Archiv


Daniel Lindenberg: Le rappel a l'ordre; Enquete sur les nouveaux réactionnaires; (Der Ordnungsruf; Recherche über die neuen Reaktionäre)

Vor Jahresende ist das intellektuelle Paris von einem jener Stürme heimgesucht worden, die das Wasserglas des Quartier Latin von Zeit zu Zeit kräftig überschwappen lassen. Diesmal erregte Daniel Lindenbergs schmales Büchlein, nicht einmal hundert Seiten stark, die Gemüter heftigst. Sein Titel ins Deutsche übersetzt lautet: 'Der Ordnungsruf. Recherche über die neuen Reaktionäre'. Besonders verstörte das Pariser juste milieu der Umstand, dass die Provokation aus den eigenen Reihen kam, nicht etwa von links außen oder aus einem Kreis notorischer Stänkerer. Der Verfasser Daniel Lindenberg ist Professor für Geschichte und Politologie, Mitglied der Sozialistischen Partei P.S. und Berater der Zeitschrift "Esprit", eines traditionell liberal-demokratisch orientierten Blattes. Lothar Baier hat den Skandalband für uns gelesen.

Lothar Baier |
    Was hat Daniel Lindenbergs derart solide eingerahmtes Büchlein an sich, dass es von dem prominenten Zeitschriftenherausgeber Marcel Gauchet als das Symptom einer "Degeneration des intellektuellen Lebens" verurteilt werden konnte? Der Autor Lindenberg fasst den Befund seiner Enquête so zusammen:

    Das neue reaktionäre Denken existiert. Wir haben es angetroffen. Wetten wir, dass jene, die heute an seiner Existenz zweifeln, morgen nur noch dieses Wort im Mund führen werden. Es stellen sich jedoch in mancherlei Hinsicht mehrere Fragen. Wird diese aufkommende Ideologie auf politisch fruchtbaren Boden fallen? Gewisse Indizien sind bereits vorhanden, um begründete Vermutungen anzustellen. Eine extreme Rechte, die Rückenwind zu haben glaubt, und eine desorientierte Ultralinke, huldigen bereits diesem oder jenem Helden unserer Fabel. In diesem Land weiß man aus Erfahrung, wie eine revolutionäre Rechte entsteht und zu welchen Kapitulationen eine gewisse Linke in der Lage ist, im Namen des Kampfs gegen die 'Großen', das Geld, oder wenn sie theatralisch die Nation oder das Volk entdeckt.

    Dieses "neue reaktionäre Denken", betont Lindenberg, sei keine geschlossene, ausformulierte Doktrin, die wie die "Neue Rechte" der frühen 80er Jahre über zentral gesteuerte Zeitschriften und Netzwerke verfügt und Chefideologen nach Art des intellektuellen Drahtziehers Alain de Benoist besitzt. Dieses Denken liegt eher in der Luft als in den Schaufenstern der Buchläden. Lindenberg hat sehr viel Material durchsuchen müssen, um die Elemente des von ihm so bezeichneten "neuen reaktionären Denkens" aufzuspüren. Philosophie, Literatur, Essayistik, Journalismus, sind die Terrains, auf denen der Professor für "Geschichte der Ideen", seine Funde aufliest. Ihre Deutung führt ihn zu dem Schluss, dass Frankreich einen ähnlichen ideologischen Rutsch erlebt wie die USA zu Beginn der achtziger Jahre. Damals schwenkten liberale jüdische Intellektuelle, die zuvor mit der Demokratischen Partei und den Gewerkschaften verbunden gewesen waren, zu den neokonservativen Positionen der Reagan-Ära um.

    Dennoch geht es Lindenberg nicht in erster Linie darum, französischen Autoren an den Karren zu fahren, die einer Art natürlicher biographischer Geländeneigung folgend von links nach rechts gewandert sind - das Phänomen ist ja auch aus dem Deutschland der Walser und Grass bekannt. Das "neue reaktionäre Denken", so wie Lindenberg es definiert, ist nicht schlicht rechts: dem Status quo verhaftet, ordnungsliebend, unkritisch, national. Es speist sich aus Quellen, die ganz anders konnotiert sind - kein Mensch etwa würde Albert Camus als Reaktionär verdächtigen. Und doch gibt es bei Camus, und zwar in "Der Mensch in der Revolte", bereits den Ausdruck eines pseudoästhetisch argumentierenden Ressentiments gegen die Massenkultur, das sich in jüngster Zeit, wie Lindenberg aufzeigt, in Literatur und Essayistik in Frankreich breit einfrisst. Einer der Herolde dieses Ressentiments ist Alain Finkielkraut, einer der intellektuellen Stars der Pariser Szene. Böse Zungen in Frankreich nennen ihn seit seinem Eintreten für den kroatischen Nationalismus nur noch "Finkielkroat". Dass Lindenberg respektlos genug war, mit diesem Essayisten wie auch mit anderen Lieblingen der Zeitung "Le monde" und des Fernsehens den Ofen zu putzen, das hat einen großen Teil der Empörung hervorgerufen, die dem Autor beim Erscheinen seines Buches entgegenschlug.

    Als durchgehenden Zug des "neuen reaktionären Denkens" identifiziert Lindenberg den Tabubrechergestus, der nach dem Muster funktioniert: man wird doch endlich einmal laut sagen dürfen, dass Mai '68 ein Desaster war mit der auf die Revolte folgenden Liberalisierung der Sitten, der sexuellen vor allem! Der Idee der Gleichheit wird ebenfalls der Prozess gemacht, der sich hybridisierenden Gesellschaft, und vor allem ‚dem Islam'.

