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Bücher über und aus Russland

Das nun schon fast vergangene Jahr stand in mehrfacher Hinsicht im Zeichen Russlands. Erinnert sei zum Beispiel an die 300-Jahr-Feier von St. Petersburg. Oder an die Wahlen vor vierzehn Tagen, die dem Lager von Präsident Putin bekanntlich eine mehr als komfortable parlamentarische Mehrheit gebracht haben. Viel Raum für Spekulationen bleibt jetzt, ob und wie sich das Bild Russlands in den nächsten Monaten und Jahren verändern könnte, welche politische Gestalt es annehmen wird. - Und nicht zu vergessen - ein deutsch-russisches Ereignis ganz besonderer Art: Die Buchmesse in Frankfurt in diesem Jahr, bei der Russland das Gastland war.

Von Peter Josef Bock, Ekkehard Maass und Elena Beier |
    "Tragödie eines Volkes" heißt die vor fünf Jahren veröffentlichte deutsche Ausgabe einer fast eintausendseitigen Geschichte der russischen Revolution, verfasst von dem jungen Londoner Historiker Orlando Figes.
    Dieses Werk ist in Deutschland sehr beachtet und gelobt worden. Nicht zuletzt deshalb, weil der Autor eine äußerst lebendige, mit Aussagen von Zeitzeugen und Schriftstellern angereicherte Revolutionsgeschichte geschrieben hat, die nach seiner, nach Figes Interpretation übrigens schon mit der großen Hungersnot von 1891 beginnt - und nicht erst 1917 oder 1905.
    Ganz offensichtlich hat Figes seinen immensen Fundus von Quellen und vor allem russischer Literatur einmal mehr erweitert und intensiviert. Jetzt erschien von ihm - übrigens in einer hervorragenden Übersetzung von Sabine Baumann und Bernd Rullkötter - unter dem Titel "Nataschas Tanz" eine Kulturgeschichte Russlands - ein Glanzpunkt in diesem russischen Herbst auf der Buchmesse. Peter Josef Bock ist der Autor unserer Rezension:

    "Das Frühlingsopfer", "Le Sacre du printemps", eine Ballettmusik, 1913 von Igor Strawinsky komponiert. Strawinsky war, zusammen mit anderen Künstlern und Volkskundlern, davon überzeugt, eine der wichtigen Wurzeln Russlands entdeckt, wieder entdeckt zu haben, und zwar in einem alt-slawischen, naturverbundenen Ur-Russland mit heidnischen Menschenopfern und Schamanentänzen:

    Die Anleihen für das Ballett, das so gar nichts mehr mit Tschaikowskys romantischem "Schwanensee" zu tun hat, gehen auf russische Bauernmusik zurück. Strawinsky selbst hatte sie auf dem Lande aufgezeichnet.
    Die aggressiven Rhythmen lassen durchaus die Schrecken des Ersten Weltkriegs und der Revolution vorausahnen. "Das Frühlingsopfer" war ein hochkünstlerisches Werk, mit exotischen Kostümen und stampfendem Tanz, 1913 bei der Premiere in Paris geradezu spektakulär und spekulativ in Szene gesetzt:

    Die Franzosen liebten unsere primitive Wildheit, unsere Frische und unsere Spontaneität,

    ... erinnerte sich später einer von Strawinskys Freunden.
    Die wilde Vergangenheit Russlands, verklärt auf einer Ballett-Bühne am Champs-Élysées - das war ein typisches Beispiel für die widersprüchliche Suche nach nationaler Identität: Hin- und hergerissen zwischen der westlichen Aufklärung und dem alten orthodoxen Russland, zwischen Europa und Asien, zwischen Sankt Petersburg und Moskau.
    Diese Suche war eine Dauer- und Lieblingsbeschäftigung der russischen Intelligenz, vor allem im 19. Jahrhundert bis zur Oktoberrevolution 1917, danach im Exil und auch, unter schwierigsten Bedingungen, in der Sowjetzeit.

    Der junge britische Historiker Orlando Figes hat sich gleichermaßen besessen und distanziert zum Chronisten dieser Suche gemacht, hat wie ein Archäologe versucht, die verschiedenen Schichten russischer Identitäten freizulegen und zu interpretieren. Der Autor dazu im Vorwort:

    Russland fordert den Kulturhistoriker dazu auf, unter die Oberfläche des künstlerischen Scheins zu blicken. Da es in Russland während der letzten 200 Jahre weder ein Parlament noch eine freie Presse gab, dienten die Künste als Forum für politische, philosophische und religiöse Debatten. Nirgendwo sonst wurde dem Künstler so unerbittlich die Pflicht aufgebürdet, ein moralischer Anführer und Prophet des Landes zu sein, nirgendwo sonst wurde er vom Staat mehr gefürchtet und verfolgt.

    Zuwider ist Figes die berühmt-berüchtigte "russische Seele", wie sie im Westen, auch von Autoren wie Thomas Mann, kultiviert worden ist:

    Wenn es denn einen Mythos gibt, der zerschlagen werden sollte, dann ist es diese Sicht auf Russland als etwas Exotisches und Fernes.

    Aber zugleich bedient der Autor im Buchtitel, wenn nicht das Klischee von Russland, so doch eine ganz bestimmte westliche Erwartung:
    "Nataschas Tanz" - das spielt auf eine Szene in Tolstois "Krieg und Frieden" an, als eine französisch erzogene russische Comtesse instinktiv die richtigen Schritte und Bewegungen zu einem Bauernlied findet. Sie tanzt, heißt es bei Tolstoi, "so unerlernbar russisch". - Figes widerspricht dieser Verklärung:

    Es gibt keine einzig wahre Nationalkultur, allenfalls mythische Bilder von ihr, wie eben Nataschas Version des Bauerntanzes.

