seine prächtig bebilderte Lebens- und Wirkgeschichte herausgegeben. Es ist auch die Biografie eines deutschen Lebens im 20. Jahrhundert.

Von Roland H. Wiegenstein | 01.02.2015
    Ein schwerer, 335 Seiten starker Leinenband. Beim ersten Anschauen des sorgfältig "gestalteten" opulenten Buchs ist man zunächst an etwas gemahnt, das im Englischen "coffeetable-books" genannt wird, an jene meist bunten, aufwändig bebilderten Bände, die auf den kleinen Tischchen in Wohnzimmern der bürgerlichen Gesellschaft liegen und von Bildung zeugen: Bänden etwa über Venedig, Palladio oder Christopher Wren. Etwas dergleichen muss Raimund Fellinger und Matthias Reiner, den beiden Herausgebern auch im Hinterkopf gespukt haben, als sie begannen, das Buch zu konzipieren und zu lektorieren, das nun vorliegt: "Siegfried Unseld - Sein Leben in Texten und Bildern".
    Wenn man es aufschlägt, durchblättert, die Texte zu den Fotos liest, wird man die angelsächsischen Vorbilder bald vergessen: Hier geht es um etwas anderes, sehr viel Triftigeres, die bebilderte Lebens- und Wirkgeschichte eines Titanen der deutschen Nachkriegsliteratur, eben jenes Siegfried Unseld, der von 1924 bis 2002 lebte.
    Ein deutsches Leben: Geboren 1924 als Sohn eines mittleren Verwaltungsangestellten in Ulm, Grundschule und Realgymnasium, Fähnleinführer des nationalsozialischen Jungvolks, ab 1942 Marinesoldat an der Ostsee und am Schwarzen Meer, den Russen schwimmend entkommen, die letzten Tage des Dritten Reichs Funker in Admiral Dönitz Kommandozentrale in Flensburg, für kurze Zeit Kriegsgefangener und Dolmetscher bei den Engländern, nach seiner mit Glück erfolgten Entlassung Rückkehr nach Ulm, nachgeholtes Abitur und kleine Rezensionen über in Deutschland damals erst entdeckte ausländische Autoren für eine schwäbische Zeitung.
    Zitat: "Der Mitherausgeber und Feuilletonchef der 'Schwäbischen Donau-Zeitung' Kurt Fried war es, der mich zum Schreiben aufforderte, ständig dazu anhielt, der mein Geschriebenes mit mir durchsah und Korrekturen besprach, und der es dann veröffentlichte, also öffentlich machte. Ich traf ihn in Ulm im Herbst des Jahres 1946 bei Aufführungen von Sartre und Camus im provisorischen Theaterraum des Hauses Wieland und später auf der Bühne, die ebenfalls behelfsmäßig in der durch Bomben unverletzten Wagnerschule eingerichtet wurde. Diese 'Städtische Bühne' hatte trotz (oder wegen) dürftiger äußerer Umstände ein qualitatives, den Zeitproblemen sich stellendes Programm und entfaltete in den Pausengesprächen und anschließenden Diskussionen eine ungemein wichtige kommunikative Wirkung. In solchen Gesprächen hat sich Kurt Fried, der rassisch Verfolgte, mir, dem in Nazijahren Ausgebildeten und einstigen Kriegsteilnehmer zugewandt. Fried schuf einen kleinen Kreis junger Leute, die sich nicht (schon wieder!) 'umerziehen' lassen, sondern sich selbst das ihnen freilich noch unbekannte demokratische Bewusstsein entwickeln wollten und berieten, wie nun und jetzt zu handeln, zweckvoll zu tun und wie öffentlich zu wirken sei. Kurt Fried war in diesem Kreis als Ältester und Erfahrener die treibende Kraft."
    Die Liste der Autoren ist länger als eine Zeitungsseite
    Unseld arbeitet in einem kleinen Verlag, wo er das Buchhandelsgewerbe lernt, ab 1947 Student in Tübingen, nach sieben Semestern an der Philosophischen Fakultät 1952 Doktorarbeit über einen zeitgenössischen Autor: Hermann Hesse - als Thema damals ungewöhnlich - gleichzeitig Arbeit in einem wissenschaftlichen Verlag, dank eines Aufsatzes über eben jenen Hesse (den er diesem schickt) Kontakt zu dessen Verleger, der ihn anstellt.
