Freitag, 19. April 2024

Archiv


Das alte Spiel von Wissen und Nichtwissen

Nach seinen Bestsellern "Verbrechen" und "Strafe" hat Ferdinand von Schirach seinen ersten Roman vorgelegt. In "Der Fall Collini" geht es um persönliche Schuld, um Nazivergehen und um die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz. Ein bisschen zu viel für einen Roman, meint Oliver Seppelfricke.

Von Oliver Seppelfricke | 22.12.2011
    Ferdinand von Schirach verliert, so wie wir es beim Schreiben von ihm kennen, nicht viel Zeit: Schon auf Seite zwei geschieht das Verbrechen. Fabrizio Maria Collini, geboren am 26. März 1934, seit 35 Jahren in Deutschland als Werkzeugmacher tätig, jetzt pensioniert, ermordet einen 85-Jährigen. Erschießt ihn mehrfach, tritt ihm dann noch mehrmals ins Gesicht, und schon da ist klar: Dies ist kein gewöhnlicher Mörder, sondern ein Psychopath, ein Unberechenbarer, einer, der für alle Überraschungen gut ist. Es ist der 23. Mai 2001, Berlin, 20 Uhr, Hotel Adlon, der Tote vermutlich ein Altnazi. Collini bleibt nach der Tat in der Hotelsuite. Lässt sich problemlos festnehmen, und die Verteidigung fällt dem noch jungen und unerfahrenen Caspar Leinen zu. Weil er zur Tatzeit Notdienst hatte. So kommen die ersten Fälle zustande. Für Leinen noch peinlicher, gerade ist er von einer einjährigen Bummelreise zurück, hat sein Examen gerade noch geschafft, jetzt sitzt ihm ein Mörder gegenüber, der keinen Verteidiger will und der beharrlich schweigt. Doch genau das reizt Leinen, dabeizubleiben.

    Und dann wechselt der Roman plötzlich zu Leinens Kindheitsgeschichte. Aufgewachsen ist er als Einzelkind und Sohn eines Försters in einem dunklen Forsthaus im Bayerischen Wald. Mit zehn ist er ein Scheidungskind, doch befreundet ist er mit den reichen Meyer-Kindern. Vor allem mit dem Mädchen, das, so stellt sich rasch heraus, die Enkelin eben jenes Ermordeten ist, der im Hotel Adlon hingerichtet wurde. Hingerichtet von einem Mann, dessen Verteidiger nun Caspar Leinen ist. So klein ist die Welt, wenn es um die Zusammenführung zweier Figuren geht. Der Anlass der Hinrichtung liegt nicht weit zurück in der Vergangenheit: 1968, im Jahr der Rebellion gegen den "Mief der Talare", findet auch eine kleine Revolution in der deutschen Strafjustiz statt, vergleichsweise leise und unbemerkt. Der Paragraf 50 des Strafgesetzbuchs wird dahin gehend geändert, dass Verbrechen, die zuvor als Mord eingestuft wurden, nun als Totschlag gelten und damit eine Verjährungsfrist eintritt. Gut für die, die im NS-Staat Unrecht auf sich geladen hatten, und der ermordete Meyer gehörte dazu. Collini war sein Rächer. Ferdinand von Schirach holt also weit aus, um den roten Faden seines Romans zu spinnen, und er erklärt auch, warum dies notwendig war:

    "In den Kurzgeschichtenbänden das waren Verbrechen, die uns betreffen. Das sind Verbrechen, die uns allen passieren können. Und wo wir reinschlittern. Wo wir unsere Kontrolle verlieren. Das Buch jetzt, da geht es natürlich um eine ganz andere Art von Verbrechen. Das waren Staatsverbrechen, die von langer Hand geplant sind und die kalt sind. Und die uns nicht passieren können in der Regel. Weil wir einfach schon nicht in einem solchen Staat leben. Und weil wir in anderer Art und Weise denken."

