Ich grüsse Sie herzlich, meine Damen und Herren, willkommen zu dieser Sendung. In der vergangenen Nacht, Sie haben es den Tag über in allen unseren aktuellen Politik-Sendungen gehört, haben russische Sicherheitskräfte das Musical-Theater in Moskau gestürmt, in dem tschetschenische Terroristen eine Vielzahl von Schauspielern, Musikern, Technikern und vor allem Zuschauern festgehalten haben. Über 1oo Menschen verloren bei dieseem Sturm ihr Leben, darunter die meisten der Geiselnehmer, aber auch mindestens 67 Geiseln. Die dramatischen Ereignisse der Stunden seit Mittwoch abend hat unsere Moskau-Korrespondentin Sabine Adler verfolgt.
Wir wollen, das unsere Verwandten, die sich dort befinden lebend und gesund zurückkommen, ich habe meine Schwestern dort.
Sie haben gezittert, gefleht, vielleicht gebetet und auf Befehl der Terroristen demonstriert. Für die Angehörigen der über 800 Geiseln war es ein Nervenkrieg, für die Gekidnappten 55 Stunden Todesangst.
Heute morgen um 7 Uhr wurde ihm ein Ende gesetzt. Um sechs Uhr sollte das viele Male geänderte Ultimatum ablaufen, doch die Ereignisse der Nacht machten den russischen Einsatzkräften klar, dass ein Ultimatum längst nicht mehr gilt. Der Sprecher des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Sergej Igatschenko:
Ungeachtet der Gespräche, der Erfüllung der Forderungen der Terroristen haben die Terroristen angefangen, Menschen zu erschießen. Sie haben zwei Geiseln erschossen. Danach versuchte eine Gruppe auszubrechen, die Terroristen schossen ihnen hinterher. Es gibt Opfer, Verletzte. Unter diesen Bedingungen war die Sondereinheit gezwungen, den Geiseln zu Hilfe zu kommen, sie zu retten.
Um zwei Uhr nachts wurden ein Mann und eine Frau mit Schussverletzungen aus dem Theater in ein Krankenhaus gebracht. Kurz vor sechs, vor Ablauf des Ultimatums, dann die Schreckensnachricht, dass die Terroristen mit der Erschießung der Geiseln beginnen. Der Anfang vom Ende.
Um sechs Uhr morgens in Moskau, rund um das Theater herrscht Krieg. Zwischen die Fronten geraten waren völlig ahnungslose Zuschauer, die am Mittwoch nur gekommen waren, sich ein Musical anzuschauen. Den russischen Romanklassiker "Die zwei Kapitäne", der als Musical "Nord-Ost" heißt.
Nach dem zweiten Akt und der ersten Szene ging ein bewaffneter Mann auf die Bühne, schoss in die Luft und scheuchte alle Schauspieler von der Bühne hinunter in den Saal. Anfangs glaubten wir noch, dass das zum Musical gehört, doch dann wurde schnell klar, dass es sich um eine echte Geiselnahme handelt. Sie sagten, dass sie Tschetschenen sind, dass sie den Krieg beenden wollen, dass alle Zuschauer Geiseln sind, und sie erklärten, dass sie den Saal verminen wollen.
Von Teenagern wie Maxim, die als einer der wenigen noch am Mittwochabend freigelassen wurden, erfuhr die Welt per Handy, was geschehen war. Ein Selbstmordkommando war erklärtermaßen nach Moskau gekommen, um hier entweder den Tschetschenienkrieg zu beenden, ober aber zu sterben. Über 40 Terroristen, darunter 18 Frauen, alle verschleiert und mit Sprengstoff an den Gürteln bestückt, folgten dem Kommando ihres Anführers, Mowsat Barajew.
