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"Das Eis"

Wenn unschuldige Salatköpfe gegen die Wand geschmettert werden und ein Schauer über den Rücken läuft, weil man die Ermordung sowjetischer Gulag-Gefangener zu sehen meint - dann ist es ein Stück von Alvis Hermanis. Der Regisseur aus dem lettischen Riga ist, nach erst zwei Gastspielen in Deutschland, schnell zum Regiewunder stilisiert worden - und man ahnt nach seiner Frankfurter Inszenierung, warum. Auch wenn er mit Vladimir Sorokins Roman "Eis" eine Vorlage mit Tücken gewählt hat. Das fängt schon mit der Story an, die starke Nerven verlangt: Science-Fiction Trash mit einem kräftigen Schuss Pornografie und Gewalt, Moskauer Tristesse und sowjetischem Historiendrama.

Von Ruth Fühner |
    Eine Sekte von Blonden und Blauäugigen schlägt anderen Blonden und Blauäugigen mit einem Eishammer die Brust auf, um ihrem Herzen zu lauschen. Spricht das Herz nicht, werden die Körper weggeworfen wie leere Nussschalen. Summt es aber leise einen Namen, gehört das halbtote Opfer zu den 23.000 Auserwählten, die beim Aufprall eines mythischen Urlicht-Meteors auf die Erde zersplitterten. Es wird aufgenommen in eine obskure Gemeinschaft, die eine Liebe jenseits des Sex verbindet. In Russland Fuß gefasst hat die Sekte durch die junge Warja, die im Zweiten Weltkrieg von Nazis kooptiert wurde - ihre ersten Verbindungsmänner in der Sowjetunion sind KGB-Leute. Mit ihrer Hilfe wächst die Bruder- und Schwesternschaft bald rapide an.

    Eine waghalsige und krude Erfindung, die aber an die Wurzel totalitärer Heilsversprechen rührt: Sorokin nimmt die Sehnsucht nach einer unverfälschten "Sprache des Herzens" ganz ernst - und zeigt zugleich, wie mit jeder Phantasie von Ursprung, Reinheit und Liebe Mord und Totschlag in die Welt kommen.

    Die tückische Romanform des Textes wird für die Inszenierung von Alvis Hermanis zum Glücksfall. Der umständliche Titel - "Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt" ist dabei ganz wörtlich zu nehmen, die Bühne ein leerer schwarzer Kasten mit ein paar Tischen und Stühlen wie für eine Leseprobe. Das Geräusch umgeschlagener Buchseiten geht in den Rhythmus eines russischen Liedes über, und schon liegt eine Leichtigkeit über dem Abend, die mühelos weiter trägt in ein Fest der Imagination - denn hier findet alles, Sex and Crime und Rock'n Roll, in den Köpfen der Zuschauer statt. Die Schauspieler teilen einen Fotoroman an die Zuschauer aus, später einen pornographischen Comic und alte russische Familienalben. Die ziehen dem Geschehen auf der Bühne zusätzliche Ebenen ein - die getreue Bebilderung, die obszöne Phantasie, das konkrete historische Schicksal; doch das sind nur selbstironische Zugaben zu einem Theaterabend, der in der Verweigerung den Zauber der Verschwendung aufblitzen lässt.

    "Kham, 12 Jahre alt, blondes Haar, blaue Augen, zartgliedrig," liest jemand eine von Sorokins lakonischen Personenbeschreibungen vor - zu sehen ist eine Schauspielerin, die die 70 hinter sich gelassen hat. Und ja, der Widerstreit zwischen Behauptung und Erscheinung geht zugunsten der Phantasie aus. Es ist tatsächlich ein junges Mädchen, das sich ans Herz des handfesten und gerade wiedergeborenen Geschäftsmanns Borenboim schmiegt - und zugleich hält der alternde Körper der Schauspielerin den Spalt zwischen Lüge und Wahrheit offen, der auch der Spalt zwischen Theater und Welt ist.

    In ausgiebigen Improvisationen hat Alvis Hermanis mit den großartig aufgelegten Schauspielern eine Überfülle von Ideen entwickelt, die Sorokins Roman genau in diesem Spalt Wurzeln schlagen lassen. Da kann ein Herz in einer Brust sitzen oder im Bühnenboden, der berüchtigte Eishammer ist mal eine Plastiktüte, die an die Wand fliegt, und beim nächsten Mal schon gar nicht mehr da, weil man ihn sich dazudenkt. Selten gab es eine komischere Sexszene als die, bei der die Hure Alla statt eines Penis eine Wasserflasche masturbiert und die geschäftsüblichen Stöhn- und Juchzgeräusche mit der heiteren Ungerührtheit einer Barmixerin unterlegt.

    Scheinbar mühelos schlüpfen die Schauspieler aus der Vorlesesituation und wieder zurück, zelebrieren zärtliche Orgienskulpturen und wütende Eifersucht, herzzerreißende Verzweiflung und unschuldige Erleuchtung. Gegen Ende, da sind aber schon wunderbare drei von vier Stunden vorbei, franst der Übermut endlich in erschöpftes Normalmass aus. Als von der Decke herab die Portraits von Putin, Lady Di oder Claudia Schiffer den gegenwärtigen Stand der blond-blauäugigen Welteroberung markieren und die Schauspieler funkenstiebend ihre Schlittschuhe schleifen, geht die Besichtigung eines angekündigten Theaterwunders zuende. Sehr viel zu viel versprochen war das nicht.