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Chronik der Gefühle

Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" gehört zu jenen höchst seltenen Großwerken, die überraschend auftauchen und plötzlich die Existenz eines schon seit vielen Jahren keineswegs unbekannten Autors in ein völlig neues Licht rücken können. Kluge ist seit den 60er Jahren als eine der wichtigsten Gestalten des damals neuen deutschen Films bekannt, mit zahlreichen auch internationalen Preisen und Auszeichnungen, aber schon ebenso lange auch als Schriftsteller, dessen allerdings nicht ganz so lange Reihe von Büchern vor allem in den 60er und 70er Jahren erschienen sind und zur dokumentarischen Erzählliteratur gerechnet werden, mit nicht zu unterschätzenden Energien fiktiver und theoretischer Erhellung von Zeitgeschichte. In den letzten Jahren schien sich Kluge weitgehend darauf beschränkt zu haben, als Produzent und hartnäckiger Fragensteller in den "News & Stories"-Sendungen zu agieren, mit denen einige private Fernsehsender - nicht ganz freiwillig - ihre kulturellen Nischen füllen.

Uwe Pralle |
    Die zweitausend Seiten der "Chronik der Gefühle" zeigen jetzt aber, daß sein literarischer Elan in den vergangenen Jahren keineswegs durch die Tätigkeit als kultureller MedienPartisan verdrängt worden ist. Im Gegenteil: viele Spuren davon - wie von den Gesprächen unter anderem mit Heiner Müller, die er bis zu dessen Tod in diesen Sendungen immer wieder geführt hat - sind auch in dieser "Chronik der Gefühle" zu finden-, und genauso sind in ihr - vor allem im zweiten Band - seine literarischen Werke aus den 60er und 70er Jahren wiederzufinden, von "Lebensläufe" aus dem Jahr 1962 über "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" und "Schlachtbeschreibung" bis zu den achtzehn Heften seiner "Neuen Geschichten" über die "Unheimlichkeit der Zeit" von 1977. Doch die "Chronik der Gefühle" ist alles andere als etwa nur eine Ausgabe gesammelter literarischer Werke, die seine älteren jetzt nur locker mit in den letzten Jahren neuentstandenen Geschichten aus den sich rastlos umwälzenden Zeitwelten verknüpfen würde. An diesem Riesenwerk aus etlichen hundert kurzen Erzählungen einzelner Viten oder auch von kurzen Momenten und Ereignissen in solchen Lebensläufen, die Kluge vier Jahrzehnte lang sowohl in ganz profanen als auch verwunscheneren Alltagszonen der laufenden Gegenwart, aber auch in historischen Zeitweiten aufgespürt und notiert hat, frappiert und fasziniert vielmehr gleichmaßen, daß plötzlich zu erkennen ist, wie beharrlich er in diesen Jahrzehnten auf den Spuren einiger Ideen zu den Lebensverhältnissen in den Zivilisationen nicht nur des 20.Jahrhunderts geblieben ist. Mit einem Mal rücken seine früheren Blicke sei es auf Lebensläufe und tödlich ausgehende Lernprozesse in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sei es auch in diesem Krieg selbst, der etwa in "Schlachtbeschreibung" oder auch den Szenen vom Luftangriff auf Kluges Geburtsort Halberstadt das Thema war, jetzt in eine umfassendere Fluchtlinie - nämlich die der weit über die bloße Zeitgeschichte hinausgehenden Frage, wie eigentlich die Gefühle am Alltag, der Historie und Politik beteiligt sind oder sich ihren tragischen Ausgängen immer wieder eigensinnig zu widersetzen suchen.

