" Frédéric Chopin, Nocturne e-Moll (op. posth. 72 Nr. 1), Track 1 "
Willkommen zur Vorstellung einer neuen Platte des in Berlin lebenden frankokanadischen Pianisten Louis Lortie. Im Studio begrüßt Sie Johannes Jansen. Im Hintergrund zu hören ist das erste Nocturne in e-Moll noch aus der Warschauer Zeit: ganz im Stil der Vorgängerwerke von John Field, mit reicher Pedalisierung und der typischen Triolenbewegung in der linken Hand. In der Rechten lässt Chopin die Melodie parallel in sogenannten Küchenmädchenterzen laufen, was dafür spricht, dass ihm die Herkunft des Genres aus der Vokalpraxis bewusst war. Vermutlich kannte er auch jene damals weitverbreiteten "Notturni" für zwei Singstimmen zur Begleitung eines Klaviers oder einer Harfe, wie er ja überhaupt von Kindesbeinen an ein großer Freund alles Gesungenen war, gleich ob es ländliche Lieder waren oder Belcanto-Arien.
Besseres Chopin-Spiel sei nirgends zu hören, schrieb die Londoner Presse nach einem Abend mit Louis Lortie in der Queen Elizabeth Hall. Als Everybody's Chopin-Darling herumgereicht zu werden, fand er allerdings nie erstrebenswert. Erinnerungen an seine kanadische Wunderkindkarriere mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Darum hat er sich mit Ausdauer um andere Repertoire-Schwerpunkte bemüht, vor allem Ravel. Und wie einst sein großer Landsmann Glenn Gould fand er auch Geschmack an Wagner-Transkriptionen und Liszt'schen Beethoven-Bearbeitungen. Im Zentrum aber stand der Kosmos der Beethoven-Klaviersonaten - bis ihn seine Chopin-Vergangenheit schließlich doch einholte. Hier das Scherzo in cis-Moll op. 39, das Chopin 1839 seinem damals 20-jährigen deutschen Schüler Adolph Gutmann gewidmet hat.
" Frédéric Chopin, Scherzo cis-Moll (op. 39), Track 6 "
Mit glitzerndem Leggierissimo allein ist dem cis-Moll-Scherzo von Chopin nicht beizukommen, es braucht auch eine kapitale Pranke - aber von beidem nicht zu viel. Ein Überschuss an Virtuosität ist leicht loszuwerden in so einem Stück, dessen Gedrängtheit und Kontrastreichtum dazu verführen, von allem etwas zu viel hineinzugeben. Es nicht zu tun, darin zeigt sich die Reife eines Chopin-Interpreten wie Lortie. Seine "Volume 1"-CD verheißt, dass er und seine Plattenfirma Chandos, mit der er schon bemerkenswerte 25 Jahre lang "verheiratet" ist, noch große Pläne miteinander haben.
Was diese Platte aus dem kaum überschaubaren Neuerscheinungsangebot im Chopin-Jahr 2010 heraushebt, ist neben der erwiesenen Meisterschaft des Interpreten die stimmige Programmzusammenstellung. Sie schafft einen lebendigen Kontext, in dem ein Stück sich im anderen widerspiegelt, statt nur dem enzyklopädischen oder Best-of-Prinzip zu gehorchen. Jedem der vier Scherzi ist ein Nocturne in verwandter Tonart vorangestellt, wie es der Logik eines Klavierabends entspricht. Das sagt Lortie selbst und verweist darauf, dass es in einem romantischen Salon wohl niemandem eingefallen wäre, mehrere Nocturnes "en bloc" oder gar die vier Scherzi nacheinander vorzutragen. Zur Einstimmung auf gewichtigere Werke war es üblich, Überleitungen zu improvisieren. Als solche will Lortie die, gemessen an den Scherzi, pianistisch weniger anspruchsvollen Nocturnes verstanden wissen, während das letzte, passagenweise selbst wie improvisiert wirkende E-Dur-Scherzo demnach eine arg ausufernde Überleitung zur großen b-Moll-Sonate wäre. Deren letzter Satz ist freilich auch nur eine kurz hingeworfene, klavierartistische Improvisation: 1'21 dauert das Presto-Finale bloß, dann ist der Spuk vorbei.
" Frédéric Chopin, Sonate b-Moll (op. 35), 4. Satz: Presto, Track 12 "
Vier seiner tollsten Kinder habe Chopin in der b-Moll-Sonate vereint, meinte Robert Schumann. Das Finale ist zweifellos das tollste: eine fingermechanische Tortur, die den Zeitgenossen nicht geheuer war. Vergleichbares wurde erst im 20. Jahrhundert wieder geschaffen. Für John Field als Romantiker alter Schule stand nach der ersten und einzigen persönlichen Begegnung mit dem jungen polnischen Klavierrivalen ohnehin fest, dass es sich um einen Irren handeln müsse, er drückte es nur etwas vornehmer aus: "Ein Talent aus dem Krankenzimmer..." Sogar die äußerlich doch so ebenmäßigen Nocturnes brachten manchen Kritiker in Rage: "Wo Field seufzt, macht Herr Chopin eine Grimasse", schrieb Ludwig Rellstab in Berlin, "Field thut etwas Gewürz an seine Speise, Herr Chopin eine Handvoll Cayenne-Pfeffer."
