"Das Tempo, in dem die Holocaust-Forschung vorankommt, hat sich in den letzten Jahren so beschleunigt, dass man sich fast schon darauf verlassen kann, in der Zeit zwischen der Fertigstellung einer Arbeit und ihrem Erscheinen in Buchform bedeutende neue Werke anderer Historiker veröffentlicht zu sehen."
Diese Erkenntnis formulierte der amerikanische Wissenschaftler Christopher Browning im Nachwort zur Veröffentlichung seiner Vorlesungen, die er 1999 zum Thema "NS-Politik, jüdische Zwangsarbeiter, deutsche Mörder" gehalten hat. Der deutsche Titel verwendet zwar plakativ den Begriff "Judenmord", verzichtet aber auf die Bezeichnung "deutsche Mörder". Wenn stattdessen in der Unterzeile dezent von "Zwangsarbeit und dem Verhalten der Täter" die Rede ist, dann soll offensichtlich vom Verlag signalisiert werden, dass es sich hier nicht um eine Fortsetzung der Debatte über Goldhagen geht, dessen Buch ja längst von der öffentlichen Agenda verschwunden ist, sondern um einen Beitrag zum deutsch-amerikanisch-jüdischen Entschädigungsskandal. Doch Browning beschäftigt sich, wie es der englische Originaltitel ehrlicher ankündigt, nicht mit der Forderung der Opfer, sondern mit der Motivation der Täter. Auch wenn Goldhagen in der Historiker-Zunft inzwischen als nicht mehr zitierbar gilt, ist die Holocaust-Forschung indirekt zu einer Analyse jener Form des Antisemitismus gezwungen, der die gemeinsame Wahrnehmungsstruktur der Täter und der deutschen Gesellschaft bildete. Dass aber Täter- und Opferperspektiven durcheinander geraten können, ist nicht nur eine deutsche Besonderheit. Als Hannah Arendt 1963 über "Eichmann in Jerusalem" berichtete, geriet der Mythos von der "Einzigartigkeit" des Holocaust ins Wanken, und die jüdische Politologin wurde in Amerika und Israel zum Gegenstand öffentlicher Maßregelung. Doch Hannah Arendts Provokation geriet in den kulturell-publizistischen Mainstream, während Raul Hilbergs gleichzeitig erschienene Globalanalyse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nur am Rande wahrgenommen wurde. Ähnlich scheint es heute seriösen Forschern zu ergehen, seitdem der öffentliche Raum von Reizwörtern wie "Amerikanisierung" und "Instrumentalisierung" des Holocaust besetzt wird. Als habe er eine Vorahnung über die Veränderung der medialen Bewusstseinspolitik, die mit Finkelsteins Philippika einsetzen würde, mahnte Browning bereits im Vorfeld:
"Als Objekt akademischer Beschäftigung - sich manifestierend in universitären Vorlesungen und Seminaren, einschlägigen wissenschaftlichen Kongressen und Zeitschriften und einem anwachsenden Fundus an seriöser, auf archivalischen Recherchen beruhender Literatur - gibt es den Holocaust erst seit rund 25 Jahren. Es kann in diesem Zusammenhang nicht schaden, sich daran zu erinnern, dass Raul Hilberg, der große Pionier der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocaust, in den 50-er und 60-er Jahren keinen Universitätsverlag fand, der sein inzwischen als Klassiker anerkanntes Werk 'Die Vernichtung der europäischen Juden' veröffentlichen, und keine wissenschaftliche Zeitschrift, die es besprechen wollte. Die akademische Marginalisierung des Holocaust gehört der Vergangenheit an; er wird heute zunehmend als ein Vorgang erkannt, der für unser Verständnis der westlichen Zivilisation, des Nationalstaats und der modernen bürokratisierten Gesellschaft von ebenso zentraler Bedeutung ist wie für das Verständnis der menschlichen Natur."
Auf die Tatsache, dass die Marginalisierung des Holocaust nicht durch eine Kultivierung des Opferbewusstseins überwunden werden kann, hat auch der ungewollt in eine Zwangsgemeinschaft mit Finkelstein gedrängte Historiker Peter Novick hingewiesen:
"In den Vereinigten Staaten ist die Erinnerung an den Holocaust so banal und folgenlos, dass sie überhaupt keine Erinnerung ist, weil sie so unstrittig, so wenig mit den wirklichen Trennlinien innerhalb der amerikanischen Gesellschaft verknüpft, so apolitisch ist."
