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Commonwealth Games
Stadtentwicklung durch Sport

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi und die Fußball-WM in Brasilien: zwei Beispiele in der scheinbar endlosen Debatte um überteuerte Sportereignisse. Doch gibt es auch einen anderen, einen umsichtigen Weg? Am 23. Juli beginnen in Glasgow die Commonwealth Games, mit mehr als 6000 Athleten aus siebzig Ländern und Regionen. Die Schotten vermarkten ihre Spiele nicht als Gigantismus, sondern als Entwicklungsprojekt.

Von Ronny Blaschke | 05.07.2014
    Das Innere des Parkhead Stadium, dem Heimatstadion des Fußballvereins von Celtic Glasgow
    Schauplatz der Eröffnungsfeier: das Stadion von Celtic Glasgow (Ian Macnicol / AFP)
    Der Osten von Glasgow. Das lebendige Zentrum mit seinen Museen und Bars ist nur fünfzehn Gehminuten entfernt, und doch scheint man hier in einer anderen Welt zu sein. An der Haltestelle Bridgeton sind am späten Nachmittag kaum Menschen auf der Straße. Die beschmierten Rollläden sind heruntergelassen, daneben zerschlagene Schaufenster. An der Ecke gegenüber hat George Redmond sein Büro. Er sitzt im Stadtrat für die Arbeiterpartei Labour. "Ich denke, es gibt viele Probleme in dieser Gegend. Zum Beispiel die Herausforderungen im Gesundheitswesen: Viele junge Menschen trinken zu viel Alkohol, ernähren sich ungesund und treiben zu wenig Sport. Für manche ist das zum Lifestyle geworden, sie fühlen sich von der Arbeitswelt abgehängt. Wir wollen ihnen helfen, aber das ist oft schwer. Denn viele haben keine Agenda, keinen Antrieb. Das ist sehr frustrierend."
    Der Osten Glasgows prägte Ende des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung Schottlands. Glasgow galt als zweitwichtigste Stadt des Vereinten Königreichs. In Fabriken, Destillerien, Webereien. Doch das Britische Imperium zerbrach. Der Schiffbau wanderte nach Asien ab. Die 120000 Einwohner in Glasgow East bekommen die Rezession heute besonders zu spüren. Mietrückstände, Jugendkriminalität, Drogenkonsum. Im Stadtviertel Calton liegt die Lebenswartung der Männer bei Mitte fünfzig – und damit mehr als zwanzig Jahre unter dem britischen Durchschnitt. George Redmond sagt: "In dieser Gegend sind in den vergangenen zwanzig Jahren fast siebzig Prozent der Einwohner weggezogen. Ins Umland oder in andere Stadtteile."
    Politiker, Aktivisten und Kulturschaffende haben Ideen entwickelt, um ihrer Stadt eine neue Bedeutung zu geben. Nach einer breiten Marketingkampagne 1983 wurde Glasgow 1990 zur Europäischen Kulturhauptstadt ernannt. Gartenplanung, Architektur, Design: immer wieder bemühte sich die Verwaltung um Veranstaltungen und Wettbewerbe. Oben auf der Agenda: Sport. In diesem Sommer finden in Glasgow die Commonwealth Games statt, das größte Sport- und Kulturereignis in der Geschichte Schottlands. Nun soll der Fortschritt auch im gebeutelten Osten der Stadt ankommen, sagt Shona Robison, Ministerin Schottlands für Gesundheit und Sport.
    "Die Investitionen in die Infrastruktur belaufen sich auf eine Milliarde Pfund. Es gibt neue Straßen und Sportstätten, der Nahverkehr wurde verbessert. Es wurden 6000 Jobs geschaffen, von denen viele erhalten bleiben werden. Achtzig Prozent der beteiligten Firmen haben ihren Sitz in Schottland. Einige sind sehr klein, sie haben eine schwere Rezession hinter sich, und vielleicht konnten sie gerade durch die Commonwealth Games überleben. 5000 junge Menschen haben durch die Spiele einen Ausbildungsplatz oder ein Praktikum erhalten. Gerade der Osten von Glasgow hat sich stark gewandelt."
    Ähnlich wie die Olympia-Planer von London 2012 betrachten die Schotten ihr Sportereignis als Stadtentwicklung. Das Herz der Spiele wird im Osten liegen: Die Eröffnung findet im Fußballstadion von Celtic statt. Daneben ist ein moderner Sportkomplex Europas entstanden. Nicht weit davon entfernt liegt das Athletendorf für sechstausend Teilnehmer. Es soll später 700 Wohnungen und einem Seniorenheim Platz bieten. Shona Robison sagt: "Es gibt mehr als fünfzig Programme, die auf die Nachhaltigkeit der Spiele setzen. Wir hoffen, dass viele Menschen mehr Sport treiben und sich gesünder ernähren. Das würde ihr Selbstvertrauen stärken. Auch die Schulen sollen sich daran noch mehr ausrichten. Dieser Wandel passiert nicht über Nacht, die Programme sind auf einige Jahre ausgelegt. Es ist uns wichtig, die Psychologie zu ändern."
    Die Unterstützung für die Commonwealth Games im schottischen Parlament war parteiübergreifend, auch in der Bevölkerung regte sich kaum Widerstand. Auf der Suche nach Gastgebern für die größeren Olympischen Spiele ist das undenkbar. In Glasgow hoffen Kulturschaffende nun auf Wachstum im Tourismus. Die Historikerin Rachel Kacir ist im Tenemont House tätig, es konserviert den Alltag in den engen Stadthäusern des 19. Jahrhunderts. "Wir haben viele Besucher aus Australien, Kanada und Amerika, deren Eltern und Großeltern aus Schottland stammen und in diesen kleinen Stadthäusern aufgewachsen sind. Sie wollen sehen, wie ihre Vorfahren gelebt haben. Und viele dieser Besucher kommen mit Vorurteilen. Sie glauben, dass Glasgow eine dreckige Stadt ist, in der es viel Gewalt gibt. Doch wenn sie sich umschauen, erkennen sie, dass Glasgow lebenswert ist. Die Museen sind Weltklasse, es gibt viele Musikveranstaltungen, jeden Abend ist etwas los."