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Bundespolitik
"Weder Merkel noch Schulz werden noch mal Kanzlerkandidat"

Der Historiker Paul Nolte glaubt, dass sich die Ära von Angela Merkel dem Ende zuneigt. Er halte es für wahrscheinlich, dass sie früher aus dem Amt scheiden werde - und bei Neuwahlen erst gar nicht antreten würde, sagte er im Dlf. Auch für SPD-Chef Martin Schulz seien die Aussichten nicht gut.

Paul Nolte im Gespräch mit Peter Sawicki |
    Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) in einer Bildkombo
    Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) (AFP Photo / Odd Andersen / Fred Tanneau)
    Sowohl Merkel als auch Schulz seien derzeit nur "auf prekäre Weise stabilisiert", sagte Nolte. Auf mittlere Sicht seien die Aussichten für sie nicht gut. "Wenn es Neuwahlen gibt im Jahre 2019, vielleicht auch Ende 2018, dann werden wahrscheinlich weder Schulz noch Merkel Kanzlerkandidaten ihrer Parteien sein".
    Die Karrieren von Merkel und Schulz hätten sich in diesem Jahr geähnelt, meint Nolte. Für beide habe es sowohl Erfolg als auch Scheitern gegeben. Für Schulz gehe es jetzt aber um alles oder nichts, während Merkel auf eine Ära zurückblicken könne, die sie geprägt habe. Sie stehe in einer Reihe mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Sie müsse allerdings aufpassen, dass sie den richtigen Moment ihres Abgangs nicht verpasse.
    Schulz hat auf die falschen Pferde gesetzt
    Schulz habe sich im Vorfeld der Wahl überschätzt, meint Nolte. Er habe nach der Euphorie über gute Umfragewerte und das gute Ergebnis bei seiner Wahl zum Parteichef realistisches Urteilsvermögen missen lassen. Zudem habe er im Wahlkampf auf die falschen Pferde gesetzt. So habe er etwa das Thema Europa versucht zu verstecken: "Man hatte manchmal den Eindruck, da tritt jemand etwas verdruckst auf und will seine europäische Herkunft in den Hintergrund rücken".

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Sawicki: Die potenziellen Koalitionspartner in Berlin dürfen sich über folgende Zahlen sicher nicht freuen: Laut einer Umfrage wünscht sich mittlerweile jeder zweite Deutsche, dass Angela Merkel keine weiteren vier Jahre mehr im Kanzleramt bleibt, und eine andere Befragung kürt Martin Schulz, den SPD-Chef zum Verlierer des Jahres 2017. Gestärkt gehen Union und die Sozialdemokraten also nicht unbedingt in die Sondierungsgespräche in gut einer Woche, und ob die Große Koalition wieder zustande kommt ist angesichts der Position der CSU auch noch nicht klar.
    Auf die Personalien Angela Merkel und Martin Schulz wollen wir jetzt noch einmal genauer blicken, und zwar mit Paul Nolte, er ist Zeithistoriker an der Freien Universität Berlin. Schönen guten Tag, Herr Nolte!
    Paul Nolte: Schönen guten Tag, Herr Sawicki!
    "Die Karriereverläufe der beiden haben sich geähnelt"
    Sawicki: Merkel oder Schulz – wer ist in diesem Jahr der größere Verlierer?
    Nolte: Also Verlierer des Jahres Schulz, das klebt natürlich wie Pech auch in der öffentlichen Wahrnehmung an diesem Mann, aber ich finde eigentlich auffällig, dass die Karrieren der beiden, die Karriereverläufe der beiden sich im letzten Jahr doch auch geähnelt haben. Für beide ist es in gewisser Weise ein paradoxes Jahr gewesen – Erfolg und Scheitern zugleich, natürlich für Schulz in besonders ausgeprägter Weise, dieser Aufstieg aus dem Nichts, nach ganz oben geschossen, dann der tiefe Fall und eben kurz vor dem Boden noch mal aufgefangen. Bei Angela Merkel natürlich von einem ganz anderen Ausgangsniveau aus auch, ein relativer Erfolg. Sie hat ihre Position behauptet, und dennoch ist deutlich geworden, dass die Ära Merkel sich dem Ende zuneigt. Also in gewisser Weise können sich die beiden in die Augen schauen und sagen, na, wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam.
    Sawicki: Hat Merkel aber nicht einfach auch mehr zu verlieren, wenn Sie sagen, dass sie eben von diesem höheren Niveau sozusagen aus gestartet ist und möglicherweise dann vorzeitig aus dem Amt scheiden wird?