Dessen Onkel, Arbi Barajew, war in Russland ein Symbol für Grausamkeit und Menschenverachtung, sein 23jähriger Neffe stand ihm in nichts nach. Michail Margelow, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Föderationsrates zu diesem ganz besonders brutalen Familienclan:
Das ist auch deshalb eine Provokation, weil die Gruppe angeführt wird von Mowsar Barajew, das ist der Neffe von Abi Barajew, der seinerzeit von dem Geld der Al Qaida lebte und sich nicht zu schade war, trotzdem noch einen britischen und drei neuseeländische Spezialisten zu enthaupten. Das alles hat nichts mit Freiheitskampf und Unabhängigkeit zu tun, das sind professionelle Provokateure und Terroristen.
"Die Banditen sind fast alle vernichtet worden. Einschließlich ihres Anführers Barajew. Den Selbstmordattentätern ist es nicht gelungen, sich in die Luft zu sprengen. Ein Teil der Banditen ist geflüchtet, es sind nicht viele. Ich wende mich an sie, wenn sie sich jetzt zuerkennen geben und aufgeben, bleiben sie am Leben, wenn nicht, garantieren wir für nichts, wir betrachten sie als außergewöhnlich gefährliche Verbrecher und so werden sie dann auch behandelt.
Wladimir Wassilijew, der stellvertetende Innenminister Russlands trat die ganze Nacht, immer wenn es neue schreckliche Nachrichten zu verkünden gab, vor die Presse. Bei strömendem Regen, übernächtigt und erschöpft. Als er das Ende der Befreiungsaktion verkündete, machte sich trotz aller Sorge, wie viele Menschenleben der Sturm gekostet hat, auch Erleichterung breit. Die Sprengung des Theaters, die möglicherweise alle Insassen unter den Trümmern begräbt, wurde verhindert. Noch bevor dem Terrorismusexperten Oleg Netschiporenko die Opferzahl von 67 toten Geiseln vorlag, war er des Lobes voll.
Das Ergebnis ist erfolgreich, ich möchte den Teilnehmern dieser Operation dazu gratulieren. Die teilweise jahrelange Vorbereitung hat sich ausgezahlt, sie konnten ihre Fähigkeiten umsetzen. In bestimmtem Grade kann man sich darüber freuen und diesen Tag, diesen Samstagmorgen einen guten Morgen nennen.
Die Sondereinheiten hatten Nervengas benutzt, das offenbar auch den Geiseln selbst schwer zusetzte. Der größte Teil von ihnen wurde an Händen und Füßen gefasst aus dem Theater getragen und in Busse gebracht. Der Blick durch die Fenster der Fahrzeuge bot ein beängstigendes Bild. Die Menschen konnten sich kaum auf ihren Sitzen halten, doch die allermeisten hatten überlebt. Mehr als zwei Tage ohne Wasser und Nahrung, in unüberbietbarem Stress hatten sie es geschafft. Vielleicht waren es auch die Aufrufe ihrer Angehörigen, die ihn die Kraft dazu gaben, die Appelle und ihr Mitgefühl, wie bei dieser Mutter, die ihre Tochter und deren Theaterfreude per Fernsehkamera anspricht.
Haltet durch. Wir hoffen so sehr, dass das alles bald vorbei ist. Wir warten auf euch, wir lieben euch, wir werden ohne euch nicht von hier fortgehen. Jungs, seid richtige Männer!
Enttäuscht vom Ausgang des Geiseldramas dürften vor allem Verhandlungsführer Jewgeni Primakow, der Ex-Außenminister und Ex-Premier sein, auch der ehemalige inguschetische Präsident Auschew, die Oppositionspolitiker Irina Chakamada und Grigori Jawlinksi, am allermeisten aber wohl Aslambek Aslachaanow. Der Dumaabgeordente der Republik Tschetschenien schämte sich für seine Landsleute nicht nur in Grund und Boden, gemeinsam mit der tschetschenischen Diaspora in Moskau versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Die Angst, das sich das ohnehin zerrüttete Verhältnis zwischen Tschetschenen und Russen noch weiter verschlechtert, ist nach dieser Massengeiselnahme begründet. Achmad Kadyrow, der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef in Tschetschenien, geht mit den Verbrechern, die auch seine Landsleute sind, hart ins Gericht.