    Orlando Figes erzählt gegen den Strich, springt, ohne zu verwirren, in der Geschichte hin und her, mutet dem Leser keine langweilige Chronologie zu, und berichtet gleich am Anfang über das erste ungeheuerliche Wagnis der russischen Geschichte: die Gründung von Sankt Petersburg, den von Zar Peter menschenverachtend vorangetriebenen Versuch, Russland zu modernisieren:

    Die Russen waren sich über ihren Platz in Europa unsicher, und diese Ambivalenz ist ein entscheidender Schlüssel zu ihrer kulturellen Geschichte und Identität. Da sie am Rande des Kontinents leben, sind sie sich noch nie im Klaren darüber gewesen, ob ihre Bestimmung dort zu suchen ist. Gehören sie zum Westen oder zum Osten? Peter ließ sein Volk nach Westen schauen und dessen Lebensart nachahmen...Gleichzeitig aber (war man) sich schmerzlich bewusst, dass Russland nicht 'Europa' war - es blieb stets hinter diesem mythischen Ideal zurück - und womöglich nie ein Teil davon werden würde.

    Sehr anschaulich beschreibt der Historiker, wie sich das Experimentierfeld Petersburg entwickelte, wie dort Europa architektonisch und kulturell eingepflanzt, wie mit dem neu geordneten russischen Adel eine vordergründig neue Gesellschaft aufgebaut wurde.
    Farbig, lebendig die Schilderungen: Immer wieder kommen Zeitzeugen und russische Autoren zu Wort. So entsteht ein belebtes Panorama der sich entwickelnden Stadt mit all ihren Widersprüchen.
    Dramaturgisch geschickt, setzt Figes Leitfiguren ein, die für eine Epoche stehen: Für die Zeit nach dem "Vaterländischen Krieg" gegen Napoleon sind das Sergej Wolkonski und seine Frau Maria, vom Zaren nach Sibirien verbannte Dekabristen. Die Dekabristen, meist adelige Offiziere, hatten vergeblich politische Reformen im rigiden, absolutistischen russischen Staatswesen gefordert.
    Dieses Buch ist zugleich auch eine kleine russische Literaturgeschichte, und so stellt der Autor sehr passend Puschkin in diesem Kapitel vor, Puschkin, den ersten russischen Nationaldichter, den unsicheren Sympathisanten der Dekabristen.
    Und wie Figes den im 18. und 19. Jahrhundert wirkenden russischen Historiker Karamsin einordnet, erinnert unwillkürlich und höchst aktuell an die Demutshaltung der staatlich gelenkten Medien unter Präsident Wladimir Putin und lässt an die soeben wieder nachdrücklich bestätigte, weit verbreitete Passivität des Wahlvolks denken:

    ..(sein) Werk selbst war fest in der monarchistischen Tradition verankert, die den zaristischen Staat und seine aristokratischen Diener als Kräfte des Fortschritts und der Aufklärung darstellte...Der Zar und seine Adeligen sorgten für Wandel, während 'das Volk schweigt', wie es in Puschkins letzter Bühnenanweisung zu Baris Godunov heißt.

    Orlando Figes ist ein großartiger Erzähler. Geschickt verknüpft er politische Geschichte, Kultur-, Sozial- und Literaturgeschichte miteinander.
    Im Kapitel über den Gegensatz, die Rivalität zwischen Sankt Petersburg und Moskau lässt er Gogolj und Dastojewski als Zeit-Zeugen auftreten.Er schildert die Prasserei, das maßlose Essen und Trinken im damals wie heute schrankenlosen Moskau.

    Die Entwicklung einer eigenen nationalen Musikkultur, der russischen Malerei, die Rolle der Mäzenaten - meist reiche, westlich orientierte Unternehmer - diese Gründerjahre russischer Kultur werden detailliert beschrieben, auch der Einbruch der ersten Globalisierung durch die Eisenbahn, die Moskau schon damals zum Knotenpunkt und zur kapitalistischen Metropole machte.
    Verarmung auf dem Lande, Industrialisierung und schroffe soziale Gegensätze, Hungersnöte, eine erste Revolution, und der Zar - litt unter Realitätsverlust:

    Die Romanows zogen sich in die Vergangenheit zurück, da sie hofften, diese werde sie vor der Zukunft retten. Besonders Nikolaj (II.) idealisierte das Zarentum Alexejs im 17. Jahrhundert...

    Dagegen standen der schwärmerische Leo Tolstoi mit seinem christlichen Sozialismus - zeitweise der geistige Führer Russlands - , aber auch der nüchterne Anton Tschechow.
    Figes schildert die Lebenswege der Schriftsteller, ihre Wirkung, er lässt sie ausführlich zu Wort kommen.
    Ein besonderes, im Westen wohl weniger bekanntes Kapitel ist dem Einfluss des Vielvölkerstaates Russland auf die russische Kultur gewidmet, dem, was man in Russland alles unter Osten zusammenfasst, also die Kaukasusgebiete, Mittelasien und Sibirien. Und dabei ging es, wie ein russischer Historiker schrieb...,

    ...um den russischen Staat, als ein asiatisches Gebilde, wenn auch eines, das mit einer europäischen Fassade verziert ist. '

    Stalin wurde dann später konsequenterweise "als Dschingis-Khan mit einem Telefon bezeichnet." Er ließ gleichermaßen bürgerliche Kunst und linke Agitationskunst ersticken: der radikale Majakowski brachte sich um, der Lyriker Mandelschtam starb wie so viele im GULag.

    Stalin war kein Ignorant, was kulturelle Angelegenheiten betraf. Er las ernste Literatur...