    So beginnt die Karriere des Siegfried Unseld, dem einige seiner langjährigen Weggefährten nun, zwölf Jahre nach seinem Tod diesen Bild- und Textband gewidmet haben, denn aus dem Angestellten des Suhrkamp Verlags war inzwischen der Großverleger Unseld geworden, der aus dem kleinen, feinen Suhrkamp Verlag gemacht hatte, was heutzutage, nach der Definition des gelehrten George Steiner, veröffentlicht im März 1973 im "Times Literary Supplement" die "Suhrkamp Kultur" heißt. Unseld hat stets darauf bestanden, nicht Bücher zu verlegen, sondern Autoren: und was für welche! Brecht und Hesse waren schon bei Suhrkamp und blieben dort, als sich der S. Fischer Verlag, als dessen Verwalter sich Suhrkamp immer gesehen hatte, von diesem trennte und zur Übereinkunft die freie Wahl für die Autoren gehörte, entweder bei Fischer zu bleiben oder zu dem neuen Suhrkamp Verlag zu gehören. Den hat Unseld, von dem aus dem Konzentrationslager zurückgekehrten kranken Peter Suhrkamp als Erbe eingesetzt, in den folgenden Jahren mit neuen Autoren unendlich erweitert: dank seiner Umsicht und seiner Kunst, diese Autoren, seien sie im Dritten Reich verfemt gewesen oder erst nach dem Krieg hervorgetreten, an sein Haus zu binden: die, die als Emigranten der deutschen Philosophie Weltrang verliehen: Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer zum Beispiel (unter vielen anderen), ihre bedeutenden Schüler wie Jürgen Habermas und deren Antipoden wie Sloterdijk. Doch mochte Unseld auch die Heroen verlegen: Er umgarnte oder entdeckte auch neue, die der Literatur nach dem braunen Ungeist wieder zu Ansehen verhalfen. Von Max Frisch und Wolfgang Koeppen über Uwe Johnson und Martin Walser bis zu Jürgen Becker, Hans Martin Enzensberger und Durs Grünbein. Die Namensliste ist länger als eine Zeitungsseite. Der Suhrkamp Verlag hat James Joyce verlegt, den hierzulande verschollenen Marcel Proust mit einer neuen Übersetzung erst ins öffentliche Bewusstsein gerückt; er hat die Deutschen mit Samuel Beckett bekannt gemacht und mit vielen lateinamerikanische Autoren, mit Carpentier, Llosa, Lezama Lima, aber auch die stets bestsellerverdächtige Isabel Allende.
    Es gehört zu den Kennzeichen des Verlags, auf fremdsprachige Autoren und ihre sorgfältige Übersetzung Wert zu legen, bis hin zu fast idiosynkratischen, teuren Unternehmungen, etwa der Neuübersetzung von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", die als gut galt, etlichen Philologen und Proust-Forschern aber nicht genügte: Also ließ der Verlag eine neue machen. So wie er auch Ausgaben wichtiger ausländischer Autoren bei Neuauflagen genauen Korrekturen unterzieht, wo es der Zeitstil erfordert.
    Verlagszentrale von Suhrkamp in Berlin
    Die Frankfurter Institution sitzt inzwischen in Berlin (picture alliance / dpa / Foto: Maurizio Gambarini)
    Wir müssen das Buch als Biografie nehmen, eine gelungene zudem, mindestens so lange, bis ein beschlagener Autor alle, und nicht nur die so bebilderten privaten und verlegerischen Taten und Ereignisse ans Licht holt. Unseld hat in "Chroniken", die er seit 1970 systematisch führte, um seine Mitarbeiter über Begegnungen mit Autoren, und andere Verhandlungen, die er geführt hatte, zu unterrichten, Rechenschaft abgelegt, Band 1970 liegt bereits vor. "Bilder und Texte" sind gleichsam ein repräsentativer Vorgriff, der den Verleger in der Öffentlichkeit zeigt: bei Feierstunden, auf dem Podium des Kantatesaals in Frankfurt, am Pult bei eigenen Vorlesungen, im Kreis seiner Autoren etwa bei Tagungen der "Gruppe 47". Es gab viele Anlässe, aufzutreten, er hat sie genutzt. Die Herausgeber des Buchs haben, was Unselds Privatleben betrifft, Diskretion walten lassen. Wir sollten ihnen dafür dankbar sein.