Das ist die vollständige Offenbarung ihrer wahren Gesichter, auch für die die mit ihnen mitgefühlt haben, sie unterstützt haben, die sie empfangen haben. Auch in Amerika. Sie zeigten ihre Gesicht, das Gesicht von Terroristen.
Ruslan Auschew, der als ehemaliger Präsident Inguschetiens die Grenzen seines Landes öffnete und bis heute über 150 000 Tschetschenienflüchtlinge beherbergt, sieht in dem Geiseldrama das Versagen der Politik, das seiner Meinung nach noch schwerer wiegt als die Unfähigkeit der Polizei, eine solche von langer Hand geplante Aktion zu verhindern.
Wenn sich ein Land im Krieg befindet, muss es sich auf die Folgen dessen gefasst machen. Wir sehen hier die Folgen dessen. Als Präsident von Inguschetien und als Mitglied des Föderationsrates habe ich immer wieder dazu aufgerufen: Lassen sie uns das Problem Tschetschenien genauer betrachten. Was geht dort im einzelnen vor sich. Aber weder der heutige Föderationsrat noch die Duma wollen wirklich wissen was dort, im Süden Russlands, vor sich geht. Sie müssen sich heute ernsthaft die Frage stellen, warum sie gewählt worden sind, warum man sie noch für die Führer der Föderation halten soll.
Der russische Präsident, der anders als früher, dieses Mal von Anfang an präsent war, wird auch trotz des blutigen Ausgangs des Geiseldramas weiter mit Unterstützung durch die russische Bevölkerung rechnen können.
Unser Handeln ist darauf gerichtet, das Leben der Menschen zu retten. Lassen wir alle politischen Erklärungen und Debatten beiseite, sie sind fehl am Platz und schädlich. Diejenigen, die die Geiseln gefangen genommen haben, rufen zur Beendigung des Krieges und des Blutvergießens auf, aber zugleich passt ihnen eine solche Entwicklung ja gar nicht. Sie und die , die hinter ihnen stehen, fürchten in Wahrheit die Stabilisierung der Verhältnisse in Tschetschenien, die Annahme einer Verfassung und die Wahl der Volksvertreter. Genau das wollen sie nicht, das fürchten sie, diesen Prozess wollen sie stören.
Leider ist die Stabilität in Tschetschenien noch reines Wunschdenken, statt dessen beherrscht alltägliche Terrorismus das Leben. Anschläge von Freischärlern, Menschenrechtsverletzungen durch russische Truppen. Der Sprengstoff dieses Konfliktes ist dieses Mal in Moskau hochgegangen.
Sabine Adler aus Moskau. Der Tschetschenien-Konflikt quält Russland schon seit über zehn Jahren. Die Tschetschenen streben nach Unabhängigkeit, aber Russland will sie nicht dorthin entlassen. Ein solcher Schritt könnte Signalwirkung in andere Regionen Russlands haben. Außerdem hat Russland ein hohes wirtschaftliches Interesse daran, dass Tschetschenien im Staatsverbund bleibt. Modelle einer gewissen Autonomie haben sich bisher als nicht tragfähig erwiesen. Dennoch wurde heute in vielen Stellungnahmen in Moskau, aber auch in anderen Ländern, der Ruf nach einer politischen Lösung für Tschetschenien immer lauter. Ob die Terroristen wenigstens erreicht haben, dass sich die Welt wieder diesem Konflikt zuwendet, wird die Zukunft zeigen. Auch erst in den nächsten Tagen werden wir wohl erfahren, inwieweit dieser Anschlag auch internationale Unterstützung erfahren hat, ob z.B. die El Quaida bei Planung und Durchführung mitgewirkt hat. Heute schon sprachen einige davon, dass unter den Terroristen auch Araber gewesen sein sollen. Aber hier sollten wir abwarten, bis der Pulverdampf der vergangenen Nacht uns den Blick auf die Fakten wieder ermöglicht. Aber wie kam es, dass der Tschetschenien-Konflikt plötzlich mit dieser Schärfe nach Moskau getragen wurde? Dieser Frage ist mein Kollege Robert Baag nachgegangen, der sich zur Zeit ebenfalls in Moskau aufhält.