    Und er mischte sich überall ein: In die Filme von Eisenschtein und in die Kompositionen von Schostakowitsch. Eine neue kulturelle Eiszeit setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein.
    Erst unter Chrustschow war ein vorsichtiges, aber letztlich wiederum kurzatmiges Tauwetter zu verspüren, bevor der strukturkonservative, parteiamtliche Kunst- und Kulturgeschmack wieder die Oberhand gewann - ohne jedoch erneut die oppositionellen oder eben ganz einfach "anderen" Strömungen in der sich ausbreitenden Gegen-Szene erdrosseln zu können.

    Orlando Figes rundet mit seinen kenntnisreichen archäologischen Exkursen in die Sowjetzeit und in die Kultur der russischen Emigranten sein großes Werk ab. Natascha tanzt, und wir wissen am Ende des dickleibigen, aber stets spannenden Buches, warum das kein simples Klischee über die russische Kultur ist.

    Peter Josef Bock rezensierte: Orlando Figes: "Nataschas Tanz - Eine Kulturgeschichte Russlands". Erschienen ist der Band im Berlin-Verlag. 720 Seiten - für 39 Euro 80.

    Vor wenigen Tagen erst meinte der tschetschenische Dichter Apti Bisultanov auf einer Podiumsdiskussion in Berlin: "Wir verteidigen in Tschetschenien nicht nur unsere Unabhängigkeit, sondern die Wahrheit. Wenigstens das sollte uns zugestanden werden, das die Welt sieht, was in Tschetschenien geschieht." Doch das internationale, auch politisch definierte wirtschaftliche Interesse an Russland tabuisiert den Tschetschenienkrieg weitgehend. Russland kann seinen Krieg im Schatten ungestört weiter führen und schlittert dabei selbst in eine gefährliche Richtung.
    "Der Krieg im Schatten - Russland und Tschetschenien"- so der fast gleich lautende Titel eines von Florian Hassel vor kurzem herausgegebenen Sammelbandes. Der Kaukasus-Experte Ekkehard Maaß hat die nachfolgende Besprechung verfasst:
    Nach Anna Politkovskajas vor wenigen Monaten in Deutschland erschienenem Buch "Die Wahrheit über den Krieg", ist "Krieg im Schatten", herausgegeben von Florian Hassel eine zweite, erschütternde Veröffentlichung über die Kriegsverbrechen der russischen Armee in Tschetschenien. Neun Autoren aus vier Ländern, den Herausgeber einbezogen, analysieren in ihren Essays auf verschiedenen Ebenen Geschichte, Hintergründe und aktuelle Ereignisse des Tschetschenienkrieges.

    In der Nacht zum 30.November 2002 ermordeten russische Soldaten Malika Umaschajeva, die Bürgermeisterin von Alchan-Kala, einem Dorf südlich der tschetschenischen Hauptstadt Grosnyi. Umaschajeva war keine Rebellin: Als die Soldaten in ihr Haus eindrangen, kümmerte sie sich gerade um ihre beiden Nichten, die bei ihr aufwuchsen. Die Mädchen bekamen Angst und flehten: "Bringt Mama nicht um." Kurz nachdem Umaschajeva mit den Soldaten hinausgegangen war, fiel ein Schuss. Umaschajeva hatte konsequent gegen die Zatschistkas, die sogenannten Säuberungen, protestiert, bei denen die Russen in ihrem Dorf willkürlich junge Männer festnahmen und Geld erpressten.
    Nach Ansicht des Londoner Publizisten Thomas de Waal finden in Tschetschenien drei Konflikte statt: Im ersten kämpft die russische Armee gegen Separatisten, im zweiten gegen Islamisten, der dritte Konflikt ist die kriminalisierte Kampagne der Gewalt, die vor allem die 80.000 russischen Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter gegen jeden richten, der ihnen im Wege steht - wie zum Beispiel Malika Umaschajeva.
    Es wird den Tschetschenen nicht gefallen, dass Thomas de Waal ihnen die Fähigkeit abspricht, einen eigenen Staat zu gründen, und mit seiner Überschrift "Zwei Jahrhunderte Konflikt" ihren verzweifelten Kampf gegen die russischen Eroberer um zwei Jahrhunderte verkürzt. Die ersten russischen Festungen in Tschetschenien - Kerki und Tschervljonnaja - wurden bereits 1567 gegründet. Nach der Deportation 1944 - während des Zweiten Weltkriegs - unter Stalin und nach den beiden Tschetschenienkriegen von 1994-96 und seit 1999 finden es die meisten Tschetschenen unmenschlich, von ihnen zu verlangen, Bürger eines Landes zu sein, welches sie wegen ihrer tschetschenischen Herkunft verfolgt und vernichtet.

    Das eigene Territorium mit Methoden des Terrors zu erweitern oder, wie in Tschetschenien, zu sichern, hat in Russland eine lange Tradition. General Alexej Jermolov ließ Anfang des 19. Jahrhunderts in Tschetschenien Dörfer niederbrennen, gab seinen Truppen freie Hand für Morde und Vergewaltigungen und wünschte - Zitat - "dass der Terror meines Namens unsere Grenzen besser schützt als Ketten von Festungen.

    ... verweist der Herausgeber Florian Hassel auf die konfliktgetränkte Geschichte der russisch-tschetschenischen Beziehungen. Hassels Analysen in seinen beiden Essays "Der Zweite Tschetschenienkrieg – eine Unterwerfungskampagne in imperialer Tradition" und: "Lizenz zum Stehlen – wie Militär und Verwaltung Tschetschenien nach russischer Tradition ausplündern", enthüllen mit einer Fülle von Fakten die wahren Gründe des Tschetschenienkrieges. Die von Hassel angeführten Beispiele staatlich initiierter sowie sanktionierter Kriminalität, vor allem die Morde an Zivilisten, sind erdrückend. Seine statistischen Vergleiche belegen, dass in Tschetschenien bis jetzt schon prozentual mehr Menschen "verschwunden" sind als in der Sowjetunion während des "Großen Terrors" der Stalinzeit.

