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Corona-Lockerungen
"Das Virus ist nicht aus Deutschland verschwunden"

Je mehr man die Verbote lockere, umso wichtiger sei es, dass die Menschen die generellen Hygiene- und Abstandsregeln einhalten, sagte der Virologe Herbert Pfister im Dlf. Ein Bodensatz des Coronavirus sei noch da, daher müsse weiterhin sorgfältig kontrolliert werden, beispielsweise mit Tests.

Herbert Pfister im Gespräch mit Jasper Barenberg | 07.05.2020
Zwei Spaziergänger gehen Ende April mit ihren Masken unter blühenden Kirschbäumen spazieren.
"Sieht alles sehr diszipliniert aus": Virologe Herbert Pfister beobachtet, dass Bürger die Hygieneregeln einhalten (picture alliance / Federico Gambarini)
In Sachsen-Anhalt dürfen sich fünf statt zwei Leute treffen, Niedersachsen will Restaurants am 11. Mai wieder öffnen, Mecklenburg-Vorpommern schon drei Tage früher, Bayern die Biergärten erst am 18. Mai. Die schrittweisen Lockerungen in den einzelnen Bundesländern fallen sehr unterschiedlich aus. Für alle aber gilt: Es dürfen sich wieder mehr Menschen insgesamt treffen. Alle Geschäfte dürfen unter Auflagen öffnen und Schritt für Schritt auch die Kitas und die Schulen.
Doch sind wir wirklich bereit für die nächste Phase weiterer Lockerungen? Darüber sprechen wir mit Herbert Pfister, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Virologie an der Universitätsklinik von Köln.
Barenberg: Herr Pfister, "wir können uns ein Stück Mut leisten", hat gestern Angela Merkel gesagt. Erlauben die Zahlen, erlauben die Daten dieses Ausmaß an Lockerungen?
Pfister: Ja! Aus meiner Sicht unbedingt. Was in der Vergangenheit und zum Beispiel auch von Herrn Lauterbach heute Morgen noch immer gesehen wird, als wäre eine, vom Bund regulierbare Einheitlichkeit über Deutschland gegeben, das ist ja nun in keinster Weise der Fall. Insofern bin ich über die neue Kontrollrichtschnur mit den 50 Neuinfektionen innerhalb von den letzten sieben Tagen auf Kreisebene sehr glücklich.
Virus "wird auch wieder aufflackern"
Barenberg: Sie sind der Meinung, dass wir, was die Ausbreitung von Corona angeht, den Stand der Pandemie bei uns im Land, dass wir da in einer Situation sind, wo wir differenzieren können – je nachdem, wie die Situation in einzelnen Regionen ist?
Pfister: Exakt. Jeder kann sich das über das Internet auf dem Dashboard des Robert-Koch-Instituts täglich angucken. Da wird genau dieser Parameter, der jetzt auch genutzt werden soll, für alle Kreise der Bundesrepublik dargestellt – tagesaktuell. Da sieht man einen Unterschied von weißen Kreisen. In diesen Kreisen gab es in den letzten sieben Tagen nicht einen neuen Fall von Covid-19. Dann geht das über hellgelb, dunkelgelb, Ocker bis knallrot. Das sind dann die Kreise, in denen die Schallgrenze von 50 Neuinfektionen gerade überschritten wird.
Helge Braun steht an seinem Platz im Deutschen Bundestag und spricht in ein Mikrofon.
"Wir leben nicht nach, sondern mitten in einer Pandemie"Helge Braun (CDU), Kanzleramtschef, hält die beschlossenen Corona-Lockerungen für den richtigen Weg. Die Pandemie werde uns noch lange begleiten, daher sei es wichtig, einen Zustand herzustellen, der durchzuhalten sei, sagte er im Dlf.
Wenn man sich das in der letzten Woche anguckt, dann sieht man da ein Aufflackern von roten Kreisen, aber im Großen und Ganzen ein Verschwinden. Vor etwas mehr als einer Woche, Anfang 20., 21., 22., 23. April, da hatten wir in Nordrhein-Westfalen noch zwei solche Kreise, in Bayern jede Menge, in Baden-Württemberg jede Menge, in Thüringen einen, und wenn man sich das heute Morgen anschaut, dann gibt es nur noch in Thüringen einen Landkreis, der über die Schallgrenze geht.
Barenberg: Herr Pfister, das heißt aber auf der anderen Seite: Wenn jetzt alle Geschäfte beispielsweise unter Auflagen wieder aufmachen, wenn es an den Schulen und an den Kitas Schritt für Schritt wieder weitergeht, wenn es mehr private Kontakte auch gibt, dann kann man sich schnell überlegen, mehr Menschen treffen wieder auf mehr Menschen. Heißt das wiederum auch, dass es geradezu unvermeidlich ist, dass die Zahlen der Infektionen dann wieder steigen werden?
Pfister: Ja! Das Virus ist nicht aus Deutschland verschwunden. Es ist vielleicht in einzelnen Kreisen so weit verschwunden, dass in den letzten zwei Wochen überhaupt keine neuen Fälle mehr dazugekommen sind. Aber in den meisten Fällen ist noch ein Bodensatz da und es wird auch wieder aufflackern. Das ist klar! Darum rede ich auch ganz nachdrücklich dem Wort, dass das Ganze weiterhin sorgfältig kontrolliert werden muss.