    Nolte: Die Frage ist eine der Perspektive, und was vorzeitig aus dem Amt, nach zwölf Jahren Kanzlerschaft – vielleicht mögen es auch 13 oder 14 werden, wenn man auf die Mitte der laufenden Legislaturperiode schaut – heißt oder nach einer Zeit des Parteivorsitzes, die dann, wenn wir 2018 schon mal als Marke nehmen, dann 18 Jahre, fast zwei Jahrzehnte andauert, ist also eine ganz andere … dann eben doch wieder eine ganz andere Konstellation als bei Martin Schulz. Für Martin Schulz geht es um alles oder nichts – bleibt er die Sternschnuppe in der Geschichte der SPD? Bei Angela Merkel ist es so, sie hat eine Ära geprägt, es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik … wie man Angela Merkel jetzt findet oder die gegenwärtige Politik als zu liberal oder zu konservativ aus linker oder rechter Warte beurteilen mag, aber sie steht in der Geschichte der CDU mehr oder weniger gleichrangig hinter Konrad Adenauer und Helmut Kohl, und für die CDU geht es darum, eine Anschlussperson zu finden, die diesen Weg der Stabilität, der die Partei geprägt hat, möglicherweise fortsetzen wird.
    Merkel darf den richtigen Moment nicht verpassen
    Sawicki: Wenn ich da mal kurz einhaken darf: Sie haben Konrad Adenauer, Helmut Kohl erwähnt, denen wird ja auch nachgesagt, dass sie sozusagen die Bühne nicht rechtzeitig verlassen haben und das am Ende ihrem politischen Ansinnen ja auch geschadet hat. Wie groß ist da die Gefahr bei Merkel jetzt, dass das ähnlich verläuft?
    Nolte: Die Gefahr ist groß. Man will es immer angeblich selber anders machen, aber den richtigen Moment zu erwischen, das ist nach aller Erfahrung auch im politischen Geschäft natürlich objektiv schwierig. Jede Ansage …
    Sawicki: Hat sie ihn verpasst, den richtigen Moment, schon?
    Nolte: Ich glaube, im Moment nicht, aber der richtige Moment, der kommt möglicherweise, wenn entweder eine neue Regierung gebildet wird und eine Große Koalition verabredet wird im Frühjahr, dann könnte Angela Merkel sagen, so, ich mache noch zwei Jahre, und dann machen wir einen Kanzlerwechsel in der Mitte der Legislaturperiode, oder es läuft auf Neuwahlen zu, und wenn diese Neuwahlen, sagen wir, im Herbst des kommenden Jahres stattfinden, dann wäre der richtige Moment wahrscheinlich zu sagen, jetzt mit einem anderen Kanzlerkandidaten oder einer anderen Kanzlerkandidatin. Also in den nächsten Wochen und in den Koalitionsverhandlungen geht es für sie auch darum, wie ernst nehme ich diese Ansage, diesen Fehler von Adenauer und Co. nicht zu wiederholen für mich.
    CDU: Bedürfnis nach "Pendelbewegung" zurück zum Konservativen
    Sawicki: Martin Schulz hat Angela Merkel ja im Wahlkampf ja vorgeworfen, einen Anschlag auf die Demokratie verübt zu haben durch ihre Politikart per se. Hat das mittlerweile so ein bisschen auch gefruchtet in der öffentlichen Wahrnehmung?
    Nolte: Ach, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass dieses Urteil von Martin Schulz doch eher auch gegen ihn selbst wie ein Bumerang zurückgekommen ist, aber es gibt ein Gefühl – das haben ja auch die Umfrageergebnisse gezeigt, die Sie vorhin in dem Beitrag zitiert haben –, es gibt mittlerweile ein Gefühl der Ermüdung, der Unzufriedenheit aus unterschiedlicher Seite, in der CDU gibt es doch auch das Bedürfnis, deshalb wird ja auch so viel über den neuen Shootingstar Jens Spahn gesprochen, nicht nur nach einem Generationswechsel, sondern vielleicht auch nach einer gewissen moderaten Pendelbewegung der Partei wieder zurück zum Konservativen, um es etwas abgekürzt zu sagen, was mehr Unterscheidung von der Sozialdemokratie, und das wäre ja vielleicht auch etwas, was der politischen Kultur des Landes insgesamt guttun könnte, in der wir uns mehr Konflikt wieder wünschen statt mehr Konsenssoße.
    Sawicki: Herr Nolte?
    Nolte: Ja?
    Sawicki: Okay, da war kurz die Leitung ein bisschen unterbrochen.
    Nolte: Ich bin da.
