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Buchpreis zur Europäischen Verständigung an Hugo Claus

Man war ein bisschen erschöpft in Leipzig. Oder wollte sich entziehen. Wie um der hektischen Verbalisierung des Nichtwissens und der Streit-Hysterie im Fernsehen – gestern Abend bei Michel Friedmann in der ARD zum Beispiel – ein stummes Ausrufezeichen entgegenzusetzen, verweigerten sich zuletzt die Dichter. Jan Philip Reemtsma hatte sich beim Gespräch mit Imre Kertész in der Leipziger Stadtbibliothek dagegen verwahrt, den Literaturnobelpreisträger als Leitartikler zu missbrauchen und eine Diskussion über den Krieg abgebrochen, bevor sie angefangen hatte. Die Übersetzerin Barbara Antkowiak, frisch gekürte Trägerin des Anerkennungspreises, bemerkte bei der Preisverleihung im Alten Rathaus heute, ihr Text sei "noch im Frieden entstanden" und sie habe sich außerstande gesehen, etwas daran zu ändern. Sie berichtete mit subtiler Selbstironie über technische Probleme und kulturelle Kollateralschäden, welche die Übersetzerin in der DDR zu Zeiten zu gewärtigen hatte, als man, für einen Roman von Stanislaw Lem, "Rechenautomat" statt Computer zu sagen hatte oder in ein Flugzeug zusammen mit Uwe Seelers HSV geriet, weshalb einer der größten Schriftsteller Mitteleuropas 12 Stunden auf einen warten musste. Der Subtext dieser Rede allerdings war erschreckend: Schriftsteller und Übersetzer aus dem Osten, die Jahrzehnte im inneren Exil lebten, tun das offenbar auch heute noch.

Beitrag von Karin Fischer |
    Hugo Claus schließlich, der flämische Berserker des Wortes und Hauptgeehrte, der krank war und selbst nicht kommen konnte, schenkte der Gesellschaft eines seiner "querköpfigen" Gedichte; seine Frau Veerle Claus-De Wit las vor:

    Wer über den belgischen Schriftsteller Hugo Claus spricht, kommt über einige – manchmal auch zweideutigen – Superlative nicht herum. Ganz ohne Zweifel ist der Autor von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken, Drehbüchern, der Übersetzer, Maler, Zeichner und Regisseur der produktivste Schriftsteller, der modernste Lyriker und der am häufigsten gespielte Dramatiker seines Landes; er gilt aber auch als der am wenigsten prüde Zeitgenosse Belgiens, was etwas heißen will, und nicht zuletzt als einer der hartnäckigsten Anwärter auf den Literaturnobelpreis. In Deutschland kennen die wenigsten mehr als das Buch, das ihm jetzt, 20 Jahre nach seinem Erscheinen, auch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung einbrachte: Seinen Roman "Der Kummer von Flandern", der zwischen 1939 und 1947 in einer flämischen Kleinstadt spielt, eine Familiensaga aus der Zeit der deutschen Besatzung in Belgien zwischen Katholizismus und Kollaboration. Laudator Joachim Sartorius, der Hugo Claus als "letzten Renaissancemenschen unserer Zeit" charakterisierte, als ein Nachfahre der sprachmächtigen Dichterpropheten und Bußprediger des Barock, ja als "kulturellen Marsyas", der im Wettstreit gegen die kunstvolle Leier des Apollo mit der provozierend phallischen Flöte antritt; Joachim Sartorius sagt über dieses Buch:

    Was das Werk noch so überaus aktuell macht, ist die Gleichzeitigkeit von Alltag und Wahnsinn, die Claus mit schnellen Ortswechseln und chaotischen Gedankensprüngen auch stilistisch äußerst wirkungsvoll herstellt. Er erzählt von den Verheerungen des Alltags, von der moralischen Deprivation der Gesellschaft, vom Verrat in der Familie, also vom kleinen Krieg im großen. Er zeigt, wo der große Krieg los geht. Er legt den Finger in die Wunde – mit Lust. In einer Zeit, in der die Heuchelei der großen Politik wieder tagtäglich und von jeder Seite vorgeführt wird, ist dieses Werk, voll berauschender Vielseitigkeit, aber mit Figuren ohne jeden Halt, schon ein großer Teil der Wahrheit.

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