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Cahiers - Aufzeichnungen

Leben und Denken Simone Weils, die 1943 im englischen Exil im Sanatorium in Ashford an Lungentuberkulose, Unterernährung und Weltüberdruß starb, haben in ihrer Absolutheit und Radikalität in unserem Jahrhundert nicht ihresgleichen. Kurz vor ihrem Tode notiert sie in das berühmte "Londoner Notizbuch", das den Abschluß der "Cahiers" bildet: "Nachdem ich jede Art von Existenz vollständig aufgegeben habe, nehme ich die Existenz an, wie immer sie auch beschaffen sein mag, nur durch Übereinstimmung mit dem Willen Gottes."

Jürgen Wolf |
    Simone Weil wurde 1909 in Paris als Tochter jüdischer Eltern geboren. Schon als 15jährige beschäftigte sie sich eifrig mit Philosophie und engagierte sich in der Arbeiterbewegung. Als sie sich mit ihren theoretischen Studien in einer Sackgasse wähnte, suchte sie durch schwerste körperliche Arbeit Befreiung daraus. 1934 arbeitete sie in einer Elektrofabrik; 1935 dann in einer Metallfabrik und schließlich am Fließband bei Renault. Die wichtigste Erkenntnis aus der Fabrikzeit war, daß sie sich mit ihrer Arbeit als Sklavin fühlte. Die erste intensive Erfahrung mit dem Katholizismus hatte sie im selben Jahr, als sie in einem portugiesischen Fischerdorf die Prozession und Gesänge zu Ehren des örtlichen Schutzpatrons erlebte. "Da empfand ich ganz plötzlich die Gewißheit, daß das Christentum schlechthin die Religion der Sklaven ist, daß Sklaven gar nicht anders können, als ihr anzugehören, und ich mit ihnen."

    Von diesem Tag an wurde ihre Philosophie ganz allmählich zur individuellen und gesellschaftlichen Erlösungslehre im Sinne des Christentums. Zu einer Taufe konnte sich die Jüdin Simone Weil jedoch nie entschließen, da sie die Kirche als gesellschaftliche Institution leidenschaftlich ablehnte.

    Die "Cahiers" begann sie als Arbeitshefte und Ideensammlung für große Buchpublikationen. Besonders im vierten Band wirken ihre Aufzeichnungen wie freie, fast tranceartige Assoziationen und Variationen ihrer zentralen Themen. Mit Anleihen aus der altgermanischen Edda, der ägyptischen Mythologie und vor allem aus Hinduismus, Buddhismus und der griechischen Philosophie bis Platon meditiert sie dort immer wieder die für sie entscheidenden Stellen des Alten und Neuen Testaments. In aller Deutlichkeit zeigt vor allem dieser letzte Band der "Cahiers", wie sehr Simone Weil mit ihrer gesamten Existenz auf göttliche Erlösung zusteuerte. Demut, Mitleid, Geduld, Liebe und Gehorsam sind Begriffe, die sie immer wieder mit ihren Erkenntnissen füllt, und die sie zu ewigen und absolut gültigen Wahrheiten erheben will. Sie führen aus der Sicht Simone Weils hin zum Guten, das für sie noch vor Platos Idee des Seins identisch ist mit Gott. Im Oktober 1942, jenem Monat, in dem sie allein 250 Druckseiten zu Papier brachte, schreibt sie: "Geduld die imstande ist, Gott zu ermüden, geht aus einer unendlichen Demut hervor. Demut gibt uns Macht über ihn. Allein das vollkommen leere Nichts kann sich mit dem vollkommen dichten Sein vereinigen. Allein duch Demut können wir vollkommen sein wie unser Vater. Dazu braucht man ein vollständig zermalmtes Herz."