    Seit dem 11. September 2001 sitzt zum ersten mal seit langer Zeit eine Weltreligion auf der Anklagebank. Von der durch die Verbrechen von Al-Quaida hervorgerufenen verständlichen Empörung schreitet man zur Stigmatisierung all dessen fort, was muslimisch ist. 'Islam: was man nicht zu sagen wagt', setzte das Magazin 'L'Express' kürzlich auf den Titel. Viele Journalisten und Intellektuelle, die die Unterscheidung von Religion und Politik im vorliegenden Fall für trügerisch halten, geben zu verstehen, dass man den Islam (und die Muslime) unter Aufsicht stellen muss. Jene Katholiken, die seit langem dem Dialog mit den Getreuen des Propheten ablehnend gegenüberstehen, finden hier eine willkommene Gelegenheit, mit dem abzurechnen, was sie als die Irrtümer oder die Verirrungen der Nach-Konzilskirche ansehen; sie nähern sich somit den modernisierungsfeindlichsten Kräften an.

    Als Vorläufer in Sachen Islamverteufelung macht Lindenberg den Erfolgsschriftsteller Michel Houellebecq aus. Ein monographischer Artikel am Ende des Buches sei allen blauäugigen, vom bloßen Verkaufserfolg geblendeten Literaturkritikern empfohlen. Er liefert eine außerordentlich instruktive Analyse des Falles Houellebecq. Da hat sich ja nicht einfach ein ausgebildeter Agro-Ingenieur eines Tages aus Passion der Literatur zugewandt, nach Art des ausgebildeten Agro-Ingenieurs Alain Robbe-Grillet. Houellebecq war demnach von Beginn seiner Schreiblaufbahn an viel mehr von ideologischen als von literarischen Interessen angetrieben. "Auf die Intelligenz verzichten", überschrieb er bereits 1990 einen flammenden Text. Solcher Verzicht auf die Intelligenz, inzwischen beklatscht von verstandesmäßig ermüdeten Ex-Linken, bringt dann, wie Goyas Schlaf der Vernunft, entsprechende Ungeheuer hervor. Lindenberg:

    Die Islamophobie, die man in (Houellebecqs jüngstem Roman) 'Plateforme' als eines der strukturierenden Momente des Buchs wiederfindet, ist nicht weniger heftig als jene, der man bei Oriana Fallaci begegnet. Im Mai 2002 hat die italienische Journalistin ein Pamphlet veröffentlicht, das sich Araber und Muslime mit einem furor vorknöpft, wie er sich nur noch bei dem gegen die Juden hetzenden Céline wiederfindet. Ihr Buch 'La rage et l'orgueil' erinnert mit zahlreichen Zügen - Tiervergleichen und Medikalisierung - an die antisemitische Obsession von 'Bagatelles pour un massacre'.

    Unter der Kapitelüberschrift "When Jews turn right" zählt Daniel Lindenberg, der 1940 als Kind polnisch-jüdischer Immigranten in Frankreich zur Welt kam, auch eine Reihe französisch-jüdischer Intellektueller zu den "neuen Reaktionären": den bereits erwähnten Alain Finkielkraut, aber auch den Historiker Shmuel Trigano und andere. Zweierlei wirft er ihnen vor: einmal die Aufgabe des traditionellen französisch-republikanischen Begriffs vom Judentum zugunsten einer kommunitaristisch-tribalistischen Konzeption. Zum anderen kreidet er ihnen die Geistesverwirrung an, beim geringsten Ausdruck von Kritik an der Politik der Scharon-Regierung in den Palästinensergebieten 'Hilfe, Antisemitismus' zu schreien. Was allerdings nicht in diesem Buch steht: Finkielkraut hat es fertiggebracht, wegen angeblicher 'Aufstachelung zum Rassenhass' den Redakteur des öffentlichen Rundfunks France-Inter Daniel Mermet zu verklagen. Der hatte eine Reportage in Israel und im Gazastreifen aufgenommen, in deren Verlauf, wie die wackeren Kläger herausfanden, Palästinenser ein paar Minuten länger zu Wort gekommen waren als die befragten Israelis. Die Klage hatte auch Alexandre Adler mitunterzeichnet, Chefredakteur der von "Le monde" herausgegebenen Wochenzeitschrift "Courrier international" und beliebter Kommentator beim deutsch-französischen Sender "Arte". Wen wundert es da noch, wenn man erfährt, dass Adler zu Zeiten ein glühender Stalinist in der kommunistischen Partei Frankreichs gewesen ist - "When Jews turn right"...

    Die Klage wurde übrigens im Sommer 2002 von einer Pariser Pressekammer abgewiesen. ein bemerkenswerter Vorgang: ein bürgerliches Gericht muss Intellektuelle, die sich von morgens bis abends auf das "J'accuse" des Intellektuellen Émile Zola berufen, an die Bedeutung von Meinungs- und Pressefreiheit in der demokratischen Gesellschaft erinnern. Woraus folgt, dass Daniel Lindenberg in seiner Enquête über die "neuen Reaktionäre" nicht im geringsten übertrieben hat.

    Daniel Lindenberg, Le rappel a l'ordre. Enquete sur les nouveaux réactionnaires, erschienen im Verlag Le seuil in Paris. Es hat 94 Seiten und kostet 10,50 Euro.