    Das Staatsverbrechen, das von Schirach hier meint, ist die Hinrichtung von italienischen Partisanenkämpfern zur NS-Zeit. Der ermordete Meyer war hierfür als SS-Mann verantwortlich. Und der Mörder Collini zieht den Mörder Meyer nach vielen Jahren der Verjährung nun doch noch zur Verantwortung heran. Und damit wären wir schon beim Kosmos, der den Autor und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach so fasziniert: Wo endet persönliche Verantwortung, wo beginnt persönliche Schuld? Was liegt dazwischen? Der Autor hat dazu, obwohl der Erfolg seiner Erzählungen genau dieser undefinierten Spannweite zu verdanken ist, eine ganz klare Meinung:

    "Es gibt natürlich immer eine Verantwortung. Es gibt ja zwar heute Leute, Hirnforscher, ernstzunehmende Menschen, die sagen, der Mensch ist sozusagen vorherbestimmt. Alles, was er tut, kann er nicht mehr steuern. Das würde heißen, er hat auch keine Verantwortung mehr. Daran glaube ich überhaupt nicht. Also ich glaube, dass man immer versuchen sollte, sich zu entscheiden. Manchmal klappt das nicht, aber den Anspruch an sich selbst, den Versuch sollte man schon haben."

    Der ermordete Hans Meyer ist einer der reichsten Männer Deutschlands. Unternehmenschef, Träger des Bundesverdienstkreuzes, Vertrauter hoher Politiker, ein unbescholtener Mann, so scheint es. Das Unternehmen, das der Großvater 1886 gründete, expandiert, eine wichtige Akquisition steht unmittelbar bevor. Da ist es natürlich schlecht, dass der Chef und Verhandlungsführer fehlt, die Presse ist rauszuhalten, und dann stört zu allem Überfluss auch noch dieser Anwalt Caspar Leinen. Der früh als Jugendlicher in eine Meyer-Tochter verliebt war und der sich nun entscheiden muss, ob er auf Anraten der ehemaligen Geliebten den Fall abgeben will und kann und ob er das überhaupt darf. Wir sehen, Ferdinand von Schirach schildert ausführlich die verzwickten Zusammenhänge, er schildert ausführlich das Kolorit: die Stuben der Jugend, das Amt, das reiche Herrenhaus, kurz die gesamte Umgebung, die räumlichen und zeitlichen Umstände. Und wir merken, dass hier etwas ganz anders ist als in den Vorgängerbüchern: So gut und schön und notwendig der lange Atem ist, um die Szenerie aufzubauen, es fehlt die Lakonie und Kälte, in der von Schirach in seinen Erzählungen unvorstellbare Morde in wenigen Zeilen vorkommen ließ. Kurz: Es fehlt der Ton, diese Mischung aus Grausamkeit auf sanften Pfoten, der Ton, an den wir uns schon gewöhnt hatten. Ein Manko? Ferdinand von Schirach antwortet salomonisch:

    "Erstmal ist es so, dass Disraeli, der große englische Premier, einmal sagte, 'never complain, never explain'. Ich glaube nicht, dass man Kritiker kritisieren sollte für das, was sie sagen. Das Buch ist nun einmal so, wie es ist. Und wenn es den Leuten gefällt, ist es in Ordnung. Und denen, denen es nicht gefällt, ist auch in Ordnung. Ich möchte das nicht kritisieren."

    Es geht in dem Buch um das alte Spiel von Wissen und Nichtwissen. Wer weiß, kann vorankommen, wer nicht weiß, bleibt zurück. Oder auch nicht. Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen, man sieht den Wald trotz aller Bäume dann besser. So ergeht es Caspar Leinen. Der Sohn aus kleinen Verhältnissen, der mit dem ermordeten Meyer früher Schach gespielt und ihn als netten Menschen erlebt hatte, ist nun mit einer ganz anderen Wahrheit konfrontiert, der nette, alte Mann war früher ein eiskalter Mörder. Leinen erlebt an sich selber die Verstrickung von Schuld, Moral, Verantwortung und Tat. Doch diesmal vermag die Mischung uns nicht zu überzeugen. Zu viele weit auseinanderliegende Schauplätze sind aufgemacht, zeitliche wie räumliche, der Autor verliert sich zugleich im Detail und muss doch den großen Überblick behalten, die Abhandlung von persönlicher Schuld, von Nazivergehen, von Fehlern der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz, von der Bewertung und Beurteilung von Taten, die heute oder nach den Maßstäben früherer Rechtsprechung abzuhandeln wären - das ist viel für einen Roman. Für diesen Roman ist es zu viel! Und auch wenn das Buch im Ausland erfolgreich ist, so möchte man dem Autor zurufen, "weniger ist manchmal mehr!" Als Strafverteidiger weiß Ferdinand von Schirach das schon lange, als Romanautor muss er es noch lernen.

    Ferdinand von Schirach. "Der Fall Collini". Roman.
    Piper Verlag 2011, 195 Seiten, 18,99 Euro