    Um die verborgene Macht - oder vielleicht besser: den partisanenhaften Eigensinn - von Gefühlen, also des Subjektiven, aber auch Diffusen par excellance, aufzusparen, versucht Kluge in den Geschichten dieser "Chronik der Gefühle", mit allen Registern der Verunsicherung die üblichen Maßstäbe gehörig durcheinander zu wirbeln, wovon Lebensläufe im Grunde beeinflußt - und ebenso wie die Lebenszeit und - im größeren Maßstab - auch die historische Zeit vorgestellt werden. Denn Kluge sieht den Gefühlen, im Zusammenhang mit Erfolg und Scheitern, Politik und Macht, Glück und Unglück, offenbar immer nur eine leicht übersehene Nischenexistenz zugebilligt, aus der sie erst befreit werden müssen. Solche Versuche können etwa so aussehen:

    "Zwischen den heutigen Republiken Kirgistan und Tadschikistan gibt es einen durch hohe Gebirge gerahmten, schmalen Landstreifen, der auf den Karten von 1917 nicht eingetragen war und auch später durch keine der Administrationen erfaßt wurde. Seit der Zerschlagung der Sowjetunion blieb der Landstrich übrig. Dort befindet sich ein orthodoxes Kloster, das danach überstürzt geräumt wurde. Ein einzelner Mönch blieb zurück, um die Gebäude zu bewachen, die Arbeiten fortzusetzen. Das Kloster war seit Jahrhunderten mit der kirchenamtlichen Feststellung von Kalenderdaten, also mit Chronistik befaßt. Der einsame Klosterbruder, beauftragt, vergessen, blieb nicht lange allein.Über Internet ist er weltweit mit Bruderorganisationen verknüpft, seien sie orthodox oder wissenschaftlich. Die moslemische Umwelt, dieses Unbeachteten uneingedenk, stört ihn nicht.

    "Die letzten Zeitperioden teilt Bruder Andrej Bitow folgendermaßen ein: Vom Westfälischen Frieden 1648 bis 1789 von 1793 bis 1815 1 Jahrhundert von 1615 bis 1870/71 1 Jahrhundert von 1871 bis 1918 1 Jahrhundert von 1918 bis 1989 1 Jahrhundert 1 Jahrhundert 1 Jahrhundert =341 Jahre haben die Substanz von 500 Jahren

    Bruder Bitow wird in akademischen Kreisen der USA inzwischen als der Erfinder der Zeitkomprimation betrachtet. Die Qualitätsbezeichnung"Jahrhundert" besitzt eine morphische Struktur, d.h., sie zwingt die Jahre in kreisförmige oder eiliptische Umlaufbahnen um ein Zentrum. Es ist willkürlich, sie chronometrisch abzuzählen nach Tagen, Jahren. So enthalten drei Jahre der Großen Französischen Revolution eine "differente Struktur", sagt Bitow. Das macht sie zu einem "Jahrhundert für sich". Dieses Selbstbestimmungsrecht der Zeit muss anerkannt werden wie das Völkern. Wieso denn dasselbe gelten soll für Rußland wie für England und für Frankreich? Da gerät Bruder Bitow in Eifer. Alle Zeiten sind different, ein britisches und ein russisches Jahrhundert lassen sich gewiß nicht vergleichen. Die Zeiten der Kontinente und ihrer Bewohner, sagt Bitow, sind aber durch morphische Felder untereinander verbunden. Insofern sei der Zeitstrom wiederum synchron. Und es ist gar nicht einmal sicher, ob die Große Französische Revolution tatsächlich französischen Ursprungs ist. Eine neue Zeit kann ihren Ursprung an ganz anderen Orten haben als da, wo die Erscheinung ausbricht (Oberfläche). Wir haben Seelen in Rußland, in Mitteideutschland, in Taschkent ebenso wie in Portugal und in dessen ostasiatischen Kolonien festgestellt, die sich gemeinsam in Bewegung setzen. Heizmaterial in Bitows Bergklsoter ist rar. Am ehesten kann er im Winter die Hände wärmen, wann er sie fest auf das Gehäuse seines Computers legt."

    Fast wie ein Wünschelrutengänger hat Kluge ein Gespür dafür, wo solche Nischen zu finden sind, die den Eigensinn der Gefühle aufblitzen lassen. Der Mönch in diesem vergessenen Landstreifen ist selber ein Nischenbewohner, und es wundert nicht, daß gerade er dem chronometrischen Begriff historischer Zeit einen Kalender entgegensetzt, der die historische Zeit nach dem Gefühl bemißt, wie lange ein Jahrhundert jeweils gedauert hat. Auch Kluge hat seine "Chronik der Gefühle" nicht chronologisch aufgebaut. Sie besteht vielmehr aus zwölf Kapiteln, die die vielfältigen Formen und Färbungen, in denen Gefühle im individuellen und kollektiven Leben mitspielen, ebenfalls jeweils um ein motivisches Zentrum gruppiert einzufangen suchen.

