Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Das Beobachten des Beobachtetwerdens

"Nichts, nichts" heißt der neue Erzählband des 28-jährigen österreichischen Schriftstellers Bernhard Strobel, in unseren Tagen ein gewagter Titel, denn er weckt nicht besonders große Erwartungen auf spannende oder gar unterhaltsame Storys.

Ein Beitrag von Martin Grzimek | 30.11.2010
    Mutig ist auch der Droschl Literaturverlag in Graz, der von einem jungen Autor gleich zwei Bücher mit Erzählungen nacheinander veröffentlicht, wo man doch weiß, dass Erzählbände junger Autoren nicht gerade zu den Bestsellern auf dem Markt gehören. Schon vor drei Jahren publizierte Droschl Geschichten von Bernhard Strobel mit dem ebenfalls nicht viel Ausblick und Heiterkeit versprechenden Titel "Sackgasse". Bereits in diesem Buch wie auch jetzt wieder in "Nichts, nichts" geht es in den Geschichten um Randexistenzen, Ausnahmesituationen fernab der geschminkten Welt großer Städte. Eine stilistisch karge Prosa durchzieht die beiden Bände, die paradoxerweise den Eindruck erweckt, der Erzähler verbiete sich gleichsam das Erzählen. So heißt es in der letzten der insgesamt neun Geschichten "Eine flüchtige Bekanntschaft", in der es um einen Mann geht, der sich im bergigen Grenzgebiet in einer Waldhütte versteckt:

    "Meine Hütte liegt fast direkt neben den Gleisen. Sie hat schon einige Jahre auf dem Buckel, wenn nicht Jahrzehnte; das größte Problem ist das Dach, es besteht aus einer einfachen Platte aus Wellblech, das den Niederschlag nicht gut verträgt. Ich habe alles so übernommen, von einem Vorgänger, dessen lebende Bekanntschaft mir nicht zuteil wurde. Sollte irgendwann der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass ich zu Geld komme, werde ich mir ein neues Dach bauen. Aber das wird nicht passieren. Hat das Leben sich einmal mit seinem breiten Rücken vor einem aufgestellt, kann man noch so fest darauf einschlagen, es wird sich nicht wenden."

    Hinter diesem "Leben ... mit seinem breiten Rücken" nimmt in fast allen Geschichten des Prosabandes "Nichts, nichts" der Ich-Erzähler seine Position ein. Er blickt kaum einmal sich selbst oder auch anderen über die Schulter, sondern verfolgt sich und seine Protagonisten mit starrem Blick. Wie in der Geschichte "Eine flüchtige Bekanntschaft" setzt das Geschehen in irgendeinem Moment des Lebens ein. Der Mann, der sich in die Waldhütte bei den Gleisen zurückgezogen hat, wird plötzlich in seinem Alltag gestört durch zwei unvermutet aus dem Wald auftauchende Gestalten. Ein Vater und seine 14jährige Tochter, Emigranten, die Angst davor haben abgeschoben zu werden, wollen sich bei ihm verstecken. Die Geschichte erzählt nichts über Hintergründe, über das politische Umfeld, die Personen haben anscheinend keine Biografie. Was Strobel zu interessieren scheint, ist das Spiel der Verdopplung oder Spiegelung: Wer sich bei jemandem, der sich vor der Gesellschaft versteckt, selbst verstecken will, trägt unwillkürlich zu dessen Entdeckung bei – aus dem Versteck wird gleichsam ein allen bekannter Ort. Das erinnert an einen Satz von Robert Walser, der in einer seiner Geschichten schrieb: Kaum wirst du zum Beobachter, wirst du schon selbst beobachtet.

    Von diesem Prinzip ist auch die erste Geschichte mit dem Titel "Ein Herr unserer Zeit" geleitet. Der "Herr", um den es sich bei dem Ich-Erzähler handelt, ist ein achtzigjähriger Mann, der gegenüber einem Klinikum wohnt und dessen Leben in Gewohnheiten festgefahren zu sein scheint.