Fallbezogene "strenge Maßnahmen" in einer Region reichen
Barenberg: Wer soll das tun?
Pfister: Ja, das muss mit Testungen gemacht werden. Es muss fortgesetzt getestet werden. Es muss bei Auftreten von Symptomen – Infektionsausbreitung kann natürlich schon, wie wir seit Januar wissen, vorher erfolgen. Es muss, wenn aber Symptome auftreten, sofort das Kontaktumfeld erfasst werden, möglicherweise in Quarantäne gesetzt werden, und das natürlich vor allem in den Kreisen, in denen es aus dem Ruder zu laufen droht. Darum finde ich den Satz gestern der Kanzlerin so wichtig. Wenn so etwas auftritt in einem Kreis, dann muss nicht das ganze Land zurückgehen, sondern es reicht, wenn die Region, in der es kritisch wird, sich durch entsprechend strenge Maßnahmen und Konzepte wieder in den sicheren Bereich herunterbringt.
Barenberg: Nun gab es ja immer große Hoffnung, dass eine Hilfe auf diesem Weg die sogenannte Tracing-App wäre, eine Möglichkeit, Kontakte viel besser nachvollziehen zu können. Jetzt gibt es die noch nicht. Auf der anderen Seite werden die Gesundheitsämter gestärkt, um ihre Arbeit in der Nachverfolgung zu tun. Ist es unter diesem Gesichtspunkt ein Wagnis, jetzt ohne zum Beispiel eine solche Tracing-App diesen Weg zu gehen?
Pfister: Wenn ich mir die Entwicklung der letzten 14 Tage angucke, wie ich es gerade geschildert habe, würde ich sagen, das ist überschaubar. In den meisten Kreisen ist es auf weiß oder hellgelb - so sind die Einfärbungen vom Robert-Koch-Institut – stabil.
Die Leute – das muss man auch sagen, aber es wird ja auch vermittelt – müssen auch weiterhin die Hygienemaßnahmen, die Abstandsregeln, den Mundschutz in Läden, in öffentlichen Verkehrsmitteln nutzen, und das müssen sie alles einhalten.
Ältere Menschen in Pflegeheimen besonders "vulnerabel"
Barenberg: Haben Sie den Eindruck, dass das passiert? Und dazu gefragt: Kommt es noch mehr in dieser Phase jetzt auf die Eigenverantwortung von uns allen gewissermaßen an?
Pfister: Das natürlich! Ja, keine Frage. Je mehr man die allgemeinen Verbote lockert, umso mehr ist es wichtig, dass sich die Menschen den generellen Hygieneregeln, Abstandsregeln weiterhin widmen.
28.01.2020, Nordrhein-Westfalen, Oberhausen: Eine Frau trägt vor einer Apotheke eine Mund- und Nasenmaske.
Überblick zu COVID-19 - Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Zahlen
Wie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Wie ist der Stand bei Medikamenten und Impfung? Wie wirken sich Kontakteinschränkungen auf die Gesellschaft aus und welche Auswirkungen hat das Coronavirus auf die Wirtschaft? Ein Überblick.
Barenberg: Sind Sie da zuversichtlich? Manchmal hat man den Eindruck oder könnte sich vorstellen, wenn jetzt überall ein Stück Normalität wieder Einzug hält, dass dann immer mehr Menschen auf den Gedanken kommen, wir sind wieder im Normalbetrieb, jetzt muss ich das alles gar nicht mehr so ernst nehmen. Da haben Sie keine Sorge?
Pfister: Da habe ich eigentlich keine Sorge. Wir gucken ja schon auf eine Woche hier in Nordrhein-Westfalen zumindest, wo man auch wieder vermehrt in die kleineren Läden zunächst, in die mittleren Läden gehen kann, und soweit ich das gemacht habe in der letzten Woche, es war überall größte Disziplin. In den Läden alle Leute mit Mundschutz, die Abstandsregeln wurden befolgt, in den Läden waren noch auf dem Boden Gehwege eingezeichnet und Abstandsmarker angebracht. Das sieht alles sehr diszipliniert aus.
Barenberg: Es gibt ja Gruppen, die besonders gefährdet sind bei diesem Virus. Ältere Menschen gehören dazu, Menschen in Pflegeeinrichtungen etwa. Müssen die jetzt auch noch mal besonders geschützt werden und möglicherweise auch auf eine andere Art als bisher?
Pfister: Das ist keine Frage, ja. Die Mortalität, die Sterberate pro Infektion, die geht beim Alter über 80 schon deutlich hoch. Das mittlere Alter der Sterbefälle liegt ja ohnehin bei 81. Wenn man sich das mit dem mittleren Alter der Infektionen von 51 ansieht, dann wird ganz deutlich, wo das Problem liegt. Diese älteren Menschen in Pflegeheimen, in Seniorenheimen sind natürlich besonders vulnerabel, aber auch da hört man ja auch von den Leuten selbst, dass sie auch gerne zu einer Abwägung bereit sind. Der Lebensfreudegewinn auch durch den Kontakt zu Kindern und Enkeln wird mit einem gewissen in Kauf nehmen von Risiko auch akzeptiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.