    Dabei enthält der erste Band - bis auf Kluges "Schlachtbeschreibung" von Stalingrad - sechs völlig neue Kapitel: "Der Eigentümer und seine Zeit" verfolgt, wie Menschen mit ihrem Eigensinn und ihrer Lebenszeit umgehen, in "Verfallserscheinungen der Macht" sind Affektiagen geschildert, die den Zusammenbruch "großer Reiche" begleiten, "Basisgeschichten" erzählen aus dem elementaren Beziehungsleben, während das Kapitel "Heidegger auf der Krim" anhand eines fiktiven Besuches von Heidegger auf dem Kriegsschauplatz das Zweiten Weltkriegs das Verhältnis von Denken und Lebenspraxis auslotet. Mit den Titeln der beiden Schlußkapitel dieses ersten Bandes, "Verwilderte Selbstbehauptung" und "Wie kann ich mich schützen? Was hält freiwillige Taten zusammen?", sind wieder direkt die Gefühle bezeichnet, um deren List der Selbstorganisation und Orientierungsfähigkeiten sie kreisen. Dagegen enthält der zweite Band neben vier Kapiteln mit Kluges früheren Büchern nur ein neues, nämlich das Schlußkapitel mit dem Titel "Der lange Marsch das Urvertrauens". In ihm ist allerdings eine nicht ganz unwesentliche Dimension beleuchtet, die Kluge in ihnen angelegt sieht: es geht darin um die - wenn man so will - Langzeitwirkung von Gefühlen, die über Generationen und Zeitalter hinweg ins Leben eingreifen können, so wie jenes "Urvertrauen", das Kluge als eine seit"den Vorzeiten" durch die Menschengeschichte getragene Gefühlsmacht ansieht, ohne die ein Oberleben nicht möglich gewesen wäre.

    In allen Kapiteln der "Chronik der Gefühle" stehen also Fundstücke aus unterschiedlichen historischen Zeitschichten und Erfahrungsbereichen des Lebens direkt nebeneinander. Wie die meisten der ja nicht sonderlich zahlreichen Großwerke des 20. Jahrhunderts über seine innere Geschichte und Vorgeschichte ist auch diese "Chronik der Gefühle" diskontinuierlich, anti-systematisch und fragmentarisch angelegt. Das Bruchstück einer Beziehungsgeschichte aus dem Jahr 2000 kann neben einer kurzen Szene aus den Machtzentren das Deutschen Reiches kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs stehen, eine fatale Ehegeschichte aus der Wirtschaftswunderzeit neben einem längeren Exkurs in den Stoff von Verdis Oper "Rigoletto", eine "Hochrechnung auf das Jahr 2007" neben einer Episode aus der römischen Geschichte. Fundstücke allerdings, die schon von sich aus einen Stollen quer durch die Formationen historischer Zeiten legen, gehören zu den stillen Triumphen von Kluges Blick, wie ein Stück aus dem Kapitel "Verfallserscheinungen der Macht":

    "Durch die großzügigen Fenster des Palasthotels Radisson hat der Frühstückende noch den gleichen Blick auf den Palast der Republik, wie ihn 1989 ein Delegationsmitglied eines exotischen Landes hatte, als belohnter Gast der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Für den planenden Blick des Architekten sind diese Gelände am Spreeufer bereits vollständig abgerissen und durch Neubauten überwölbt. Insofern ist das, was das Auge sieht, nichts Wirkliches, die Sessel, in denen Gäste ruhen, die Brote, die gefrühstückt werden, sind schon verwandelt durch das, was geschehen wird. In den Tiefkellern der Museen am anderen Spreeufer, die noch aus der Zeit preußischer Könige herüberragen, sind Büros gefunden worden. Sie wurden zu Beginn des Feldzugs, auf dem 1941 Griechenland erobert wurde, eingerichtet. Sie überdauerten, unbemerkt von den politischen Spitzen, 40 Jahre DDR und sind nun, anläßlich der Erdarbeiten am Spreebogen, bemerkt worden. Die Grabungen führten somit unmittelbar in die Antike."