" Frédéric Chopin, Nocturne E-Dur (op. 62 Nr. 2), Track 5 "
Louis Lortie wird man nicht nachsagen können, er habe bei Chopin mutwillig nachgewürzt, am wenigsten in den mit entspannter Zurückhaltung dargebotenen Nocturnes, die sich in ihrer Zeitlupendramatik freilich aus der gleichen Quelle speisen wie die mit ungleich höherer Intensität geladenen Scherzi. Beiläufig hebt er unterschwellig Kontrapunktisches in den späten Nocturnes hervor und lässt sie so als Geschwister der von Johann Sebastian Bach beeinflussten Préludes erscheinen. Unser Pianist hat sich viel mit dem Wohltemperierten Klavier beschäftigt, liebäugelt sogar mit der Idee, es einmal in der Doppelperspektive von Klavier und Cembalo aufzuführen.
Lorties bevorzugte Instrumente heute sind sündhaft teure Fazioli-Flügel. Aber begonnen hat es mit einem halb verstimmten, grässlich orangefarbenen Klavier im Keller eines Vorstadt-Hauses in Montreal. Der Vater probierte es als Erster aus, und es war grauenhaft, erinnert sich der Pianist. Dann versuchte er es selbst - ein Knirps von sieben Jahren. Mit dreizehn gab er sein Konzertdebüt in Montreal. Als seine wichtigsten Lehrer nennt Louis Lortie den Artur-Schnabel-Schüler Leon Fleisher, an erster Stelle aber Yvonne Hubert, die noch bei Alfred Cortot studierte. Angesichts dieser pianistischen Ahnenreihe braucht man die Frage "Kann er Chopin?" tatsächlich nicht zu stellen.
Das war die neue Platte im Deutschlandfunk mit dem kanadischen Pianisten Louis Lortie. Erschienen ist seine Neuaufnahme der vier Scherzi und der b-Moll-Sonate mitsamt einigen Nocturnes von Frédéric Chopin beim Label Chandos im Vetrieb von Codaex. Im Studio verabschiedet sich, mit Dank fürs Zuhören, Johannes Jansen.
Louis Lortie: "Chopin, Vol. I - Nocturnes, Scherzos, b-Moll-Sonate"
(LC 07038 / Chandos 095115158821; Prod. 2010)
Willkommen zur Vorstellung einer neuen Platte des in Berlin lebenden frankokanadischen Pianisten Louis Lortie. Im Studio begrüßt Sie Johannes Jansen. Im Hintergrund zu hören ist das erste Nocturne in e-Moll noch aus der Warschauer Zeit: ganz im Stil der Vorgängerwerke von John Field, mit reicher Pedalisierung und der typischen Triolenbewegung in der linken Hand. In der Rechten lässt Chopin die Melodie parallel in sogenannten Küchenmädchenterzen laufen, was dafür spricht, dass ihm die Herkunft des Genres aus der Vokalpraxis bewusst war. Vermutlich kannte er auch jene damals weitverbreiteten "Notturni" für zwei Singstimmen zur Begleitung eines Klaviers oder einer Harfe, wie er ja überhaupt von Kindesbeinen an ein großer Freund alles Gesungenen war, gleich ob es ländliche Lieder waren oder Belcanto-Arien.
Besseres Chopin-Spiel sei nirgends zu hören, schrieb die Londoner Presse nach einem Abend mit Louis Lortie in der Queen Elizabeth Hall. Als Everybody's Chopin-Darling herumgereicht zu werden, fand er allerdings nie erstrebenswert. Erinnerungen an seine kanadische Wunderkindkarriere mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Darum hat er sich mit Ausdauer um andere Repertoire-Schwerpunkte bemüht, vor allem Ravel. Und wie einst sein großer Landsmann Glenn Gould fand er auch Geschmack an Wagner-Transkriptionen und Liszt'schen Beethoven-Bearbeitungen. Im Zentrum aber stand der Kosmos der Beethoven-Klaviersonaten - bis ihn seine Chopin-Vergangenheit schließlich doch einholte. Hier das Scherzo in cis-Moll op. 39, das Chopin 1839 seinem damals 20-jährigen deutschen Schüler Adolph Gutmann gewidmet hat.
" Frédéric Chopin, Scherzo cis-Moll (op. 39), Track 6 "
Mit glitzerndem Leggierissimo allein ist dem cis-Moll-Scherzo von Chopin nicht beizukommen, es braucht auch eine kapitale Pranke - aber von beidem nicht zu viel. Ein Überschuss an Virtuosität ist leicht loszuwerden in so einem Stück, dessen Gedrängtheit und Kontrastreichtum dazu verführen, von allem etwas zu viel hineinzugeben. Es nicht zu tun, darin zeigt sich die Reife eines Chopin-Interpreten wie Lortie. Seine "Volume 1"-CD verheißt, dass er und seine Plattenfirma Chandos, mit der er schon bemerkenswerte 25 Jahre lang "verheiratet" ist, noch große Pläne miteinander haben.