    Offiziell wurden 2002 von der tschetschenischen Verwaltung 1132 Mordopfer aufgelistet. Neu ist die Art der Vertuschung:

    Um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen und die Identifizierung ihrer Opfer zu erschweren oder unmöglich zu machen, griffen die Todesschwadronen seit Frühjahr 2002 zu einem radikalem Mittel: "Sie sprengen ihre Opfer mit Sprengstoff und trennen ihnen immer öfter die Köpfe ab", sagte Lidija Jussupova, Juristin im Grosnyj-Büro der Menschenrechtsorganisation "Memorial". Allein für Januar und Februar 2003 listete "Memorial" vierzehn Fälle entsprechender Leichenfunde auf.
    Die amerikanische Journalistin Maura Reynolds reiste in acht russische Regionen und interviewte Rückkehrer aus dem Tschetschenienkrieg, die freimütig zugeben, dass Kriegsverbrechen in Tschetschenien nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Nach den Aussagen der von Maura Reynolds interviewten Soldaten und Offiziere ist davon auszugehen, dass die russische Soldateska in Tschetschenien systematisch mordet und die männliche Bevölkerung dezimiert. Es sei geradezu absurd, von einem Kampf gegen den Terrorismus zu sprechen.

    Wenn sie erst mal eine Schramme haben, sind sie schon so gut wie tot. Sie wissen, dass sie niemals das Büro des Staatsanwaltes sehen werden. Du siehst es in ihren Augen. Sie verraten uns nie irgend etwas, aber wir fragen auch nicht. Wenn sie unsere Soldaten foltern, warum sollen wir sie nicht foltern? Der einfachste Weg ist, dein Bajonett über Holzkohle zu erhitzen und sie damit zu verbrennen oder sie langsam zu erstechen. Du musst sichergehen, dass sie soviel Schmerz wie möglich fühlen. Du möchtest nicht, dass sie schnell sterben. Denn ein schneller Tod ist ein leichter Tod. (...)Einerseits sieht es wie ein Gräueltat aus, andererseits gewöhnt man sich leicht daran. Ich habe neun Menschen auf diese Weise getötet. Ich erinnere mich an alle.
    Maura Reynolds hat noch andere schockierende Interview-Beispiele gesammelt:

    Es hört sich barbarisch an, aber es ist eine alte Tradition unserer Spezialeinheiten. (...) Du schneidest deinem Feind die Ohren ab, um sie später aufs Grab deines Freundes zu legen, der im Krieg gefallen ist...So sagen wir unserem gefallenen Kameraden: Ruhe in Frieden. Du bist gerächt.

    Ich erinnere mich an eine Scharfschützin. Sie hatte keine Chance, es je zu unserem Vorgesetzten zu schaffen. Wir banden Stahlkabel um ihre Gelenke und rissen sie mit zwei Schützenpanzern auseinander. Es gab eine Menge Blut, aber die Jungs brauchten es. Danach beruhigten sich viele von ihnen Wir warfen auch Rebellen aus Hubschraubern. Wichtig war, die richtige Höhe zu finden. Wir wollten nicht, dass sie sofort sterben...

    Die Artikel von Miriam Kosmehl: "Tschetschenien und das internationale Recht" und Alexandr Tscherkassov: "Romanze mit dem Kreml – vom Scheitern der Menschenrechtspolitik in Tschetschenien" beschreiben die Niederlage des Rechts gegenüber der Politik, im internationalen Rahmen und im Rahmen der Russischen Föderation.
    Obwohl Russlands Präsident Putin, scheinbar westlichem Druck folgend, formal einen Menschenrechtsbeauftragten für Tschetschenien einsetzte, eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit Abgeordneten der Duma und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gegründet wurde, Putin persönlich mit Vertretern von Memorial sprach, geht das Morden in Tschetschenien ungehindert weiter.
    Memorial ist die wichtigste russische Menschenrechtsorganisation, die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien registriert, nachweist und dokumentiert. Sollte es irgendwann einmal zu einem Wechsel der politischen Eliten in Russland kommen, wird man an Hand dieser Dokumente die schuldigen Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen. Miriam Kosmehl zitiert die internationalen Gesetzte und Konventionen, gegen die Russland in Tschetschenien verstößt, und skizziert das Verhalten des Europarates und der westlichen Regierungen zu Tschetschenien.

    Die große Bedeutung, die Russland zweifellos hat, darf den (Europa)-Rat nicht veranlassen, Untätigkeit folgen zu lassen. Bisher gilt für die internationalen Antworten auf Tschetschenien: zu wenig, zu spät, zu inkonsequent und zu uneffektiv. Artikel 8 des Statutes des Europarates ist eine Farce, wenn keine weitere Erwiderung erfolgt. Deshalb sollte die Mitgliedschaft (Russlands)suspendiert und von der Erfüllung konkreter Auflagen abhängig gemacht werden. (...) Sieben Jahre nach der Aufnahme in Europas wichtigstes Menschenrechtsgremium hat ein sich durch beharrliche Reformresistenz ausgezeichnetes Russland keinen Anspruch mehr auf Langmütigkeit.
    Die Essays von Musa Muradov, Michael Ryklin, Jens Siegert und Klaus-Helge Donath stehen den bisher erwähnten nicht nach. Das Buch ist allen zu empfehlen, die die Wahrheit wissen wollen über den Krieg in Tschetschenien und ist besonders jenen politischen Entscheidungsträgern anzuraten, die mit ihrer Toleranzpolitik Anteil haben an der Vernichtung Tausender Tschetschenen. Keinem der neun Autoren ist Unsachlichkeit oder einseitige Parteinahme vorzuwerfen. Auch die Fehler auf tschetschenischer Seite werden ausführlich diskutiert, das Eindringen islamistischer Strömungen, wie der Wachabiten, Entführungen und die zunehmende Gefahr von Selbstmordanschlägen. Sollte der Friedensplan Maschadovs und die nach westlicher Demokratie strebenden Politiker in Tschetschenien weiterhin keine Unterstützung finden, wird die Eskalierung des Konflikts fortschreiten mit unabsehbaren Folgen für Russland, Europa und Tschetschenien selbst.

