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Buchtipps

Wer sich für den Ost-West-Konflikt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts interessiert, dem ist ein eben von Jürgen Zarusky herausgegebener Band aus der Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte zu empfehlen: "Die Stalin-Note vom 10. März 1952 - Neue Quellen und Analysen" lautet der Titel, der zugleich auch das Ereignis markiert, das vor genau 50 Jahren für Aufsehen, ja für Aufregung gesorgt hatte: Nichts weniger als die Wiedervereinigung Deutschlands, sieben Jahre nach dem verlorenen Krieg hatte damals - vor genau 50 Jahren - Stalins Sowjetunion den westlichen Siegermächten angeboten. Ein Angebot, das aber sowohl die USA, Großbritannien und Frankreich, vor allem aber die - ohnehin von Moskau nicht offiziell und direkt angesprochene - Bundesregierung unter Konrad Adenauer nicht annahmen. - Schlugen sie es in den Wind? Wurde die sowjetische Offerte blind geopfert - zugunsten der schon anlaufenden Einbindung der noch jungen Bundesrepublik in das westliche Lager? Denn der Preis wäre - wenigstens nach sowjetischer offizieller Lesart - ein neutrales Gesamtdeutschland gewesen, vereinigt aus der Bundesrepublik und der DDR.

Robert Baag |
    Und genau an diesem Punkt entzündete sich damals in Politik und Geschichtsschreibung ein Streit, der zumindest innerhalb der Fachwissenschaften - der Politologie und der zeithistorischen Forschung - bis heute anhält. Ein anschauliches Beispiel für die ungebrochene Aktualität bietet der jetzt vorgelegte Band aus dem Münchner Oldenbourg-Verlag, der in seinen über weite Passagen ausgesprochen spannend zu lesenden Aufsätzen den neuesten Stand der Erkenntnisse zu diesem Spezialgebiet referiert. Erstmals konnten in nennenswertem Umfang Aktenbestände aus sowjetischen Archiven eingesehen und ausgewertet werden.

    Noch zu Anfang, Mitte der neunziger Jahre schien derlei Offenheit zur Freude der Spezialisten weltweit auch im Jelzin'schen Russland zur Gewohnheit zu werden. Heute ist schon wieder vielfach zu hören, dass nicht wenige Archive in russischen Beständen zunehmend wieder vor ausländischen Blicken verschlossen werden. Umso mehr haben Forscher wie Gerhard Wettig, Hermann Graml und Wilfried Loth von diesem damals breit geöffneten Zeitfenster profitieren können - und mit ihnen anschliessend ihr Publikum. Einen anschaulichen Beweis dafür liefert übrigens die oft ungestüme aber zugleich auch fesselnde und in jeder Hinsicht lesenswerte Polemik von Hermann Graml an die Adresse Wilfried Loths. Dessen manchmal positiv-verständnisvoll klingende Bewertung der Stalin'schen Motivlage und seiner Deutschlandpolitik zu Beginn der 50er Jahre findet vor Gramls Augen nicht viel Gnade.

    Festzuhalten bleibt: Nicht zuletzt aufgrund dieser Arbeiten herrscht heute mehr Licht als Dunkel beim Stichwort "Stalin-Noten". Eine, die unumstritten gültige Antwort aber muss weiter ausbleiben: Nämlich, ob nun endlich an dieser Wegmarke des Ost-West-Konflikts, des Kalten Krieges die geheimsten Beweggründe des greisen Sowjet-Tyrannen Stalin ausgeleuchtet worden sind. - Auch wenn am Ende dann wohl doch die Überzeugung von Gerhart Wettig besticht, der sich sicher ist:

    Aufgrund dessen, was ich in sowjetischen Archiven in Moskau gefunden habe, kann ich sagen, dass die sowjetische Politik zwar eine Wiedervereinigung vorsah, aber nur unter kommunistischem Vorzeichen - und dass auch die Note vom 10. März 1952 diesen Hintergrund hat.

