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"Clockwork Orange" in Frankfurt
Die pure Lust an Gewalt

Christopher Rüping inszeniert in Frankfurt den Roman "Clockwork Orange" von Anthony Burgess. Darin führt er die Abgründe der Menschheit auf. Und therapiert sie am Ende mit einer Pille.

Von Christian Gampert |
    Kann das Theater etwas, das der Roman von Anthony Burgess und der Film von Stanley Kubrick nicht konnten? Ja, schon. Der Regisseur Christopher Rüping konstruiert im Bockenheimer Depot eine sehr schöne Laborsituation, er setzt uns in ein anatomisches Theater, er haut uns die Bösartigkeit der Menschen – und das heißt in diesem Falle: der Menschheit - um die Ohren, um das Ganze dann wieder zu verschenken an ein kindisches Moralisieren.
    Sehen wir großzügig darüber hinweg, dass die Professoren, die im Vorlesungssaal über den Fall Alex berichten, das Publikum immer in Partystimmung bringen wollen und mit Sekt und Häppchen bewirten, das alte ranschmeißerische Getue halt. Was wirklich zählt, ist der minutiöse Bericht des Delinquenten, ein Abend im Leben des englischen Jugendlichen Alex, der sich mit seiner Gang unter Drogen setzt und dann marodierend durch die Straßen zieht. Christopher Rüping lässt das einfach vorlesen, wie auf einem wissenschaftlichen Symposion, mit vielen Rollenwechseln und akustischen Einsprengseln, ein Live-Brutal-Hörspiel vom Feinsten.
    Man mag jetzt sagen: Ach, das ist altes Schauspielertheater. Naja, immerhin! Es ist nicht das spielerische diskursive Auseinanderklappen und Kommentieren der Vorlage, das für die Regie sogar einfacher gewesen wäre. Rüping nimmt in diesem ersten Teil den Text ganz erst. Und die vier, mal nur lauernden, dann unglaublich aufgespeedeten Schauspieler Vincent Glander, Torben Kessler, Felix Rech und Lukas Rüppel als Professoren-Gang verleihen der reinen Beschreibung des Animalischen und Bösen eine wahnwitzige Kraft.
    Denn es geht hier tatsächlich um die Abgründe der Menschheit. Um die pure Lust an der Gewalt, die gar nichts Berechnendes hat, die kein gesellschaftliches Ziel verfolgt, die nur Bedürfnisbefriedigung ist, die nur der Langeweile entspringt und dem Ekel vor der Welt der Etablierten und Erwachsenen. Der Sadismus von Alex hat Stil, er erreicht den Orgasmus nur mithilfe eines Violinkonzerts; er ist echt horrorshowmäßig gut drauf, egal, ob er dem sabbernden Alten eins draufgibt oder die Frau eines Schriftstellers vergewaltigt.
    Alex und die Droogs, seine Gang, bedienen sich einer Kunst- und Privatsprache, die ihre Gewalttaten noch einmal zynisch, fast möchte man sagen liturgisch überhöht. Der Autor Anthony Burgess hat diesen Jugendslang aus russischen Sprachwurzeln entwickelt, und der ganze erste Teil der Inszenierung ist eine reine Feier dieses Zynismus.
    Dann jedoch wird der Proband Alex in einem gläsernen Käfig hereingefahren, das wilde Tier, das Objekt der Wissenschaft, das Opfer brutaler Therapieversuche. Während Alex bei Burgess und auch in dem Film von Kubrick mit einer brachialen Verhaltenstherapie nach Skinnerschen Prinzipien zum funktionierenden Bürger zugerichtet wird, genügt bei Rüping eine Pille. Aber nun ist alles anders: Der Schauspieler Jan Breustedt gibt den Alex als perfekt umerzogenen Kafka-Affen, er robbt am Boden und würgt sich seinen Hass herunter. Man sieht, wie sich alle Aggression in diesem Körper aufstaut, und dann gibt er brav Pfötchen. Drumherum tanzen die Professoren. Und auf einmal gehört alle Sympathie des Regisseurs dieser unterdrückten Kreatur ...
    Ja, es ist fürchterlich langweilig, umerzogen zu werden, ein guter Mensch zu sein und in ein kitschiges Schaufensterwohnzimmer namens "Daheim" entführt zu werden. 45 Jahre nach Kubrick sollte aber auch Rüping klar sein, dass die Therapiemaßnahmen heute etwas differenzierter sind und dass sich durchaus die Frage stellt, wie der Wille zum Guten - oder sagen wir: zum Menschlichen - denn angestoßen werden könnte. Mit Zwang sicher nicht, da ist auch der Roman nicht mehr up to date.