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Clowns und Helden

Das Pariser Museum Jeu de Paume zeigt die größte Cindy-Sherman-Retrospektive aller Zeiten. Zu sehen sind von der legendären amerikanischen Fotokünstlerin Werke aus dem Zeitraum 1975 bis 2005: erfindungsreiche fotografische Abbilder ihrer Person und fantasievolle Rollenspiele - von ihren Selbstinszenierungen als kleines Mädchen aus dem Jahr 1975 bis zu Clownbildern aus dem 21. Jahrhundert.

Von Siegfried Forster |
    Ihre Werke sind seit 30 Jahren in Serien eingeteilt, tragen keine Titel, lediglich Nummern. Sie gibt keine Interviews für Funk und Fernsehen, beeinflusst ihr Zeitalter ohne große Mittel und Worte. Das absolute Merkmal eines Genies, bemerkt Kurator Regis Durand, sichtlich stolz, im Pariser Jeu de Paume die größte Retrospektive aller Zeiten zusammengetragen zu haben:

    "Was ihren Einfluss auf andere anbetrifft, so glaube ich, dass sie einen entscheidenden Einfluss hatte - nicht formaler oder direkter Art - sondern dadurch, dass sie bewiesen hat, dass man eine große Künstlerin sein kann, auch wenn man sich nur der Fotografie bedient, ohne sich die Frage stellen zu müssen, ob man nun Fotograf ist, Künstler oder was auch immer. Sie ist eine Künstlerin, eine der wichtigsten Künstler heute. Das dürfte etwas sehr Befreiendes gewesen sein, für viele Künstler."

    Wer bei dieser Retrospektive mehr über Cindy Sherman erfahren will, sollte sich vor den Bildern zuerst einmal die Besucher ansehen: Viele sind jung, die meisten jünger als die 52-jährige Kultfigur. Jeder verfolgt so seine eigene Strategie beim Gang durch Shermans Universum, das anziehend und abstoßend zugleich ist: Ein junger Vater mit Säugling im Arm will selbst alles sehen, aber sein Kind beschützen, Paare und Passanten grinsen in sich hinein, ein Dreikäsehoch bekommt hie und da zugeflüstert, die Augen zu schließen, eine Dame posiert für ihren Mann stolz lächelnd neben Nummer "#419", einer traurigen Clownfratze mit Teddybär. Cindy Shermans subversives Familienalbum unserer Gesellschaft wäre ohne die Betrachter ihrer Bilder unvollständig.

    "Der Zuschauer muss ein Engagement liefern, in persönlicher, psychischer, kultureller Hinsicht, um in die Fotografien einsteigen zu können. Das sind Fotografien, die verlangen, dass der Betrachter sich in sie hineinbegibt, sich investiert, um über das hinaus zu gehen, was uns gezeigt wird."

    Cindy Shermans Bildersturm der zeitgenössischen Kunst ist brav chronologisch geordnet. Für Spannung sorgen viele selten gezeigte Werke aus Privatsammlungen. Vor allem offenbart die Schau jedoch wie im Zeitraffer die radikale Entwicklung von Shermans Arbeit. Zu Beginn hängen kleinformatige Schwarz-Weiß-Bilder ordentlich aneinander gereiht an der Wand. Dann löst sich die Ordnung auf, die Formate werden größer, die Bilder bunter - bis hin zur Clown-Ikone mit rosaroter Wolke. Stehen wir vor Fotos? Gemälden? Installationen? Zu Bild erstarrten Theaterstücken? Auch inhaltlich löst die Klischeefresserin Sherman die Grenzen auf: zwischen Mann und Frau, Mensch und Maschine, Sex und Horror, dezent und dekadent, falsch und richtig. Bereits bei "Murder Mystery" inszeniert sie sich als Zwitter mit Schnurrbart und Küchenschürze, als Anti-Gigolo mit Hut, als Rotkäppchen-Verschnitt. In den Anfangsjahren inszeniert sie sich noch plakativ und wirkungsvoll, mimt Fahrgäste im Bus, setzt auf Rollenspiele. Mit den Jahren begnügt sie sich in ihren Fotografien mit kleinen Indizien, missbraucht für ihre Geschichten unsere Fantasien, bringt uns mit immer weniger immer mehr aus dem Gleichgewicht:

    "Bestimmte ihrer Werke stören, weil sie Dinge betreffen, die störend sind. Zum Beispiel, wenn sie abstoßende Dinge zeigt. Sie liefert uns eine oftmals groteske Sicht der Sexualität, bei der es überhaupt nicht um Verführung oder Phantasmen geht. Grotesk, was die Mechanik anbetrifft, es geht um etwas Unmenschliches, Nicht-Menschliches. Das ist sehr störend. Aber die störendsten Dinge sind nicht unbedingt die offensichtlichsten, wie die Sex- oder Horror-Bilder oder die surrealistischen Werke, sondern Dinge, die oberflächlich sehr glatt aussehen, aber erheblich weiter gehen."

    Äußerlich präsentiert das Jeu de Paume Shermans Werke also als leicht lesbare Bildergalerie, die uns allerdings innerlich in Unruhe und Unwohlsein versetzt. Sherman schockiert nicht, bringt keinen großen Stein ins Rollen, sondern steckt uns heimlich Kieselsteine in den Schuh. Cindy Sherman: eine schrecklich reizvolle Begleiterin.