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Bundestagswahl
Diskussion über Wahlrecht für Menschen mit Behinderung

Exklusion statt Inklusion: Bei der Bundestagswahl dürfen Menschen mit einer geistigen Behinderung kein Kreuzchen machen. Dabei wurde der umstrittene Wahlrechtsausschluss schon von einigen Bundesländern abgeschafft. Auch in 14 EU-Staaten dürfen sie wählen. Zeit für einen Wandel?

Von Moritz Küpper | 17.08.2017
    Auf einer Pressekonferenz zum Vorbereitungsstand der Bundestagswahl im Land Brandenburg wird am 02.09.2013 in der Staatskanzlei in Potsdam (Brandenburg) eine Lochschablone für Sehebehinderte und ein Stimmzettel für die Wahl gezeigt. Der Landeswahlleiter Küpper rief auf der Pressekonferenz die Bürger auf, am 22. September von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.
    Zwar gibt es, wie hier zu sehen, Stimmzettel für Blinde. Menschen mit einer geistigen Behinderung sind aber von der Bundestagswahl ausgeschlossen (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Es ist Montag, Ruhetag im Niederrheinischen Freilichtmuseum in Viersen. Julian Peters, 29 Jahre alt, gelbes Trikot von Borussia Dortmund mit Nuri Şahins Namen auf dem Rücken, führt durch den Tante-Emma-Laden, in dem er seit ein paar Wochen arbeitet:
    "Das ist unsere Spülküche hier. Spülmaschine haben wir auch noch da."
    Peters hat Down-Syndrom. Ruhetag, das heißt für ihn und seine Kollegen: Aufräumen und Vorbereiten.
    "Fensterläden putzen. Auch noch draußen. Mittagessen vorbereiten. Und die Kuchen backen. Marmorkuchen, kalter Hund. Nussecken haben wir auch noch gemacht. Wenn du da reinguckst."
    Julian Peters, 29 Jahre alt, gelbes Trikot von Borussia Dortmund mit Nuri Şahins Namen auf dem Rücken, führt durch den Tante-Emma-Laden der Elterninitative "Kindertraum Menschenleben", in dem er seit ein paar Wochen arbeitet.
    Julian Peters arbeitet in einem Tante-Emma-Laden. Er interessiert sich nicht nur für Fußball, sondern auch für Politik. Von der Bundestagswahl ist er als Geistig-Behinderter aber ausgeschlossen (Deutschlandfunk / Moritz Küpper)
    Die Elterninitiative "Kindertraum"[*] hat den kleinen Laden innerhalb des Museums, in dem auf 4,5 Hektar bäuerlich-handwerkliches Kulturgut des Niederrheins gezeigt wird, übernommen. Der Hof ist Julian Peters Arbeitsplatz, da kennt er sich aus, genauso wie mit Borussia Dortmund und dem Fußball: Torschützen von vor über zehn Jahren? Kein Problem. Peters zieht sein Handy aus der Tasche.
    "BVB-App habe ich auch hier, gucke ich immer die Nachrichten. 2011/2012 waren wir Deutscher Meister."
    Peters weiß fast alles über Schwarz-Gelb. Aber Fußball ist nicht das einzige Thema, das ihn interessiert – auch Politik, findet er spannend:
    "Gucke ich immer im Fernsehen, immer. Von Irak oder Krieg."
    Exklusion statt politischer Mitbestimmung
    Bei der kommenden Bundestagswahl hilft ihm dieses Wissen nicht: Julian Peters darf nicht wählen, er ist von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Mit 17 Jahren durfte er zwar schon einmal bei der Kommunalwahl in Nettetal, seinem Wohnort am Niederrhein, ein Kreuzchen machen, doch mit 18 Jahren übernahmen seine Eltern das Betreuungsrecht – und Peters verlor sein Wahlrecht. Ludger Peters, der Vater, findet das nicht in Ordnung:
    "Ich glaube, dass in dem Augenblick eine Grenze gezogen worden ist, die ich nicht für gerechtfertigt halte."
    Ludger Peters sitzt in dem holzvertäfelten Tante-Emma-Laden, in dem sein Sohn arbeitet.
    "Also, wir sind als Eltern und sein Bruder eben auch für alle Angelegenheiten gerichtlich bestellt, als Betreuer. Aber auf der anderen Seite sehe ich das nicht als Ausschließungsgrund dafür, dass er seine eigene politische Meinung beispielsweise im Rahmen einer Wahl ausdrücken darf."
    84.000 Menschen in Deutschland dürfen nicht wählen