    Die Illusion geht weiter (...). Immer noch weigern sich Moskau und der Westen, Verantwortung für die Tragödie zu übernehmen. Doch spätestens das Drama im (Moskauer) Musicaltheater ("Nordost" im Oktober 2002) hat gezeigt, dass der Konflikt nicht ignoriert werden kann. Und die furchtbare Dynamik lässt befürchten, dass er wieder an die Türen der Welt klopfen wird – mit noch schrecklicheren Überraschungen und grauenvollen Nachrichten.

    Ekkehard Maaß besprach: Florian Hassel: "Der Krieg im Schatten - Russland und Tschetschenien", erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; das Buch hat 257 Seiten und kostet 11 Euro.

    Wir bleiben beim Thema, erweitern es allerdings - und schlagen einen Bogen vom Kaukasus über Mittelasien hin zum auch heute alles andere als stabilen Afghanistan. Ziemlich genau 24 Jahre ist es her, seit Weihnachten 1979 Truppen der damaligen Sowjetunion in ihrem südlichen Nachbarland Afghanistan einmarschierten - und sich acht Jahre später de facto geschlagen nach blutigen Verlusten und moralisch diskreditiert wieder zurückziehen mussten.
    Der Niedergang der UdSSR, der Abgang der Kommunistischen Partei aus dem Zentrum der Macht in Moskau - aber auch das Erstarken des islamistischen Faktors im Süden der früheren UdSSR waren die logische Folge dieser spezifisch sowjetischen Hybris - imperialistische Machtpolitik, nach dem damaligen Sprachgebrauch verkleidet als "proletarisch-internationalistische Bruderhilfe".
    Der russische Journalist und Zentralasien-Fachmann
    Vitalij Volkov hat sich - nicht nur aus russischer Sicht - mit diesem als Einheit zu bewertenden Konfliktherd seit geraumer Zeit beschäftigt und jetzt eine Art literarische Doku-Fiction veröffentlicht. Ihr Titel: Kabul - Kavkas - zu deutsch: "Kabul - Kaukasus" - Jelena Beier hat sich näher damit beschäftigt:

    Eine Gruppe von islamischen Kämpfern bricht auf, um ihre - dem Leser noch unklare - streng geheim gehaltene Mission zu erfüllen. Ihr Weg soll sie von Afghanistan über den Kaukasus nach Moskau führen. Ihr Ziel ist Europa. Ziemlich schnell ahnt der Leser, dass diese Leute etwas Schreckliches planen. Man gerät sofort in den Sog des Romans, in dem ganz reale Personen wie Ahmad Shah Masud oder Osama bin Laden agieren. Das ist ein Roman, der auch durchaus reale Wege schildert, die die potentiellen Terroristen benutzen, um an Waffen zu kommen, Drogen zu schmuggeln oder auch selbst in den Westen zu gelangen.
    Ein Roman, der eine Prophezeiung wagte: In der Bundesrepublik Deutschland - so die Vision des Autors im Sommer 2001, als das Buch gerade fertig war - sollten Terroristen aus Afghanistan als so genannte Schläfer auf die Fußballweltmeisterschaft 2006 warten und Terroranschläge auf überfüllte Fußballstadien verüben. Doch die Grenze zwischen Fiktion und Realität wurde am 11. September 2001 plötzlich verwischt, erinnert sich der Autor:

    Am 11. September habe ich beschlossen, dieses Buch nicht zu veröffentlichen. Ich bekam Angst, weil die Ereignisse, die in diesem Buch beschrieben wurden - wenn auch in einer anderen Form - Wirklichkeit geworden waren.

    Nun aber hat Vitalij Volkov seine knapp 600 Seiten dickes Werk in Druck gehen lassen. Der Roman ist vor wenigen Wochen im Moskauer Vagrius Verlag erschienen - zunächst erst einmal auf Russisch. Die Idee zu diesem Roman entstand 1999, während Volkovs Arbeit für den Russischen Dienst der Deutschen Welle:

    Damals recherchierte ich zum Thema Afghanistan. Ich plante eine ganze Sendereihe, über den Bogen der Krisenherde, der sich historisch aber auch geographisch zwischen Zentralasien und Europa spannt. Angefangen habe ich mit dem Afghanistan-Krieg der 80-er Jahre, dann sollten das Kosovo, der Kaukasus, Saudi Arabien, Indien und Pakistan an die Reihe kommen. Und auf der Basis dieser journalistischen Recherche habe ich beschlossen, einen Roman zu schreiben, der spannend wie ein Krimi sein sollte - aber vor einem ernsthaften Hintergrund. Ein Buch, das tief in die jüngste Geschichte eintaucht und aktuelle Probleme unserer Zeit behandelt, und zwar in einer Form, die es auch für ein sehr breites Publikum interessant macht.

    Seine Nachforschungen führten Vitali Volkov zu ehemaligen KGB-Offizieren sowie Militäranalytikern, die den Einmarsch der sowjetischen Truppen 1979 in Afghanistan vorbereitet hatten und zu jener Sondereinheit gehörten, die in einer Geheimdienstoperation den damaligen Premierminister Hafizullah Amin stürzte. Interviews mit diesen Zeitzeugen und Experten füllten mehrere Dutzend Ton-Kassetten. Wenn man die Originaltöne mit den entsprechenden Stellen im Roman vergleicht, fällt auf, wie penibel sich der Autor an die Aussagen seiner Gesprächspartner gehalten hat.