    Manchmal lassen sich die Verbindungen einzelner Stücke zum Hauptstrom von Kluges Opus Magnum, der im nahezu unsichtbaren Strombett der Gefühle dahinziehenden Geschichte menschlichen Glück- und Machtstrebens mit seinen unendlichen Verzweigungen zum Scheitern und Leiden, zu Hass, Rache und Grausamkeit, auf den ersten Blick nicht ohne weiteres entdecken - und es könnten sogar manche Episoden vorgeführt werden, an deren von Kluge geradezu zelebrierter Verschrobenheit sich Exegeten die Zähne ausreißen würden. Das begründet aber keine wesentlichen Einwände gegen dieses an Funden, Überraschungen und Aufschlüssen so reiche Werk. Die Lust am Eintauchen selbst in wunderliche Phänomene, an ihrer spekulativen Erforschung und manchmal auch einfallsreicher Ausmalung, die dann kaum noch von purer Erfindung oder dem - von Louis Aragon einst so genannten - "Wahrlügen" zu unterscheiden sein mag, gehört nun einmal zu Alexander Kluges intellektuellem Sensorium - und was noch wichtiger ist: ohne diesen spekulativen Sinn wäre es wohl vergeblich, in die verschlungene Stromlandschaft der Gefühle hineinzugelangen, deren eigensinnige Dynamik von den großen Theorien meistens vergessen worden ist:

    "Chinesische Geheimdienstoffiziere fanden in den Kellern der Börse von Hongkong (nach Übernahme der Kronkolonie 1999) einen Raum, in dem religiöse Werkzeuge, Heiligenbilder, Tand und Kerzen aufbewahrt wurden. Sie waren nach Art einer "europäischen Andacht-Stätte oder Kapelle" arrangiert und boten Platz für 15 Teilnehmer, wenn diese eng gedrängt, wie in einem Luftschutzbunker, Zuflucht suchten. Lenkte ein Geheimbund christlicher Börsenmagnaten von hier aus die Weltentwicklung? Durch Verschwörungen? Der stellvertretende Führer des Kundschafterkommandos, ein Spezialist für Geldbewegungen und Wirtschaftsdelikte, sah sich in seiner Auffassung bestätigt, daß die (von der derzeitigen zum Opportunismus neigenden Regierung begünstigte) "Börsenrealität" eine sektiererische Glaubensbewegung sei. Es ließen sich asiatische, christliche, isiamische, animistische Kursentwicklungen unterscheiden. Dies sei jedoch, meinte der Kundschafter, deshalb unmöglich, weil die sektiererischen Glaubensvorgänge, die die kolossale Überschätzung oder die Vernichtung der Börsenwerte regulierten, in jedem Land anders benannt und zusammengesetzt seien.

    Die im Börsengebäude entdeckten Kultgegenstände wurden beschlagnahmt. Sie erwiesen sich als von geringem Wert, als Tand. Eine Meldung wurde angefertigt, die Bewachungsmannschaften und die Direktion der Börse wurden verwarnt. In den Tagen darauf stürzten alle asiatischen Kurse. Die chinesische Führung, abergläubisch und längst angewiesen auf die rätselhaften Wettererscheinungen des internationalen Marktes, ließ die beschlagnahmten religiösen Schaustücke aus dem Depot, in dem sie auf ihre Versteigerung warteten, in freie Räume der Börse bringen, diesmal im 26. Stock, und dort stapeln, Keiner der Gläubigen, die sich das Kultversteck bzw.den marktwirtschaftlichen Verstärker in den Keller gebaut hatten, fand im 26. Stock das Gestapelte, und so konnten keine konzentrierten Gebete oder Beschwörungen den Fluß des weltweiten Glaubens manipulieren. Die Kurse fielen in Abgründe."