    Was nicht zwischen Hardcover-Deckel passte, das erschien regelmäßig in den Reihen: Edition Suhrkamp, Suhrkamp Taschenbücher, Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft und weiteren. Vor allem die "edition suhrkamp", inzwischen auf über 2.700 Bände angewachsen, hat mehr als jedes andere Druckerzeugnis der Zeit nach dem Kriege dazu beigetragen, deutsche Leser aus der selbstverschuldeten Ahnungslosigkeit zu befreien und den Jüngeren unter ihnen die Welt als eine von Widersprüchen, offenen Fragen, ungelösten Problemen zu erklären, die Versprechen der Aufklärung einzulösen und ihre Gefahren nicht zu verschweigen.
    Manchmal hat gerade diese Reihe zu heftigen Kontroversen geführt, zu Zunft-Querelen der beteiligten Professoren und ihren nun publizierenden Assistenten, aber auch politischen Protesten, wo Tabus gebrochen wurden, gab es Proteste. Nach dem Band 1.000 der "edition" und dem Ausscheiden des verantwortlichen Lektors Günther Busch sollte es gemächlicher zugehen, aber brav ist diese Reihe kaum je geworden, mag auch manches darin heute als von den Zeiten überholt gelten.
    Zum Erfolg der Reihen hat nicht wenig der bereits 1983 gestorbene Grafik-Designer Willy Fleckhaus beigetragen, der die Einbände und Umschläge entwarf, und dessen in den Farben des Regenbogens leuchtenden Buchrücken der "edition" überall wo sie in den Bücherregalen standen, andeuteten: "Aha, der ist einer von uns". In dieser Reihe erschienen auch die schmalen Bände des diesjährigen Büchner-Preisträgers Jürgen Becker, die zum Beispiel "Felder" oder "Ränder" heißen und in denen es stets auf so unverwechselbare Weise um Orte, Lebensorte geht. Blicke und Erfahrungen auf Leben und Zeit.
    Als Ergänzung zur "edition" hat Hans Magnus Enzensberger die Monatszeitschrift "Kursbuch" gegründet, jedes Heft hatte ein Hauptthema, man mischte sich ein und in den unruhigen Jahren der studentischen Revolten versuchten Enzensberger und Michel Kurs zu halten und der undoktrinären Linken ein paar nützliche geistige Mundvorräte zu offerieren. Aber je mehr diese Linke auseinanderfiel in doktrinäre Dogmatiker und Hedonisten, die die strenge Wissenschaft fröhlich wollten, desto weniger gab das Kursbuch den Ton an und verendete nach mehreren Verlagswechseln erst 2008.
    Schach und Schwimmen
    Unseld hat, Querelen hin und her, den Verlag erweitert, den traditionellen schönen Insel Verlag gekauft und weiter entwickelt, den Traditionsverlag des intelligenten Bürgertums, der unter Anton Kippenbergs Leitung sogar in barbarischen Zeiten und nicht nur mit seinem Autor Rilke, denen, die es wissen wollten, zu verstehen gab, dass es anderes gab als Aufmärsche, Gestapo und Krieg. Ich erinnere mich aus meiner Jugend, als der Gymnasiast, der ich war, dass ich das Straßenbahngeld für ein Inselbändchen ausgab und zu Fuß zur Schule ging.
    "Wenn ich recht sehe, weist die Entwicklung, die der Insel Verlag bisher genommen hat, vor allem auf folgende Ziele hin, die zum Teil beieinander liegen: der Weltliteratur im Goethe'schen Sinn zu dienen, dem Gehalt des Buches die Form anzupassen, den Sinn für Buchkunst und Buchluxus immer mehr zu heben und von der zeitgenössischen Literatur nur wenig, aber dafür nach Möglichkeit das Dauer Versprechende zu bringen."