    Ein Beispiel dafür sind etwa die Erinnerungen von Lev Korolkov, der damals die KGB-Sondereinheit "Vympel" kommandierte und den Sturm auf den Palast von Hafizullah Amin anführte:

    Die Afghanen waren damals sehr gut ausgebildet, denn alle Offiziere hatten früher in der Sowjetunion an unseren Militärakademien studiert. Die Leibgarde von Amin - 2.000 Mann stark und ihm sehr ergeben - das waren gute Kämpfer mit Kriegserfahrung. Doch sie kamen alle um. Sie konnten mit ihren leichten Waffen nichts gegen unsere Panzer ausrichten. Es waren die sowjetischen Luftlandetruppen, die das Chaos in diese Operation brachten. Ich habe immer noch Fotos mit unseren ausbrannten Panzern. Ich habe damals selbst im Funkverkehr unserer Soldaten das panische Geschrei gehört: ’Nicht schießen, nicht schießen, das sind unsere Panzer! Aufhören!...’ Doch es war viel zu spät, es gab bei uns viele Verwundeten durch eigene Leute.

    Die Invasion der sowjetischen Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 wirke bis in die Gegenwart hinein und die Spätfolgen seien nicht nur im russischen Kaukasus zu spüren. So lautet eine der wichtigsten Thesen des Autors und seiner Protagonisten. Der Krieg gegen die sowjetischen Truppen machte einen erfolgreichen, den damals aber nur lokal prominenten Bauunternehmer Osama bin Laden zu einer heute weltweit berühmt-berüchtigten Figur. Davon ist Wladimir Lukow überzeugt, ein russischer Militäranalytiker und Experte für den Islam und die islamischen Länder. In einem Interview, das Vitalij Volkov 1999 geführt hat, fasst Lukow seine Analyse so zusammen :

    Osama bin Laden kam nach Afghanistan direkt nach Beginn der sowjetischen Invasion, Ende 1979. Seinen eigenen Aussagen zufolge war er "wütend und verzweifelt". Und so verzweifelt kämpfte er auch. Bin Laden verlor viele seiner Mitstreiter in diesem Kampf.
    In diesem Krieg wurde Bin Laden auch zu einer sagenumwobenen Gestalt, die den sowjetischen Truppen immer wieder entkommen konnte. Weder Bomben noch Minen konnten ihm etwas anhaben. Das verstärkte sein Charisma. Das Gebet vor dem Kampf habe ihm Seelenruhe gegeben, ihm die Angst vor dem Tod genommen, so erzählte Osama bin Laden später selbst.
    Vielleicht sollten alle, die heute in Tschetschenien den islamischen Kämpfern gegenüberstehen, solch eine Haltung berücksichtigen.


    Dieser Rat des russischen Militärexperten Wladimir Lukow hat seine Gültigkeit auch nach vier Jahren nicht verloren. Er hat für Tschetschenien genauso eine Berechtigung wie inzwischen auch wieder für Afghanistan. Die sowjetische Invasion vor fast einem Vierteljahrhundert löste in diesem Land - so Vitalij Volkov - "eine Kettenreaktion der Selbstzerstörung" aus. Der Faktor "Zeit" sei damals in diesen Bergen am Hindukusch gestorben und das habe Afghanistan bis heute - so Volkov weiter - "zu einem schwarzen Loch" gemacht:

    So lange die zivilisierte Welt - das ist natürlich ironisch gemeint - nicht lernt, die stehengebliebene Zeit in diesem Land und diese Leute zu verstehen, so lange wird dieses "schwarze Loch" alle Versuche ersticken, diese Gesellschaft zu zivilisieren.

    Doch es sei nicht der von Samuel Huntington in die Debatte eingeführte Begiff des "clash of civilisation", kein Zusammenprall der Zivilisationen also, der heute in Afghanistan oder nun auch im Irak zu beobachten sei, so Volkov weiter: Der Widerspruch verlaufe auf einer wesentlich tieferen, im Bereich der Psychologie angelegten Ebene.
    In dieser Region werde westliche Lebensart unbewusst aber sehr deutlich als aggressiv wahrgenommen, weil sie ein wesentlich schnelleres Tempo habe. Weil Menschen aus dem Westen - seien es Europäer, Amerikaner oder Russen - in für diesen Kulturkreis völlig unverständlichen Kategorien dächten. Man spreche unterschiedliche Sprachen, und zwar nicht nur linguistisch gesehen. Worte wie Ehre, Zeit, Freiheit, Würde eines Menschen, menschliches Leben könnten zwar mühelos in jeweils andere Sprachen übersetzt werden - der Sinngehalt solcher abstrakter Begriffe aber lasse sich in der individuellen wie kollektiven Wahrnehmung, im Verständnis anderer Menschen und Völker keineswegs immer 1:1 übertragen.
    Umgekehrt gilt ebenso: Der "Westen" - als Oberbegriff - steht einem vollkommen unberechenbaren Gegner gegenüber, dessen Logik und Ziele er nicht versteht. Nicht zuletzt deswegen ist es in anderen Kulturkreisen verwurzelten Menschen kaum möglich, nachzuvollziehen, weshalb Menschen Terroranschläge wie die vom 11. September zu planen und auszuführen im Stande sind. Das rufe im Westen eine klare Gegenreaktion hervor, die psychologisch verständlich sei, räumt Vitalij Volkov ein. - Doch, fragt er sich dann: Zu welchem Ergebnis hat - unter aktuellem Gesichtspunkt - die von den USA angeführte internationale Antiterroroperation anschließend geführt?