    Wenn diese Geschichte nicht wahr wäre - was allerdings Kluges Geheimnis bleibt - so hätte sie schon deshalb erfunden werden müssen, um die kuriose Nähe zwischen der abergläubischen Wetterfühligkeit der "Börsenrealität" und den internationalen Finanzmärkten sichtbar zu machen. In solchen Geschichten erweist sich Kluge als ein augenblinzelnder Nachkomme der Kritischen Theorie - allerdings von jener Kritischen Theorie, über die ihr Außenseiter Walter Benjamin einmal schrieb, daß sie sich nicht scheuen dürfe, notfalls auch aus dem Kaffeesatz zu lesen. Kluges maliziös-spielerische Entdeckungs- und Erzähllust sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine "Chronik der Gefühle" sehr hartnäckig ihren entscheidenden Fluchtpunkt im Auge behält. Sie ist ein verführerisches Archiv und Panorama aufmerksamer und - nomen est omen - lebenskluger Blicke darauf, wie die vergessene Macht der Gefühle in alltäglichen, intimen oder historisch und politisch entscheidenden Momenten eigensinnig Wirklichkeiten erzeugt, die sonst immer nur auf die großen Ideen und diversen Agenten gleich weicher Rationalität zurückgeführt werden. Montaignes Bemerkung, daß Gefühle keine Berge versetzen könnten, ist einmal zitiert, aber wohl nur, um den Kontrast zu ihren Fähigkeiten in Liebe, Macht und Geschichte zu verstärken, von denen hier erzählt wird.

    "Der häßliche, von seiner Mutter genarrte Schönheitschirurg, als solcher ein Kunstmensch, verliebte sich in den schönen Zwilling Eve Bennet-Kruger. Er rettet ihr nach einem Unfall das verunstaltete Gesicht. Er vermag sie zu erpressen. Kann sie nicht halten. Verunstaltet sie endgültig, als sie ihn um eine Falten-Operation bittet. Jetzt gewöhnt sie sich an ihn. Sie glaubt ihn zu lieben. Ihm genügen die Augen und die Erinnerung an den Schatz, den er nicht behalten konnte."

    In solchen Formen erzählenden Denkens ist Kluge ein Partisan im Dschungel der vielen Affekte, die die Weit der großen Begriffe durchwuchern. Diese Strategie knüpft an die besten, sich der Fülle des Wirklichen anschmiegenden Versuche eines Denkens an, das seine Systeme abgerüstet hat; an Adornos"Minima Moralia", noch mehr aber an Benjamins "Einbahnstraße", weil Kluge in erster Linie stets Erzähler bleibt, der Überraschungscoups und die Unsichtbarkeit von Theorien liebt, so daß sie den Reisenden durch dieses Riesenwerk an den Wegesrändern auf eher freundliche Weise auflauern. Eines jedoch unterscheidet diese beiden Bände von jeweils tausend Seiten erheblich von ihren Ahnen: sie ist tatsächlich eine Chronik, ein Werk also, das die Spektren der Gefühle möglichst so umfassend aufzufangen sucht, wie sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts und nach einer vieltausendjährigen Vorgeschichte ihrer Lebensversuche, Rebellionen, Wunschproduktionen und nicht zuletzt auch Katastrophen darstellen. Deshalb enthalten diese vielen hundert Geschichten zugleich eine Historie auch des deutschen Lebens im zurückliegenden Jahrhundert; eine Historie allerdings, in der die Epochen und Ereignisse, von der Schwelle das Jahres 2000 aus wie mit einem hochsensiblen Seismographen abgetastet, aus dem Blickwinkel der untergründigen privaten Gefühlslagen und ihrer Balanceakte aufgefächert sind, in diesen irrwitzigen Verwerfungen das Leben zu behaupten.

    "In einem Haus in Blaubach wurden nach dem Fliegerangriff vom 11.Februar 1943 die verkohlten Reste eines Menschen gefunden. Eine Hausbewohnerin behauptete, es handele sich um die Oberreste ihres Mannes. Eine zweite Frau aus demselben Haus meldete sich und erklärte, ihr Mann habe ebenfalls in diesem zerstörten Keller gesessen, wahrscheinlich saß da einer neben dem anderen. Es seien Leichenreste ihres Mannes dabei. Auch sie möchte gerne eine Grabstätte besuchen können. Daraufhin machte die Hausbewohnerin, die zuerst zum Trümmerstück zurückgekommen war, den Vorschlag, die Reste des verkohlten Menschen zu teilen."