    "Es war weit nach zehn Uhr. Ich pflege in der Regel nicht später als acht, meistens halb acht aus dem Bett zu steigen, und nun stand ich vor dem Fenster meiner kleinen Küche und blickte verdrossen hinunter zum Eingang des Klinikcafés: Es ist zu spät, dachte ich, um diese Zeit kriegst du bestimmt keinen anständigen Platz. Und richtig, als ich nach einer Viertelstunde eintraf, waren alle Tische besetzt. Ich war enttäuscht, und obgleich es mich nicht unvorbereitet traf, fühlte ich eine bittere Unruhe in mir aufkommen. Mein Plan für diesen Tag war dabei, sich in Luft aufzulösen; das machte mich nervös, ich hatte nur diesen."

    In Strobels Erzählungen sind es meist diese kleinen Irritationen, die den Kern der Geschichte bestimmen. Zugleich aber, und das ist das Sonderbare an der Prosa des jungen Wieners, verblassen solche Verunsicherungen und nervös machenden Störungen wieder sehr schnell, werden hingenommen wie ein Schicksal, dem man nicht ausweichen kann. In der Anfangsgeschichte trifft der alte Mann, als er sich dann doch dazu entschlossen hat, wie stets in das Klinikcafé zu gehen, eine alte Bekannte wieder.

    "Es war Andrea, die beste Freundin meiner vor langer Zeit verstorbenen Frau. Ich war irritiert. Sie deutete auf den Platz ihr gegenüber. Ich zögerte, es war kein guter Tisch, er stand mitten im Raum, und ich lasse nur ungern fremde Blicke in meinem Rücken zu. Schließlich setzte ich mich. Sie war mir schon früher aufgefallen, ihr rechtes Bein war steif und verlangte nach einer Krücke, ich hatte es beobachtet, als sie das Lokal verließ, es mochte keine Woche her gewesen sein. Sie hatte jetzt rotes Haar, und ihre gesamte Erscheinung hatte sich stark gewandelt. Oder die Erinnerung trügt mich, das soll ja vorkommen."

    "...ich lasse nur ungern fremde Blicke in meinem Rücken zu" – und, wir erinnern uns: "...hat sich das Leben erst mal mit seinem breiten Rücken vor uns aufgestellt, kann man noch so fest darauf einschlagen, es wird sich nicht wenden" – diese beiden Sätze aus der ersten und der letzten Geschichte des Erzählbandes korrespondieren miteinander, schlagen gleichsam den Kreis des Nicht-beobachten-könnens und des Nicht-beobachtet-werden-wollens um all die anderen Geschichten, die von Außenseiter- und Eigenbrötlertum handeln – so in der Erzählung "Sonntagsruhe", einer Familienszene nach der Beerdigung der Mutter, oder in "Mehr schlecht als recht", wo es wieder um einen älteren Mann geht, der Hüte sammelt und weggeworfene Küchenutensilien und dann auf einen Nachbarn trifft, der von der Polizei gesucht wird. Das alles klingt, wenn man es so nacherzählen will, abstrus und durcheinander. Was Bernhard Strobel in seinen Prosastücken skizziert, ist auch gar nicht nacherzählbar und soll es wohl auch nicht sein. Dass er, der 28-jährige, dabei in vielen seiner Geschichten so gern in die Blickweise alter Männer schlüpft, deutet an, hinter welchem Rücken er sich verstecken will, und lässt vermuten, warum diese Prosa so eigenwillig, zaghaft, tapsend und auch mutlos ist. Andererseits aber hat sie eine Qualität, die vielen ach so selbstbewusst dahererzählenden zeitgenössischen jungen Schriftsteller und Schriftstellerinnen fehlt: sie ist ehrlich, an keiner Stelle effekthascherisch, sie braucht weder eine Pointe noch eine drastische, übertriebene Situation. Bernhard Strobel widmet sich einer sehr viel feineren und schwierigeren Kunst. Er versucht, sich selbst in den Rücken zu schauen, er beobachtet das Beobachtetwerden.

    Bernhard Strobel: "Nichts, nichts. Erzählungen". Literaturverlag Droschl, Graz Wien 2010. 117 Seiten, Euro 18,00