    Sawicki: Sie haben erwähnt, Jens Spahn, und dann der Wunsch nach mehr Profilierung, mehr konservativer Profilierung, aber genau dieser Stil von Angela Merkel, eben diese Verwässerung sozusagen des Konservativen in der CDU, das ist ja nicht neu, das ist ja im Prinzip schon seit diesen zwölf Jahren vorhanden. Warum kommt jetzt diese Unzufriedenheit mit Angela Merkel?
    Nolte: Das hat ganz klar mit dem Wahlergebnis natürlich zu tun. Das Wahlergebnis ist ein Scheitern gewesen, ein harter Absturz, und da hat sie auch im Umgang damit eindeutig Fehler gemacht, indem sie nicht klar genug am Wahlabend kommuniziert hat, dass da etwas passiert ist, etwas Einschneidendes, es geht nicht so weiter nach diesem Absturz von über 40 auf gerade mal etwas über 30 Prozent. Es sind Fehler gemacht worden in der Kommunikation zumindest der Flüchtlingspolitik, des Umgangs mit der Flüchtlingsfrage in unserer Gesellschaft, selbst wenn man sich für eine relativ liberale Flüchtlingspolitik ausspricht und einen großen Konsens auch in Deutschland in der Zivilgesellschaft darüber, dass wir mit dieser Offenheit auch ganz gut gefahren sind und dazu auch stehen wollen, aber da sind Fehler passiert, und dann ist es eben auch, drittens, der Ermüdungsfaktor: nach zwölf Jahren oder 18 Jahren im Parteivorsitz aus der Perspektive der Partei gesehen will man irgendwann auch ein anderes, ein neues Gesicht sehen.
    "Schulz hat sich überschätzt"
    Sawicki: Welche Fehler hat Martin Schulz aus Ihrer Sicht gemacht im Wahlkampf?
    Nolte: Er hat zunächst einmal den Fehler gemacht, auch sich zu überschätzen und die Euphorie auch zu überschätzen, die er mitgenommen hat aus diesen Umfrageergebnissen, die Anfang des Jahres, als er auf den Schild gehoben wurde als Kanzlerkandidat, auch als Parteivorsitzender, ihm so viel Rückenwind gegeben haben, und da hat er es auch an realistischer Urteilsfähigkeit vermissen lassen, und dann hat er …
    Sawicki: Woran machen Sie das fest, an welchen Themen machen Sie das fest?
    Nolte: Nicht zuletzt an den Themen Europa und Flüchtlingsfrage. Er hat dann auf die falschen Pferde gesetzt. Er hat das Thema Europa nicht in der Weise profiliert, eher versteckt, wie er es hätte tun können, vielleicht kam da auch etwas die Unsicherheit zum Ausdruck. Ich komme jetzt hier aus Brüssel, bin der Mann, der … ja, mit was eigentlich. Mit dem europäischen Strahlenkranz, als ein Botschafter einer Erneuerung der EU, oder man hatte manchmal auch den Eindruck, da tritt jemand etwas verdruckst auf und will seine europäische Herkunft auch in den Hintergrund rücken, weil es eben auch diese Vorbehalte gegenüber Europa und nicht zuletzt gegenüber der Brüsseler Eurokratie, wie man dann kritisch oft sagt, gibt, und da hat er sich doch sehr uneindeutig verhalten.
    "Beide sind auf prekäre Weise stabilisiert"
    Sawicki: Sie haben es jetzt schon anklingen lassen bei Angela Merkel, um da noch mal drauf zurückzukommen, dass sie möglicherweise demnächst ja, wenn es zur neuen GroKo kommen sollte, auch schon so ein bisschen die eigene Nachfolge regeln könnte. Gehen Sie also auch nicht davon aus, dass Merkel vier Jahre noch mal im Amt bleibt?
    Nolte: Ich würde nicht darauf wetten, aber die Wahrscheinlichkeit halte ich für groß. Ich würde mich dem vorhin zitierten Kollegen Korte anschließen, dass ein Austausch im Parteivorsitz an der einen oder anderen Stelle wahrscheinlich ist, weil Angela Merkel ebenso wie möglicherweise in der SPD beide – und da verbinden sich die Karrierewege beider Parteivorsitzender und Kanzlerkandidaten wieder – … beide sind auf prekäre Weise zunächst einmal stabilisiert, aber die Aussichten für beide auf mittlere Sicht halte ich für nicht gut, und beide werden ihren Hut nehmen müssen. Ich würde sagen, wenn es Neuwahlen gibt im Jahre 2019, vielleicht auch Ende 2018, dann werden wahrscheinlich weder Schulz noch Merkel Kanzlerkandidaten ihrer Parteien sind.
    Sawicki: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Zeithistoriker Paul Nolte. Vielen Dank, dass Sie Zeit für uns hatten!
    Nolte: Vielen Dank, Herr Sawicki!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.