"Der Krieg dauert an!" - Auf diese knappe Formel brachte es heute morgen der prominente Journalist Vitalij Korotitsch, als er im russischen Fernsehen nach seiner Einschätzung zum Ausgang des Geiseldramas gefragt wurde. Damit wiederholte er eine Meinung die bei vielen Russen vorherrscht: Sie haben den offiziellen Verlautbarungen aus Kreml, Verteidigungs- und Innenministerium noch nie so recht getraut, wonach der Zweite Tschetschenienkrieg doch schon längst beendet sei und die Lage in der Nordkaukasus-Republik sich zunehmend normalisiere. Denn der veritable Partisanenkrieg dort, den eine vergleichsweise kleine Zahl inzwischen äußerst kampferfahrener Tschetschenen seit dem Spätherbst 1999 gegen die russischen Streitkräfte immer noch führt, lässt sich nicht wegdiskutieren. Und das heute blutig beendete Moskauer Geiseldrama, dem das eiskalte, logistisch perfekt organisierte zugleich aber auch menschenverachtend verbrecherische Kidnappen von über 800 ahnungslosen und unschuldigen Musical-Besuchern mitten in Moskau voraus ging, ist nun der vorläufige Höhepunkt einer verhängnisvollen Entwicklung, die seit Anfang der 90er Jahre eine - vermeidbare! - Eigendynamik entwickelt hat.
Der Zerfall der Sowjetunion 1991 setzte noch unter der Diktatur Stalins geknebelte Nationalgefühle frei, denen das neue, sich jetzt der Demokratie verpflichte Russland hilflos gegenüber stand. Als Präsident Jelzin damals den vielen ungeduldigen Klein- und Kleinstvölkern der russischen Föderation zurief, sie mögen sich doch so viel Souveränität zusammenraffen wie sie nur wollten, setzte er unbeabsichtigt eine Lawine in Gang. Und die Nordkaukasus-Republik Tschetschenien sollte sich dabei buchstäblich als härtester Felsbrocken erweisen. Moskau reagierte bald zunehmend gereizter auf tschetschenische Unbotmäßigkeiten, die unter dem Schutz ihrer selbst proklamierten Unabhängigkeit durchaus kriminelle Aktivitäten zum Schaden auch der russischen Wirtschaft entwickelten. Waffenschmuggel, Rauschgifthandel, Geldwäsche, Kreditbetrügereien gab es sicherlich nicht nur in Tschetschenien -aber eben in einem Umfang, den Russland sich nicht mehr bieten lassen wollte.
Ein entscheidender, ein verhängnisvoller Fehler aber war, das Moskau ausgerechnet am Fall Tschetschenien ein abschreckendes Exempel statuieren wollte. Anstatt geschmeidig und flexibel mit dessen ersten Präsidenten Dschochar Dudajew zu verhandeln und vielleicht eine gemeinsame Geschäftsgrundlage für die Zukunft auszuhandeln, setzte der Kreml auf militärische Gewalt. Und: Verrechnete sich. Denn das Volk der Tschetschenen wehrte sich, hatte die russisch-sowjetische Bevormundung der vergangenen 250 Jahre nicht vergessen und schlug zurück. Die Folge: Der so genannte Erste Tschetschenien-Krieg von 1994 bis 1996 mit zehntausenden Toten auf beiden Seiten - und einer demütigenden de-facto-Niederlage für die russische Armee am Ende.
Eine echte Chance - so sehen es viele Beobachter bis heute - bot jedoch im Spätsommer 1996 der russisch-tschetschenische Vertrag von Chassawjurt, eine Art Friedensvertrag. Die Tschetschenen sollten sich - so die Übereinkunft - 5 Jahre Zeit lassen und danach entscheiden, ob sie bei Russland verbleiben wollen. Heute ist keine Rede mehr davon.