Die Materialien, die Novick erschlossen hat, bestätigen jedenfalls nicht die These, die Wahrnehmung des Holocaust sei allein ein Phänomen des kulturellen Gedächtnisses der Gegenwart und nicht auch eines der unmittelbaren Nachkriegszeit gewesen. Aber obwohl insgesamt über vierzig Prozent aller Juden der Welt US-amerikanische Staatsbürger sind, ist ihr kulturelles Gedächtnis kein gesamtamerikanisches. In Amerika wurde das osteuropäische Judentum unmittelbar mit der Moderne konfrontiert und musste den "sprachlichen, kulturellen und sozialen Sprung" innerhalb einer Generation bewältigen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachrichten über die Vernichtungslager in die Vereinigten Staaten gelangt seien, habe das - so Ruth Gay in ihren Erinnerungen - bei den Juden nicht nur einen Schock, sondern auch eine Neubesinnung ausgelöst. Vor allem die jungen Juden in Amerika hätten plötzlich erkannt, dass sie eine übergroße Verantwortung geerbt hatten, eine Verantwortung, die ihnen auch durch die Gründung des Staates Israel nicht abgenommen worden sei: die Bewahrung der Erinnerung an die osteuropäisch-jüdische Kultur. "Die Beanspruchung dieser Vergangenheit", so Ruth Gay, sei "zu einer der Leidenschaften der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft" geworden. Das 21. Jahrhundert habe für sie mit einer neuen Gelehrsamkeit, mit neuen Streitigkeiten und mit seinem unveränderlichen Programm - dem Überleben - begonnen. Eine aktuelle Gefahr allerdings ist, dass die seriöse Erforschung des Holocaust zu schnell in den Schatten der Musealisierung geraten ist. Diese Sorge teilt auch der in Israel und Deutschland lehrende Historiker Dan Diner mit Christopher Browning:
"Dass der Holcaust immer mehr ins Zentrum symbolischer und musealer Darbietung rückte, muss nicht allein mit dem Phänomen der Rivalitäten von Opferschaft in Verbindung gebracht werden. In seiner Bedeutung als Zivilisationsbruch steht der Holocaust durchaus auch für sich selbst."
Es sind meist anspruchsvoll klingende Formulierungen, mit denen mentalitätsgeschichtlich argumentierende Holocaust-Forscher wie Browning aus der öffentlichen Diskussion gedrängt werden. Nach wie vor existieren berechtigte Zweifel, ob das Dilemma zwischen der "Banalität" von Einzeluntersuchungen und der "Monströsität" der Verbrechen überhaupt im Medium der herkömmlichen Geschichtsforschung aufzulösen ist. Scheinheilig klingen aber Fragen wie: Können wissenschaftliche Untersuchungen zum Holocaust überhaupt den grauenhaften Ereignissen einen angemessenen Vorstellungsraum eröffnen? Dem kann man nicht nur mit der Relativierungsthese begegnen. Christopher Browning bekennt sich zur Tradition der Moralistik. Seine Fragen sind die des skeptischen Anthropologen: Existieren universale Standards für die Wahrheit von Erinnerungen? Gibt es eine spezifische Wahrheit subjektiver Erinnerungen? Wie verhalten sich divergierende Erinnerungen zum Ideal einer autoritativen historischen Wahrheit?
Willi Jasper über: Christopher R. Browning: "Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 283 Seiten, DM 49,90.
Diese Erkenntnis formulierte der amerikanische Wissenschaftler Christopher Browning im Nachwort zur Veröffentlichung seiner Vorlesungen, die er 1999 zum Thema "NS-Politik, jüdische Zwangsarbeiter, deutsche Mörder" gehalten hat. Der deutsche Titel verwendet zwar plakativ den Begriff "Judenmord", verzichtet aber auf die Bezeichnung "deutsche Mörder". Wenn stattdessen in der Unterzeile dezent von "Zwangsarbeit und dem Verhalten der Täter" die Rede ist, dann soll offensichtlich vom Verlag signalisiert werden, dass es sich hier nicht um eine Fortsetzung der Debatte über Goldhagen geht, dessen Buch ja längst von der öffentlichen Agenda verschwunden ist, sondern um einen Beitrag zum deutsch-amerikanisch-jüdischen Entschädigungsskandal. Doch Browning beschäftigt sich, wie es der englische Originaltitel ehrlicher ankündigt, nicht mit der Forderung der Opfer, sondern mit der Motivation der Täter. Auch wenn Goldhagen in der Historiker-Zunft inzwischen als nicht mehr zitierbar gilt, ist die Holocaust-Forschung indirekt zu einer Analyse jener Form des Antisemitismus gezwungen, der die gemeinsame Wahrnehmungsstruktur der Täter und der deutschen Gesellschaft bildete. Dass aber Täter- und Opferperspektiven durcheinander geraten können, ist nicht nur eine deutsche Besonderheit. Als Hannah Arendt 1963 über "Eichmann in Jerusalem" berichtete, geriet der Mythos von der "Einzigartigkeit" des Holocaust ins Wanken, und die jüdische Politologin wurde in Amerika und Israel zum Gegenstand öffentlicher Maßregelung. Doch Hannah Arendts Provokation geriet in den kulturell-publizistischen Mainstream, während Raul Hilbergs gleichzeitig erschienene Globalanalyse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nur am Rande wahrgenommen wurde. Ähnlich scheint es heute seriösen Forschern zu ergehen, seitdem der öffentliche Raum von Reizwörtern wie "Amerikanisierung" und "Instrumentalisierung" des Holocaust besetzt wird. Als habe er eine Vorahnung über die Veränderung der medialen Bewusstseinspolitik, die mit Finkelsteins Philippika einsetzen würde, mahnte Browning bereits im Vorfeld:
"Als Objekt akademischer Beschäftigung - sich manifestierend in universitären Vorlesungen und Seminaren, einschlägigen wissenschaftlichen Kongressen und Zeitschriften und einem anwachsenden Fundus an seriöser, auf archivalischen Recherchen beruhender Literatur - gibt es den Holocaust erst seit rund 25 Jahren. Es kann in diesem Zusammenhang nicht schaden, sich daran zu erinnern, dass Raul Hilberg, der große Pionier der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocaust, in den 50-er und 60-er Jahren keinen Universitätsverlag fand, der sein inzwischen als Klassiker anerkanntes Werk 'Die Vernichtung der europäischen Juden' veröffentlichen, und keine wissenschaftliche Zeitschrift, die es besprechen wollte. Die akademische Marginalisierung des Holocaust gehört der Vergangenheit an; er wird heute zunehmend als ein Vorgang erkannt, der für unser Verständnis der westlichen Zivilisation, des Nationalstaats und der modernen bürokratisierten Gesellschaft von ebenso zentraler Bedeutung ist wie für das Verständnis der menschlichen Natur."