    So steht es in einem Buch über den Insel Verlag und ist ein Verlegerzitat, womöglich von Kippenberg selbst, aber Unseld hat sich danach gerichtet. Für ihn blieben Goethe und natürlich Hesse Fixsterne, denen er, der Vielbeschäftigte, unermüdlich Reisende, Vorträge an weit entfernten Universitäten haltende Verleger sogar eigene Bücher, auch über Goethe abgerungen hat.
    Die Zukäufe, vor allem, die vom Rhein Verlag übernommenen Rechte von Proust und Hermann Broch, Adolf Portmann und Gerschom Scholem prägten das internationale Profil des Verlags, kennzeichneten sein intellektuelle Bedeutung, wenn auch kaum die kommerzielle. Die Erweiterungen sind in diesem Bildband alle präsent in den Fotos ihrer Protagonisten, die zusammengenommen ein treffliches Bild der geistigen Landschaft Deutschlands und Europas zeigen: man begegnet nicht ohne Anteilnahme bekannten Gesichtern und - wie sie altern, zusammen mit ihrem Verleger der - ein großer, breitschultriger Mann, dem man sah, dass er Sport trieb - bis zu seinem Tod das glatte Gesicht eines Alterslosen behielt, so wie es den Umschlag des Bandes schmückt. Man konnte den leidenschaftlichen Schwimmer an frühen Morgen im Freibad seine Runden drehen sehen, oder - als begeisterten Schachspieler beim Simultanschach mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Doch das 'königliche Spiel' hat er in einer Art Crash-Kurs auch Ingeborg Bachmann nahe gebracht, mit einigem Erfolg, wie er stolz bemerkt. Strategisch zu denken war stets seine Stärke - er hat sie immer wieder bewiesen.
    Aber er hat sich auch beraten lassen, vor allem von seinen Autoren, Frisch etwa und Enzensberger und Johnson, aber auch von seinem ewigen Antagonisten im Verlag selbst, dem blitzgescheiten, ironischen, umfassend gebildeten Walter Boehlich, von dem er sich dann doch im tiefen Streit trennte: das war Unverträglichkeit der Charaktere. Wie bei seinem Sohn Joachim, der gut ausgebildet im Metier des Vaters, gar Teilhaber geworden, an seinem Vaterkomplex scheiterte. Denn der meist verbindliche, gar ausgleichende Siegfried konnte auch hart und entschieden sein. So hat er den utopischen Aufstand seiner in der Tat glänzenden Lektoren abgewettert, eine bittere Auseinandersetzung, die er anderwärts, in dem "Chronik"-Band 1970 und im Briefwechsel mit Johnson aus seiner Sicht schilderte. Es war ein unvermeidliches, für den Suhrkamp Verlag nötiges Scheitern. Nachzugeben, in einer kapitalistischen Umwelt in einem Unternehmen eine gleichsam herrschaftslose Struktur zu überführen, das kam nicht infrage.
    Nahm ihn auch die Illustrierte "Stern" schon 1974 als "Herr der linken Dichter" wahr und charakterisierte ihn etwas schnöde: "Er muss vom Beruf her mit Intellektuellen zusammenarbeiten. Sein Fehler, dass er einer sein will."
    So war das einfach ungerecht. Denn er wurde vielen seiner Autoren, auch den linken unter ihnen, selbst wenn er sie manchmal harsch zurechtwies, oder wenn er nicht ganz verstand, wohin sie sich verirrten, zum kritischen Freund, gar zum lektorierenden Berater, so wie er vielen von ihnen finanzielle Unterstützung gab, auch wenn die Bilanzen stimmen sollten, das war er sich, seiner Einsicht und den Schweizer Teilhabern schuldig. Legendär sind seine großzügigen Stützungsaktionen: Die monatlichen Zahlungen an Wolfgang Koeppen, den Unseld ja in den Verlag geholt hatte, als der seine großen Romane schon geschrieben hatte und den Verleger phantasievoll über Jahre mit immer neuen, nie realisierten Projekten bei der Stange hielt oder der gar nicht so harmlose Zwang, mit dem er dem bitteren Uwe Johnson nicht nur die "Begleitumstände" abrang sondern den vierten, letzten Band der "Jahrestage", des womöglich bedeutendsten deutschen Roman in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts.