Aber anstatt damals eine derartige Möglichkeit zu nutzen, ernsthaft mit dem 1997 demokratisch gewählten und vor allem anfangs konstruktiv-gutwilligen Präsidenten Aslan Maschadov zum beiderseitigen Nutzen zusammenzuarbeiten, ließ Moskau die ungeliebte Nordkaukasus-Republik wirtschaftlich am langen Arm verhungern und topedierte sogar den Wiederaufbau.
Tschetschenien versank wieder in Elend, Chaos und - in der Folge - immer tiefer in einen kriminellen Sumpf. Maschadow geriet von zwei Seiten in Bedrängnis: Zum einen - die Radikalen im eigenen Lager, die zunehmend auch den Islamismus als ideologische Basis für ihren Kampf entdeckten. Und zum zweiten: eben das kompromisslos nur auf Härte setzende Moskau, das seinen einstigen potentiellen Verhandlungspartner Maschadow in den Zweiten Tschetschenienkrieg förmlich hineindrängte, da es zunächst wieder glaubte, nach der klassischen Kolonial-Devise des "Teile und herrsche" die tschetschenische Führung spalten zu können.
Einen Krieg im klassischen Verständnis, eine offene Feldschlacht mit einem Gewinner und Verlierer danach / das wird es im Nordkaukasus auch in Zukunft nicht geben. Ein zynischer Spruch lautet dagegen: "Moskau kann den Krieg nur gewinnen - wenn es schließlich keine Tschetschenen mehr gibt."
Nicht zuletzt das auch gegenüber dem eigenen Leben nihilistische Verhalten der 20- bis 30 jährigen Geiselnehmer von Moskau beweist, dass die Gewaltbereitschaft in Tschetschenien heute so ausgeprägt ist wie wohl kaum zuvor. Ein einfaches Beispiel: Der heute morgen beim Sturm auf das Theatergebäude ums Leben gekommene Terroristen-Anführer Movsar Barajew war gerade mal 24 Jahre alt. Aber seit seinem 14. Lebensjahr lebte er nur in einem Umfeld von Krieg, krimineller Anarchie, Gewalt und Tod. Ein Phänomen, das sich für Russland mittel- und langfristig verheerend auswirken kann. Stimmen aus dem kleinen Lager der russischen Menschenrechtler haben schon vor langer Zeit warnend darauf hingewiesen, dass sich Moskau mit seiner langen, brutalen Pazifizierungs-Politik die sie bedrohenden Terroristen und Kidnapper selbst heranzüchte. Bisher umsonst.
Und erste Reaktionen aus dem Pro-Putin-Lager geben erneut keine allzu grossen Hoffnung auf einen möglicherweise moderateren Kurs in naher Zukunft. Militäraktionen gegen die tschetschenischen Kämpfer müssten jetzt - nach dem Ende des Geiseldramas - unbedingt fortgesetzt werden, war etwa zu hören. Man dürfe die Verbrecher und ihre Hintermänner nicht zur Ruhe kommen lassen.
Obwohl bis jetzt keine überprüfbaren Beweise vorliegen, die Aslan Maschadow in Verbindung mit dem Terrorakt von Moskau bringen, halten Teile des Regierungs-Lagers sowie Duma-Vertreter Maschadow jetzt für diskreditiert und - wie sie formulieren - für "verbrannt". Denn die Welt dürfte spätestens jetzt das wahre Gesicht des tschetschnischen Separatismus erkannt haben. Russland müsse in Tschetschenien bleiben, um den Islamismus dort abzuwehren. Bestimmte, nicht namentlich genannte westliche Länder fordere man schließlich auf, dort lebende Drahtzieher der Moskauer Tragödie an Russland auszuliefern.