    Nur ein knappes Jahrzehnt vor diesem Datum, im Juli 1942, mitten im Krieg gegen die Sowjetunion, kam es zu einem Vorfall, der nach Ansicht vieler Zeitgenossen aber auch der späteren Forschung den Verlauf des Zweiten Weltkriegs - zumindest im Osten - nachhaltig hätte beeinflussen können: Einer der populärsten Generäle der "Roten Armee", Andrej Andrejewitsch Wlassow, gerät verwundet in deutsche Gefangenschaft. Es dauert nicht lange und er erklärt sich bereit, auf deutscher Seite gegen Stalin und das bolschewistische System zu kämpfen. Einen interessanten Aspekt hat jetzt in diesem Zusammenhang der junge Münsteraner Historiker Matthias Schröder aufgegriffen. In seiner im Schöningh-Verlag erschienenen Arbeit untersucht er die Rolle, die die SS im Umfeld Wlassows gespielt hat. Und hier vor allem eine ganz bestimmte Gruppe innerhalb dieser sogenannten "Weltanschauungs-Truppe": "Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942 - 1945", lautet der Titel. In der Unterzeile lesen wir dann das Wlassow-Zitat:"Rußland kann nur von Russen besiegt werden" - und dann: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die "Russische Befreiungsarmee". Ein spannender Ansatz, ein echtes Desiderat, das hier von Schröder aufgegriffen worden ist - soviel zunächst vorweg. Die Russische Befreiungsarmee war damals bei den sowjetischen Kriegsgefangenen und vielen Zwangsarbeitern bald ebenso bekannt wie der Name ihres Führers Wlassow, des "zweifach verfluchten Generals". So wird er selbst nach dem Untergang der UdSSR immer noch von vielen, vorwiegend älteren Russen genannt. Oft geschieht dies zwar mit durchaus bedauerndem, zumeist jedoch mit unversöhnlich-verächtlichem Unterton - auch im Russland der Gegenwart bleibt die Wlassow-Armee offiziell verfemt:

    Der Oberste Gerichtshof Russlands hat heute den Antrag abgelehnt, General Wlassow und die Mitglieder seiner Bewegung zu rehabilitieren. Während des Grossen Vaterländischen Krieges gingen sie auf die Seiten der Deutschen über und kämpften gegen die sowjetischen Streitkräfte. - Diejenigen, die sie jetzt rehabilitieren wollten, hatten versucht, das Gericht davon zu überzeugen, dass Wlassows Kampf nicht gegen das Land sondern gegen das Regime Stalins gerichtet gewesen sei.

    So verkündet am 1. November vergangenen Jahres. Lediglich in einem einzigen Punkt wurden Wlasow und seine mitverurteilten Offiziere jetzt rehabilitiert: Der Vorwurf der - Zitat -"konterrevolutionären Propaganda" wird nicht mehr aufrecht erhalten. Die Tatbestände und Urteilspunkte wegen "Vaterlandsverrat", "Terrorismus" und "Diversionstätigkeit" behalten dagegen weiter ihre Gültigkeit.

    Ohne das Eroberungs-Konzept der Nationalsozialisten an sich in Frage zu stellen, gab es - wie es jetzt Schröders Buch zeigt - auch in den Reihen der SS-Offiziere, die dafür plädierten, die Wlassow-Armee dezidiert in den Kampf gegen die Rote Armee einzubinden. Dies waren in der Regel SS-Offiziere mit Osterfahrung, die aus den baltischen Republiken stammten, oft auch russisch sprachen und denen die osteuropäische Mentalität gut vertraut war.

    Während die einschlägige Literatur die Verbindung zwischen Wehrmachts- bzw. Abwehr-Offizieren und der Wlassow-Bewegung inzwischen vergleichsweise umfassend aufgearbeitet hat, stehen in den jetzt vorgelegten Portraits zweier baltendeutscher SS-Offiziere, Motive zur Debatte, wie sie von Schröder thematisch zugespitzt etwa so verhandelt werden: "Die SS und die Wlassow-Bewegung: 'Untermenschen-Theorie' versus militärischer Pragmatismus". Ein eindeutiges Urteil über Wlassow zu fällen, fällt auch heute noch schwer.

    Schröders Buch ist ein ausgesprochen informativer Beitrag zu einem Spezialkapitel der Zeitgeschichte, des Zweiten Weltkriegs, der deutsch-russischen Beziehungen. Schröder nimmt sich eines Themas an, das in dieser Ausführlichkeit bislang so noch nicht behandelt worden ist: Das Beziehungs-Viel-Eck Russland, Deutschland, Baltikum, Nationalsozialismus, Stalinismus, Kollaboration und Widerstand sowie schließlich der Kalte Krieg ist auf fesselnde Weise miteinander verknüpft worden. Und: Es bietet nicht nur Spezialisten eine Reihe aufschlussreicher, neuer Erkenntnisse.