    "Für Bücher Bedürfnisse wecken"
    Einige der Bilanzen des immer größer gewordenen Unternehmens sind abgedruckt. Auch das Scheitern seines anspruchsvollsten Projekts, des "Deutschen Klassiker Verlags", auf 800 Bände angelegt, nach dem Vorbild der französischen "Pléiade" als Sammlung aller wichtigen deutschen literarischen Texte intendiert, musste nach dem Erscheinen von 193 Bänden eingestellt werden; immerhin die große Goethe-Ausgabe wurde fertig.
    Die besten Wissenschaftler des Landes wollte Unseld als Herausgeber gewinnen um Ausgaben zu erarbeiten, die für die nächsten Jahrzehnte maßgeblich wären. Das große, in den deutschen Verlagsgeschichte einmalige Unternehmen - Marcel Reich-Ranicki hat es einmal ein 'Jahrhundertprojekt genannt - in das so viel Geld und Energie und Liebe investiert worden ist, blieb Fragment, wenn auch ein gewaltiges.
    Die Kosten liefen davon, die Herausgeber lieferten nicht pünktlich - das tun Herausgeber selten - und nicht einmal das schöne Persia-Papier gab es noch. Der Papierproduzent, an amerikanische Investoren verkauft, stellt nun Teebeutel und Zigarettenpapier her.
    Gesamtausgaben, kritische womöglich, hat er auch anderen seiner Autoren, so sie es denn wünschten, zugestanden: Adorno, Kracauer, Bernhard, Cees Nooteboom. Und die werden nach dem Scheitern der Suhrkamp Klassiker fortgeführt, bis in unsere Jahre.
    All das kommt in diesem Prachtband vor - und vieles andere. Man sieht Fotografien so vieler öffentlicher Veranstaltungen zu Ehren seiner Autoren, man sieht Unseld mit den Schriftstellern, die seine Freunde wurden und begreift: dieser Verleger hatte nicht seinesgleichen in der alten Bundesrepublik und er brauchte nicht belehrt werden über das literarische Kapital, das in dem vorhanden war, was 1989/90 dazukam: Viele Autoren der DDR waren bereits in den Verlagsverzeichnissen verzeichnet, neue kamen hinzu: Heiner Müller etwa. Brecht hatte schon zu Suhrkamps Zeiten dazu gehört. In langwierigen Auseinandersetzungen mit den Erben und in Zusammenarbeit mit den Autoritäten der DDR konnte auch die große Brecht-Ausgabe in 30 Bänden erscheinen, nach der ersten zwanzigbändigen und neben den zahllosen Einzelausgaben des Suhrkamp Verlags. Zum 50. Geburtstag des Verlags, zwei Jahre vor seinem Tod hat er sein Credo, das eines allerwärts geachteten Verlegers, den selbst der scheue Samuel Beckett als eine Art von Freund gesehen hat, so formuliert: "Von allem Anfang an, wollte ich niemals vermutete Bedürfnisse erfüllen, ich wollte mehr - und so recht eigentlich bis zum heutigen Tag, für unsere Bücher Bedürfnisse wecken."
    Es ist ihm gelungen, der leidenschaftliche Leser, unermüdliche Sucher nach Büchern, die Bedürfnisse wecken, er hat ein erfülltes Leben gehabt und, wie es scheint, hat er auch alles getan, damit der Suhrkamp Verlag seinen Vorgaben weiterhin folgen kann. Die Zeichen stehen, nach ebenso absurden wie langwierigen Auseinandersetzungen dafür gut. Ein Erbe erscheint gesichert. Unseld als den bedeutendsten deutschen Verleger unserer Zeit zu bezeichnen, ist gerecht. Ein deutsches Leben das zu dem eines Weltbürgers wurde.
    "Siegfried Unseld - Sein Leben in Bildern und Texten"
    Herausgegeben von Raimund Fellinger und Matthias Reiner
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2014 , 335 Seiten, Leinen, 58 Euro