Für Putin selbst dürfte die Bilanz des dreitägigen Dramas gemischt ausfallen: Er hat seinen Landsleuten bei der Lösung des Geiselproblems sicherlich Führungsstärke und Nervenkraft demonstriert. Nicht zuletzt solche Eigenschaften, die sich die meisten seiner Landsleute von einem russischen Präsidenten wünschen. - Allerdings sind heute nach dem Sturmangriff sehr viele Todesopfer zu beklagen und die russischen Sicherheitsstrukturen werden erklären müssen, ob es wirklich nur die von ihnen gewählte Variante gegeben hat, das Musiktheater-Gebäude zu stürmen. Vor allem aber bleibt die Frage offen, wie es überhaupt zu dieser schockierenden Geiselnahme - mitten im Herzen des Landes - kommen konnte. Und gespannt darf man schließlich sein, ob die russischen Entscheidungsträger wenigstens diesmal über ihren Schatten zu springen bereit sind und sich vom stereotypen Feindbild "Tschetschene" zu verabschieden vermögen. - Denn aneinandergekettet bleiben sie beide, Tschetschenen und Russen. Dafür sorgt allein schon die Geographie im Nordkaukasus - ob mit oder ohne bewachten Grenzzaun zwischen beiden Völkern. Dieser Vorschlag für einer vermeintlichen Lösung des Problems war in Moskau schon wieder zu hören.
Das, meine Damen und Herren, war eine erste Einordnung der Ereignisse der vergangenen Tage in Moskau. Noch sind zahlreiche Fragen unbeantwortet, aber das ist klar angesichts der Kürze der Zeit, die seit den Ereignissen vergangen ist. Widerstreitende Gefühle prägen diese Stunden: Erleichterung über das Ende der Aktion, die für viele positiv ausging, aber auch Trauer und Entsetzen über den Tod von mehr als 100 Menschen. Ich wünsche Ihnen dennoch einen Guten Abend.
Wir wollen, das unsere Verwandten, die sich dort befinden lebend und gesund zurückkommen, ich habe meine Schwestern dort.
Sie haben gezittert, gefleht, vielleicht gebetet und auf Befehl der Terroristen demonstriert. Für die Angehörigen der über 800 Geiseln war es ein Nervenkrieg, für die Gekidnappten 55 Stunden Todesangst.
Heute morgen um 7 Uhr wurde ihm ein Ende gesetzt. Um sechs Uhr sollte das viele Male geänderte Ultimatum ablaufen, doch die Ereignisse der Nacht machten den russischen Einsatzkräften klar, dass ein Ultimatum längst nicht mehr gilt. Der Sprecher des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Sergej Igatschenko:
Ungeachtet der Gespräche, der Erfüllung der Forderungen der Terroristen haben die Terroristen angefangen, Menschen zu erschießen. Sie haben zwei Geiseln erschossen. Danach versuchte eine Gruppe auszubrechen, die Terroristen schossen ihnen hinterher. Es gibt Opfer, Verletzte. Unter diesen Bedingungen war die Sondereinheit gezwungen, den Geiseln zu Hilfe zu kommen, sie zu retten.
Um zwei Uhr nachts wurden ein Mann und eine Frau mit Schussverletzungen aus dem Theater in ein Krankenhaus gebracht. Kurz vor sechs, vor Ablauf des Ultimatums, dann die Schreckensnachricht, dass die Terroristen mit der Erschießung der Geiseln beginnen. Der Anfang vom Ende.
Um sechs Uhr morgens in Moskau, rund um das Theater herrscht Krieg. Zwischen die Fronten geraten waren völlig ahnungslose Zuschauer, die am Mittwoch nur gekommen waren, sich ein Musical anzuschauen. Den russischen Romanklassiker "Die zwei Kapitäne", der als Musical "Nord-Ost" heißt.
Nach dem zweiten Akt und der ersten Szene ging ein bewaffneter Mann auf die Bühne, schoss in die Luft und scheuchte alle Schauspieler von der Bühne hinunter in den Saal. Anfangs glaubten wir noch, dass das zum Musical gehört, doch dann wurde schnell klar, dass es sich um eine echte Geiselnahme handelt. Sie sagten, dass sie Tschetschenen sind, dass sie den Krieg beenden wollen, dass alle Zuschauer Geiseln sind, und sie erklärten, dass sie den Saal verminen wollen.