    Er ist Journalist, hat lange für eine Regionalzeitung vom Niederrhein berichtet. Durch die Geburt von Julian wurde er auch zum Aktivist, er ist Vorsitzender des Vereins "Kindertraum"[*]. Bei Julians Geburt schwor er sich eines: Er wird alles tun, damit sein Sohn alles tun kann. Deswegen ging Julian Peters auf eine Regelschule, deswegen arbeitet er nun hier. Und deswegen soll er bald wählen können – und mit ihm rund 84.000 Menschen bundesweit, die ebenfalls vom Wahlrechtsausschluss betroffen sind:
    "Bei unserem Sohn Julian erlebe ich das immer wieder, wenn wir uns unterhalten, dass er also durchaus eine dezidierte politische Meinung hat. Dass er in bestimmten Dingen auch durchaus, ja, politisch durchdringt um was es geht für ihn. Und ich finde, dass er da durchaus das Recht haben sollte, beispielsweise an einem Wahltag über den Wahlzettel zu beugen und einer bestimmten Stelle sein Kreuz zu machen."
    In NRW wurde der Wahlrechtsausschluss 2016 abgeschafft
    Wie Mitte Mai. Denn: In Nordrhein-Westfalen wurde der Wahlrechtsausschluss im vergangenen Jahr gekippt, Julian Peters durfte wählen. Erstmals auf Landes-Ebene, mit Ende 20. Der WDR begleitete Julian Peters und seinen Vater damals auf einer kleinen Wahlplakate-Tour durch seinen Wohnort:
    "Kraft ist besser. Frau Kraft, weil gut ist. Weil die eine coole Stimme hat, die ist nett. Die arbeiten auch immer mit Leuten zusammen."
    "Und so eine Partei und solche Politiker sind Dir wichtig, oder?"
    "Hm."
    Können geistig Behinderte zu schnell manipuliert werden?
    Julian Peters mochte auch die Turnschuhe von FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner. Armin Laschets Plakat war ihm ebenfalls sympathisch. Was nach einem ganz normalen Entscheidungsprozess klingt, kriegt in seinem Fall, durch die Schulung des Vaters, den Klang von Beeinflussung. Fragt der Vater zu suggestiv? Ludger Peters selbst war und ist sich dieses Problems bewusst, übte vor der Landtagswahl mit seinem Sohn daher vor allem auch die handwerklichen Schritte: Wahlbenachrichtigung erhalten, den Unterschied von Erst- und Zweitstimme.
    "Ja, er hat dann sehr stolz und mit großer Zielstrebigkeit, hat er also den Wahlvorgang vorgenommen."
    Julian nickt.
    "Hm, jetzt nicht mehr. Sagt mein Vater zu mir."
    Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht
    Anders sieht es in Ländern wie Österreich, den Niederlanden und weiteren zwölf EU-Staaten aus. Dort existieren keine pauschalen Wahlausschlüsse. Auch hierzulande läuft aktuell eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht, über die noch in diesem Jahr entschieden werden soll.
    Auch Peters zweiter Sohn, Philipp, 35 Jahre alt, sitzt mit am Tisch im Freilichtmuseum. Er ist Pressesprecher bei der Lebenshilfe in Nordrhein-Westfalen. Das Ende des Wahlrechtsausschluss in NRW, es ist auch ein Verdienst seiner Organisation – und stellt ihn jetzt vor neue Herausforderungen. Beruflich, wie privat:
    "Weil, das ist einfach in Nordrhein-Westfalen eine widersprüchliche Situation in diesem Jahr. Man darf auf Landesebene wählen, aber eben bei der Bundestagswahl darf eine bestimmte Gruppe nicht wählen."
    Eine Änderung aber hätte direkt Wirkung: "Weil mehrere Parteien Programme in leichter Sprache angeboten haben." Und berücksichtigt wird. Denn: Die Zahl der geborenen Kinder mit Down-Syndrom nehme aufgrund der Voruntersuchungen und eventuellen Abtreibungen ab, so Ludger Peters:
    "…, dass Institutionen wie Krankenkassen oder andere irgendwann mal sagen werden: Sag mal, ihr hattet die Möglichkeit, vorgeburtlich festzustellen, ob ihr ein behindertes Kind in die Welt setzt, wir sind aber gesellschaftlich nicht bereit, die Kosten langfristig dafür zu tragen."
    Nicht nur gesellschaftliche, auch politische Inklusion
    Und da zeige sich, wie wichtig es sei, in einer solchen Debatte auch eine Stimme zu haben – auch und gerade im Wahllokal:
    "Also, in dem Moment, wo ich den Menschen Wahlrecht gebe, ist das ja nicht nur ein Zeichen dafür, dass sie an dieser Gesellschaft teilnehmen können, sondern ich akzeptiere sie ja auch in ihrer Verschiedenheit und sehe sie dann eben nicht als Belastung, sondern ich profitiere ja auch davon, dass sie auch selbst ihren politischen Willen äußern."

    [*] Anm. d. Red.: An zwei Stellen wurde der Name des Elternvereins korrigiert.