Was diese Platte aus dem kaum überschaubaren Neuerscheinungsangebot im Chopin-Jahr 2010 heraushebt, ist neben der erwiesenen Meisterschaft des Interpreten die stimmige Programmzusammenstellung. Sie schafft einen lebendigen Kontext, in dem ein Stück sich im anderen widerspiegelt, statt nur dem enzyklopädischen oder Best-of-Prinzip zu gehorchen. Jedem der vier Scherzi ist ein Nocturne in verwandter Tonart vorangestellt, wie es der Logik eines Klavierabends entspricht. Das sagt Lortie selbst und verweist darauf, dass es in einem romantischen Salon wohl niemandem eingefallen wäre, mehrere Nocturnes "en bloc" oder gar die vier Scherzi nacheinander vorzutragen. Zur Einstimmung auf gewichtigere Werke war es üblich, Überleitungen zu improvisieren. Als solche will Lortie die, gemessen an den Scherzi, pianistisch weniger anspruchsvollen Nocturnes verstanden wissen, während das letzte, passagenweise selbst wie improvisiert wirkende E-Dur-Scherzo demnach eine arg ausufernde Überleitung zur großen b-Moll-Sonate wäre. Deren letzter Satz ist freilich auch nur eine kurz hingeworfene, klavierartistische Improvisation: 1'21 dauert das Presto-Finale bloß, dann ist der Spuk vorbei.
" Frédéric Chopin, Sonate b-Moll (op. 35), 4. Satz: Presto, Track 12 "
Vier seiner tollsten Kinder habe Chopin in der b-Moll-Sonate vereint, meinte Robert Schumann. Das Finale ist zweifellos das tollste: eine fingermechanische Tortur, die den Zeitgenossen nicht geheuer war. Vergleichbares wurde erst im 20. Jahrhundert wieder geschaffen. Für John Field als Romantiker alter Schule stand nach der ersten und einzigen persönlichen Begegnung mit dem jungen polnischen Klavierrivalen ohnehin fest, dass es sich um einen Irren handeln müsse, er drückte es nur etwas vornehmer aus: "Ein Talent aus dem Krankenzimmer..." Sogar die äußerlich doch so ebenmäßigen Nocturnes brachten manchen Kritiker in Rage: "Wo Field seufzt, macht Herr Chopin eine Grimasse", schrieb Ludwig Rellstab in Berlin, "Field thut etwas Gewürz an seine Speise, Herr Chopin eine Handvoll Cayenne-Pfeffer."
" Frédéric Chopin, Nocturne E-Dur (op. 62 Nr. 2), Track 5 "
Louis Lortie wird man nicht nachsagen können, er habe bei Chopin mutwillig nachgewürzt, am wenigsten in den mit entspannter Zurückhaltung dargebotenen Nocturnes, die sich in ihrer Zeitlupendramatik freilich aus der gleichen Quelle speisen wie die mit ungleich höherer Intensität geladenen Scherzi. Beiläufig hebt er unterschwellig Kontrapunktisches in den späten Nocturnes hervor und lässt sie so als Geschwister der von Johann Sebastian Bach beeinflussten Préludes erscheinen. Unser Pianist hat sich viel mit dem Wohltemperierten Klavier beschäftigt, liebäugelt sogar mit der Idee, es einmal in der Doppelperspektive von Klavier und Cembalo aufzuführen.
Lorties bevorzugte Instrumente heute sind sündhaft teure Fazioli-Flügel. Aber begonnen hat es mit einem halb verstimmten, grässlich orangefarbenen Klavier im Keller eines Vorstadt-Hauses in Montreal. Der Vater probierte es als Erster aus, und es war grauenhaft, erinnert sich der Pianist. Dann versuchte er es selbst - ein Knirps von sieben Jahren. Mit dreizehn gab er sein Konzertdebüt in Montreal. Als seine wichtigsten Lehrer nennt Louis Lortie den Artur-Schnabel-Schüler Leon Fleisher, an erster Stelle aber Yvonne Hubert, die noch bei Alfred Cortot studierte. Angesichts dieser pianistischen Ahnenreihe braucht man die Frage "Kann er Chopin?" tatsächlich nicht zu stellen.
Das war die neue Platte im Deutschlandfunk mit dem kanadischen Pianisten Louis Lortie. Erschienen ist seine Neuaufnahme der vier Scherzi und der b-Moll-Sonate mitsamt einigen Nocturnes von Frédéric Chopin beim Label Chandos im Vetrieb von Codaex. Im Studio verabschiedet sich, mit Dank fürs Zuhören, Johannes Jansen.
Louis Lortie: "Chopin, Vol. I - Nocturnes, Scherzos, b-Moll-Sonate"
(LC 07038 / Chandos 095115158821; Prod. 2010)