Auf die Tatsache, dass die Marginalisierung des Holocaust nicht durch eine Kultivierung des Opferbewusstseins überwunden werden kann, hat auch der ungewollt in eine Zwangsgemeinschaft mit Finkelstein gedrängte Historiker Peter Novick hingewiesen:
"In den Vereinigten Staaten ist die Erinnerung an den Holocaust so banal und folgenlos, dass sie überhaupt keine Erinnerung ist, weil sie so unstrittig, so wenig mit den wirklichen Trennlinien innerhalb der amerikanischen Gesellschaft verknüpft, so apolitisch ist."
Die Materialien, die Novick erschlossen hat, bestätigen jedenfalls nicht die These, die Wahrnehmung des Holocaust sei allein ein Phänomen des kulturellen Gedächtnisses der Gegenwart und nicht auch eines der unmittelbaren Nachkriegszeit gewesen. Aber obwohl insgesamt über vierzig Prozent aller Juden der Welt US-amerikanische Staatsbürger sind, ist ihr kulturelles Gedächtnis kein gesamtamerikanisches. In Amerika wurde das osteuropäische Judentum unmittelbar mit der Moderne konfrontiert und musste den "sprachlichen, kulturellen und sozialen Sprung" innerhalb einer Generation bewältigen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachrichten über die Vernichtungslager in die Vereinigten Staaten gelangt seien, habe das - so Ruth Gay in ihren Erinnerungen - bei den Juden nicht nur einen Schock, sondern auch eine Neubesinnung ausgelöst. Vor allem die jungen Juden in Amerika hätten plötzlich erkannt, dass sie eine übergroße Verantwortung geerbt hatten, eine Verantwortung, die ihnen auch durch die Gründung des Staates Israel nicht abgenommen worden sei: die Bewahrung der Erinnerung an die osteuropäisch-jüdische Kultur. "Die Beanspruchung dieser Vergangenheit", so Ruth Gay, sei "zu einer der Leidenschaften der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft" geworden. Das 21. Jahrhundert habe für sie mit einer neuen Gelehrsamkeit, mit neuen Streitigkeiten und mit seinem unveränderlichen Programm - dem Überleben - begonnen. Eine aktuelle Gefahr allerdings ist, dass die seriöse Erforschung des Holocaust zu schnell in den Schatten der Musealisierung geraten ist. Diese Sorge teilt auch der in Israel und Deutschland lehrende Historiker Dan Diner mit Christopher Browning:
"Dass der Holcaust immer mehr ins Zentrum symbolischer und musealer Darbietung rückte, muss nicht allein mit dem Phänomen der Rivalitäten von Opferschaft in Verbindung gebracht werden. In seiner Bedeutung als Zivilisationsbruch steht der Holocaust durchaus auch für sich selbst."
Es sind meist anspruchsvoll klingende Formulierungen, mit denen mentalitätsgeschichtlich argumentierende Holocaust-Forscher wie Browning aus der öffentlichen Diskussion gedrängt werden. Nach wie vor existieren berechtigte Zweifel, ob das Dilemma zwischen der "Banalität" von Einzeluntersuchungen und der "Monströsität" der Verbrechen überhaupt im Medium der herkömmlichen Geschichtsforschung aufzulösen ist. Scheinheilig klingen aber Fragen wie: Können wissenschaftliche Untersuchungen zum Holocaust überhaupt den grauenhaften Ereignissen einen angemessenen Vorstellungsraum eröffnen? Dem kann man nicht nur mit der Relativierungsthese begegnen. Christopher Browning bekennt sich zur Tradition der Moralistik. Seine Fragen sind die des skeptischen Anthropologen: Existieren universale Standards für die Wahrheit von Erinnerungen? Gibt es eine spezifische Wahrheit subjektiver Erinnerungen? Wie verhalten sich divergierende Erinnerungen zum Ideal einer autoritativen historischen Wahrheit?
Willi Jasper über: Christopher R. Browning: "Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 283 Seiten, DM 49,90.