    Leid und Selbstaufgabe sind für Simone Weil, ganz in Übereinstimmung mit den meisten Mystikern, Voraussetzungen, zu einer Vereinigung mit Gott zu gelangen. Doch allzu schnell reihen die Experten unserer Zeit die Französin in den offiziellen Chor der christlichen Mystiker ein. Zumindest in den "Cahiers" beschreibt sie nicht eine einzige vereinende Erfahrung mit Gott oder Christus. Sie formuliert Annäherungen und Möglichkeiten, wie die Gnade Gottes zu erlangen sei. Ebenfalls im Oktober 1942 notiert sie: "Mit Geduld die Geduld Gottes erschöpfen. Jemandem, der reglos verharrt und mit gleicher Fügsamkeit auf das Gute, das Böse oder die Abwesenheit von allen beiden wartet, kann Gott nur das Gute tun. (...) Tantalus ist zu dumm, um selbst in der Ewigkeit der Zeit zu lernen, daß seine Anstrengungen ganz bestimmt nutzlos sind, und er deshalb besser in Reglosigkeit verharren sollte. (...) Die Menschheit als ganze ist Tantalus. (...) er wird von der Wut und verzehrendem Durst gepackt, trinkt aus dem Fluß, in dem er sich befindet, und schluckt nur Staub. Genau so bin ich sehr oft."

    Je näher der Tod rückt, desto weiter entfernt sich Simone Weil von jeder möglichen Begegnung Gottes in dieser Welt. Besonders unter dem Eindruck der Schrift "Die dunkle Nacht" des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz kommt sie mehr und mehr zu der Überzeugung, daß gerade die Nichterfahrung Gottes, die Dunkelheit der Seele, das Leid und das Unglück in diesem Leben auf die spätere Vereinigung mit Gott vorbereiten. In Heft 17 formuliert sie diese Erkenntnis: "Wenn der Gefangene im Dunkel ist, hat er das Gefühl zu sehen, aber im Dunkel zu sein; was richtig ist. Aber wenn er ins Licht tritt, das ihn blendet, hat er den Eindruck, blind zu sein. Das ist es, was Johannes vom Kreuz das Gefühl der Verdammnis nennt. (...) Bei jedem Schicksalsschlag sich selber sagen: "Ich werde bearbeitet." Bei jedem kleinen und großen Leid."

    Die Jüdin Simone Weil sprach nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, ihrer Emigration nach Amerika und England im Jahr 1942 und den Leiden an Körper und Seele diese Sätze aus der Mitte ihrer eigenen Existenz. Die ehemalige Aktivistin der Arbeiterbewegung besteht auch in ihren letzten Cahiers auf einem sozialen Glauben, der in aktives Leben verwandelt werden muß. Rein theoretische Philosophie und Theologie sind ihr zuwider. Sie schreibt dazu im 17. Heft: "Man muß sich also, im ganzen Maße, in dem dies möglich ist, ohne Verpflichtungen zu verletzen, unter den Einfluß irdischer Antriebe stellen. (...) Das ist mehr oder weniger das, was ich bisher instinktiv getan habe."

    Sie bleibt in jeder geschriebenen Zeile eine christliche Philosophin des sozialen Engagements. Vehement lehnt sie sich auf gegen alle unwahren gesellschaftlichen Strukturen, die für sie nichts weiter sind als Betriebe zur Unterdrückung der Massen. Auch die katholische Kirche ist für Simone Weil ein Teil dieses Unterdrückungssystems. Sämtliche Dogmen von fast blasphemischer Starrheit, wie wir das gerade heute mit dem hilflosen Beharren des Papstes auf seiner gottgleichen Unfehlbarkeit wieder erfahren können, sind in ihren Augen Verrat am wahren Glauben. In aller Radikalität und mit aller Kraft richtet sie ihr Denken und Handeln auf Christus und Gott aus. Bis zu ihrem Tode sagt sie leidenschaftlich Ja zum Christentum und Nein zur Kirche. Im 15. Heft formuliert sie unmißverständlich und nahezu programmatisch: "Die unbedingte Liebe zur Kirche ist Götzendienst."