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Catalogue raisonné: Das Gesamtwerk

Am Beginn des Oeuvres, das nun in einem opulenten Werkverzeichnis dokumentiert ist, steht ein Wunderknab Entdeckt und gefordert wurde der zwölfjährige Balthazar Klossowski in den Jahren um 1920 von Rainer Maria Rilke. Von der Begabung des Frühreifen war der Schriftsteller so sehr in den Bann gezogen worden, dass er dessen Zeichnungen über die verschollene Katze "Mitsou" in dem gleichnamigen Buch mit einer Einleitung versah. Es dauerte nicht lange, bis auch andere bedeutende Künstler aus dem Freundeskreis der Familie, darunter Pierre Bonnard, auf das Talent aufmerksam wurden. Heute zählt der hoch betagte Maler Balthus zu den singulären Erscheinungen in der Malerei des vergangenen Jahrhunderts.

Georg Imdahl |
    Dieses 20. Jahrhundert ist in allen Winkeln und Nischen ausgemessen und durchleuchtet worden, es ist verwoben durch ein dichtes Netz an Stilen und Ismen. Umso mehr wissen wir inzwischen die seltenen Viten zu schätzen, die in diesem Raster nicht greifbar sind - künstlerische Standpunkte, die ganz eigene und unverwechselbare Koordinaten entfachen wie etwa, vor allen anderen, Picasso, aber auch Maler wie Giorgio Morandi oder Edward Hopper. Eine solche Position markiert auch das Werk von Balthus, der 1908 als Sohn polnisch-russischer Eltern und Bruder des späteren Schriftstellers Pierre Klossowski geboren wurde.

    Bekannt, wenn auch noch immer nicht rundum berühmt geworden ist Balthus mit seinen tagträumerischen, durchaus aufreizenden Akten aus der Zeit seit den dreißiger Jahren. Es war 1934, als die Pariser Galerie Pierre das Gemälde "La Leçon de guitarre", die "Gitarrenstunde", ihren Besuchern nur im Hinterzimmer zumuten wollte.- So irritierend, provokativ, ja verstörend erschien das Bild der Schülerin mit der entblößtem Scham, die auf dem Schoß der Lehrerin liegt und von dieser zur Räson gebracht wird.

    Kein künstlerisches Werk bleibt unbeeinflusst von seiner Gegenwart, doch auch wenn man alle damals virulenten Strömungen Revue passieren lässt - von der Pittura metafisica über die Neue Sachlichkeit und den Magischen Realismus bis zu den vielfältigen Spielarten des Surrealismus -, so wird man. darüber den Geheimnissen der Bildwelten Balthus' kaum auf die Spur kommen. Das gilt auch für andere seiner Hauptwerke - so zum Beispiel für die trancehaften Stadtlandschaften wie die "Straße", einem Gemälde im New Yorker Museum of Modern Art, oder die "Passage du Commerce-SaintAndré", befindlich in Privatbesitz, Bilder, welche den Außenraum in höchst seltsamer Weise in die Stimmung eines Interieurs verwandeln. Das 20. Jahrhundert kennt nur wenige Künstler, bei denen sich der Bogen der Inspiration so weit in die Geschichte der Malerei zurückspannt und dabei eine so herausfordernd anachronistische, einzelgängerische Spannkraft zu entfalten vermag.

    Der nun vorliegende "Catalogue raisonné" verzeichnet neben rund 350 Gemälden - Porträts, Landschaften, Stillleben und Mädchenakte rund tausend Zeichnungen und etwa fünfzig Skizzenbücher, Buchillustrationen und Bühnenentwürfe. Dokumentiert wird darin ein Werk, das als verwunschnenes, altmeisterliches Kammerspiel an den politisch-geschichtlichen Zeitläuften vorbei geht und ganz und gar einer inneren Vision verpflichtet ist. Nicht zufällig taucht das Enigma von mädchenhafter Kindheit und gerade erwachender Jugend bei Balthus gerade in jenen Jahren auf, da sich ein rabiater Weltgeist in Stellung bringt und entfesselt. Der Maler selbst beschwor zeit seines Lebens die ewige Kindheit als Quelle seiner Individualität und keineswegs als subtilen erotischen Fundus - so offenbart sich Balthus als Erotiker denn auch eher in seinen grafischen Blättern als in den Gemälden.

    Der Catalogue raisonné ist nicht die erste umfangreiche Monografie iiber Balthus, die bei Schirmer/Mosel erschienen ist. Schon die Darstellung von Claude Roy mit dem Titel "Balthus - Leben und Werk" von 1996 bezeugte, dass dieser Maler einen Fall für den Connaisseur darstellt. Das nun vorliegende Werkverzeichnis wird wiederum von einem langjährigen Balthus-Kenner eingeleitet: von Jean Clair, dem Direktor des Picasso-Museums in Paris, der für seinen Essav den den sinnfälligen Titel "Der hundertjährige Schlaf" gewählt hat. Ebenso wie schon Claude LeRoy- nähert sich auch Jean Clair der rätselhaften Phantasie Balthus' und seiner kryptischen lkonografie in einem mitunter poetischen Jargon, dem die Einfühlung weitaus mehr bedeutet als die analytische Distanz. Zwischen den Zeilen seiner Annäherung spürt man fast durchweg die Leidenschaft eines Exegeten, der sich scheut, die Eindrücke dieses entrückten "Welttheaters" durch verbale Sprache zu verfestigen und zur Statik gerinnen zu lassen. Clair gelingt es, die überaus krude Modernität Balthus' gerade dort namhaft zu machen, wo die Insignien der Modernität fehlen: in der vormodernen Welt ohne Motoren und Elektrizität, Automobile und Triebwerke. "Modern", so ließen sich die Ausführungen Clairs resümieren, sind Balthus' Bildwelten deshalb, weil der Maler sich über diese längst fragwürdig gewordene Kategorie niemals den Kopf zerbrochen hat und weil der Mensch in seinem Werk gänzlich im Ungewissen bleibt über seine eigene Identität.