    Die so genannten islamischen Fundamentalisten, - ich würde diese Leute als den Kreis um Bin Laden herum definieren, die Kräfte, die ihre antiamerikanischen Strategien langfristig anlegen - sie haben nun ihre Aufgabe gelöst: Sie hätten enorme Schwierigkeiten, die USA auf dem amerikanischen Boden zu bekämpfen und zu schwächen. Nun kamen aber die Amerikaner zu ihnen. Das ist die Erfüllung der kühnsten Träume dieser Leute.

    Vitalij Volkov liefert keine konkreten Lösungsvorschläge. Der Autor verhilft aber seinem Leser zu Einblicken in eine gar nicht so fern zurück liegende Vergangenheit und drückt ihm auf diese Weise mehrere Schlüssel in die Hand, um die Gegenwart besser zu verstehen.
    Doch das Wichtigste an diesem Buch von Vitalij Volkov besteht darin, dass er fiktionale Versatzstücke einsetzt, die einem Sachbuchautor bei enger Regelauslegung verwehrt werden, um sein Publikum in die innere Welt vollkommen unberechenbarer, andersdenkender Menschen blicken zu lassen, die in unserem Bewusstsein spätestens nach dem 11. September 2001 als existentielle Bedrohung präsent sind.
    Als Freibrief für den Terrorismus - um auch dies klar zu sagen - lässt sich dieses Buch deshalb aber nicht missverstehen. Selbst wenn Terroristen dort nicht nach einem Schwarz-Weiß-Schema portraitiert werden. Diese hoffentlich bald ins Deutsche übersetzte Neuerscheinung aus der Feder eines jungen russischen Autors, richtet sich an all jene, denen die üblichen, auf eins-30 zusammengedampften Informationshappen in den Fernseh-Abendnachrichten schon lange nicht mehr ausreichen.

    Jelena Beier besprach: Vitalij Volkov: "Kabul - Kavkaz", erschienen im Vagrius Verlag, Moskau.
    587 Seiten zum Preis von 80,- Rubel

    Moskau - vor knapp einem halben Jahr - eine Gruppe der Geheimdienst-Einheit Alpha stürmt in das Büro des völlig verdutzten Generalleutnants Vladimir Ganeev, des Sicherheitsbeauftragten und stellvertretenden Leiters des Katastrophenschutzministeriums. Ein Alpha-Kameramann filmt die Szene, die später auch im Fernsehen russlandweit ausgestrahlt werden soll. Knapp 60.000 US-Dollar finden die Geheimpolizisten, eine Summe die der hohe Offizier bei einer Moskauer Firma erpresst haben soll..."

    ... Eine Szene, die im Wahlkampf Signalwirkung ausstrahlen sollte: "Seht her, bei unserem Kampf gegen die Korrruption im Land machen wir, die russischen Sicherheitskräfte, selbst vor hohen Dienstgraden in unseren eigenen Reihen nicht halt." Ein Bild, zu schön, um wahr zu sein, werden sich dagegen viele Fernehzuschauer in den Weiten Russlands gedacht haben. Denn sie kennen die Wirklichkeit im Land, wissen, dass hier ein Sündenbock - stellvertretend für eine ganze Berufsgruppe - ausgeguckt worden ist. Und der ihnen deshalb ganz bestimmt nicht Leid tut. An den Vorwürfen wird wohl schon was dran sein...

    An dieser Stelle aber zu unserem Buchtipp für heute:

    Es gibt eine Art Literatur, die hinterlässt beim Leser ein Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, der Wut - oder der bitter-zynischen Resignation. Zwei solcher Bücher sind gerade erschienen. Sie beschäftigen sich mit "Korruption" und "Kriminalität".
    Die Unterzeile "Ein russisches Panorama" trifft präzise den inhaltlichen Kern einer Jahrhunderte währenden Geschichte der Korruption in Russland, die jetzt die seit über einem Jahrzehnt in Moskau lebende Journalistin Kerstin Holm vorgelegt hat. Ihre manchmal vielleicht ein bisschen überspitzt anmutenden kritisch-scharfen Bemerkungen zur Psychologie, zur Mentalität der Russen als kollektives Phänomen und deren aktives wie passives Verhältnis zur Korruption über die Jahrhunderte hinweg verraten in erster Linie eines: Holm hat auf der Basis ihres slawistischen Fachwissens ihre russische Umwelt lange und aufmerksam beobachtet und ist daher immun(geworden?)gegen jedwede Art westlich-romantisierender und so gern kapitulierender Entschuldigungsbereitschaft gegen unangenehme Eigenschaften, auf die man bei einem russischen Gegenüber selbstverständlich auch stoßen kann. Das unsägliche Klischee nach dem Motto:"...ach, diese rätselhafte russische Seele...", das hat noch nie funktioniert.
    Einen plastisch anschaulichen Begriff erfindet Holm, wenn sie zum Beispiel vom letztlich sich selbst bestehlenden "Klepto-Infantilismus" der (post)sowjetischen Kolchosbauern berichtet, die sich eigentlich schon seit jeher als entfremdete Agrar-Arbeiter verstanden haben. Dagegen steht der dornenreiche Weg der zahlenmäßig wenigen Privatbauern. Die hatten nach dem Systembruch zu Beginn der neunziger Jahre tatsächlich versucht, in Eigeninitiative auf potentiell ertragreichen aber durch Schlendrian und Misswirtschaft vernachlässigten Böden eine lohnende Existenz aufzubauen. Ernüchterndes Ergebnis: Die meisten von ihnen verfingen sich früher oder später - unausweichlich? - im Schleppnetz der Agrar-Mafia und der mit ihr verbündeten und verfilzten korrupten Bürokratie.
    Beeindruckend auch wie Holm im Kontext von "Das korrupte Imperium" die über Generationen hinweg vielfach gebrochene, vor allem aber mentalitätsbildende Rolle der Russisch-Orthodoxen Amtskirche aufzeigt. Eine tiefe Volksspiritualität ist der ideale Nährboden für das nicht immer segensreiche Wirken des Klerus gewesen. Mit Hilfe eines deformierenden Demutsideals hat er es geschafft, seinem rechtgläubigen Kirchenvolk solange entsagende Duldsamkeit als Diesseits-Maxime einzuimpfen bis eine der weltlichen Obrigkeit keineswegs unangenehme verinnerlichte Passivität bei vielen russischen Untertanen das Ergebnis war.
    Holms kleine Sozial- und Kulturgeschichte, die das Moskowiter Riesenreich entlang des höchst aktuellen Phänomens "Korruption" untersucht, sollte allen mit Scheuklappen versehenen unkritischen Russland-Bewunderern auf den Nachttisch gelegt werden. Aber auch jenen sich immer wieder aus der deutschen Politik und Wirtschaft rekrutierenden notorischen Gesundbetern der jeweiligen Macht im Kreml sei die Lektüre empfohlen. Nicht um sie vor Russland abzuschrecken - Kerstin Holms historisch unterfütterte Analyse der Korruption in Russland kann auf sehr lesenswerte Weise zu einer freieren Sicht auf die Realitäten bei unserem großen Nachbarn im Osten beitragen.
    Eine anders angelegte aber ebenso spannende, ungeschminkte und oft bewusst gegen eingefahrene politisch-korrekte Denkschemata verstoßende Episodensammlung aus der Chronik der russisch-osteuropäischen Organisierten Kriminalität(OK) präsentiert sich in dem nachgerade süffig geschriebenen Buch von Jürgen Roth: "Gangster aus dem Osten - Neue Wege der Kriminalität". Der Band beeindruckt durch seinen Faktenreichtum, durch sein stellenweise mikroskopisch sezierendes Aufdecken der vielfältigen, verschachtelten und miteinander verflochtenen OK-Strukturen, die sich schon vor Jahren von Zentralasien aus über die Republiken der ehemaligen Sowjetunion bis nach Deutschland und Europa ausgebreitet haben. Vergleichbar einem sich verborgen unter dem Waldboden vorarbeitenden Mycelgeflecht von Pilz-Kolonien hat sich inzwischen westlich der russischen Landesgrenzen ein Netzwerk außerordentlich effizient vorgehender krimineller Strukturen etablieren können, das streckenweise Züge einer Parallelgesellschaft aufweist.
    Erschreckend dabei: Roth weist nach, wie nicht zuletzt deutsche Politiker und Spitzenbeamte aus Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern sowie aus den Nachrichtendiensten tatkräftig mitgeholfen haben, diesen bereits weit über ein Jahrzehnt andauernden Prozess zu begünstigen - sei es aus Fahrlässigkeit, sei es aus Blauäugigkeit, sei es aus sich pragmatisch gebender, politischer Opportunität und Feigheit. Spielt inzwischen auch Vorsatz eine Rolle?
    War es früher Boris Jelzin, so ist es heute Russlands Präsident Wladimir Putin und dessen Regierung, denen - wie Roth dokumentiert – um guter bilateraler Beziehungen Willen unangenehme Nachfragen nach dem weithin sanktionsfreien Schalten und Walten hochkarätiger russischer Krimineller erspart werden sollen.
    Roths im Klartext formulierte Anmerkungen über das gern als heikel und sensibel verdrängte Problem der russische OK und ihrer Beziehungen zu deutschstämmigen Aussiedlern stimmen ebenso nachdenklich wie seine Schilderungen brutaler russischer Gefängnissitten unter jenen Häftlingen, die aus der Ex-Sowjetunion stammen, nicht selten unter Hinweis auf ihre deutsche Herkunft übersiedelt sind, dann straffällig wurden und nun in bundesdeutschen Justiz-Vollzugsanstalten eine kriminelle Karriere ganz spezifischer Art durchlaufen.
    Bei Roths Buch haben wir es mit einer kompilatorischen Fleißarbeit zu tun, die - und darin liegt ihr Wert – eine Menge aussagekräftiges Material darüber liefert, wie die Maschinerie der osteuropäischen OK einst konstruiert worden ist und wie sie sich unter Zuhilfenahme moderner, global angelegter Wirtschaftsstrategien zu einem GUS-Exportschlager ganz eigener Qualität entwickelt hat. Ein Befund, den im Nachwort auch Hermann Lutz, der deutsche Präsident der Europäischen Polizeigewerkschaften, als Praktiker ausdrücklich bestätigt.


    Vorgestellte Bücher:

    Orlando Figes: Nataschas Tanz - Eine Kulturgeschichte Russlands; Berlin-Verlag, Berlin, 2003, 720 Seiten, 39,80 Euro
    Rezensent: Peter Josef Bock

    Florian Hassel Der Krieg im Schatten - Russland und
    (Hrsg.): Tschetschenien; Suhrkamp, Frankfurt/M., 2003, 257 Seiten, 11,00 Euro
    Rezensent: Ekkehard Maass

    Vitalij Volkov Kabul - Kaukasus ("Kabul - Kavkaz")
    Vagrius-Verlag, Moskau, 2003,
    587 Seiten, 10,00 Euro
    Rezensentin: Elena Beier

    Buchtipps:

    Kerstin Holm Das korrupte Imperium - Ein russisches Panorama; Carl Hanser Verlag, München/Wien, 2003, 263 Seiten, 19,90 Euro

    Jürgen Roth Gangster aus dem Osten - Neue Wege der Kriminalität, Europa-Verlag, Hamburg, 2003, 317 Seiten, 17,90 Euro