Von Teenagern wie Maxim, die als einer der wenigen noch am Mittwochabend freigelassen wurden, erfuhr die Welt per Handy, was geschehen war. Ein Selbstmordkommando war erklärtermaßen nach Moskau gekommen, um hier entweder den Tschetschenienkrieg zu beenden, ober aber zu sterben. Über 40 Terroristen, darunter 18 Frauen, alle verschleiert und mit Sprengstoff an den Gürteln bestückt, folgten dem Kommando ihres Anführers, Mowsat Barajew.
Dessen Onkel, Arbi Barajew, war in Russland ein Symbol für Grausamkeit und Menschenverachtung, sein 23jähriger Neffe stand ihm in nichts nach. Michail Margelow, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Föderationsrates zu diesem ganz besonders brutalen Familienclan:
Das ist auch deshalb eine Provokation, weil die Gruppe angeführt wird von Mowsar Barajew, das ist der Neffe von Abi Barajew, der seinerzeit von dem Geld der Al Qaida lebte und sich nicht zu schade war, trotzdem noch einen britischen und drei neuseeländische Spezialisten zu enthaupten. Das alles hat nichts mit Freiheitskampf und Unabhängigkeit zu tun, das sind professionelle Provokateure und Terroristen.
"Die Banditen sind fast alle vernichtet worden. Einschließlich ihres Anführers Barajew. Den Selbstmordattentätern ist es nicht gelungen, sich in die Luft zu sprengen. Ein Teil der Banditen ist geflüchtet, es sind nicht viele. Ich wende mich an sie, wenn sie sich jetzt zuerkennen geben und aufgeben, bleiben sie am Leben, wenn nicht, garantieren wir für nichts, wir betrachten sie als außergewöhnlich gefährliche Verbrecher und so werden sie dann auch behandelt.
Wladimir Wassilijew, der stellvertetende Innenminister Russlands trat die ganze Nacht, immer wenn es neue schreckliche Nachrichten zu verkünden gab, vor die Presse. Bei strömendem Regen, übernächtigt und erschöpft. Als er das Ende der Befreiungsaktion verkündete, machte sich trotz aller Sorge, wie viele Menschenleben der Sturm gekostet hat, auch Erleichterung breit. Die Sprengung des Theaters, die möglicherweise alle Insassen unter den Trümmern begräbt, wurde verhindert. Noch bevor dem Terrorismusexperten Oleg Netschiporenko die Opferzahl von 67 toten Geiseln vorlag, war er des Lobes voll.
Das Ergebnis ist erfolgreich, ich möchte den Teilnehmern dieser Operation dazu gratulieren. Die teilweise jahrelange Vorbereitung hat sich ausgezahlt, sie konnten ihre Fähigkeiten umsetzen. In bestimmtem Grade kann man sich darüber freuen und diesen Tag, diesen Samstagmorgen einen guten Morgen nennen.
Die Sondereinheiten hatten Nervengas benutzt, das offenbar auch den Geiseln selbst schwer zusetzte. Der größte Teil von ihnen wurde an Händen und Füßen gefasst aus dem Theater getragen und in Busse gebracht. Der Blick durch die Fenster der Fahrzeuge bot ein beängstigendes Bild. Die Menschen konnten sich kaum auf ihren Sitzen halten, doch die allermeisten hatten überlebt. Mehr als zwei Tage ohne Wasser und Nahrung, in unüberbietbarem Stress hatten sie es geschafft. Vielleicht waren es auch die Aufrufe ihrer Angehörigen, die ihn die Kraft dazu gaben, die Appelle und ihr Mitgefühl, wie bei dieser Mutter, die ihre Tochter und deren Theaterfreude per Fernsehkamera anspricht.
Haltet durch. Wir hoffen so sehr, dass das alles bald vorbei ist. Wir warten auf euch, wir lieben euch, wir werden ohne euch nicht von hier fortgehen. Jungs, seid richtige Männer!
Enttäuscht vom Ausgang des Geiseldramas dürften vor allem Verhandlungsführer Jewgeni Primakow, der Ex-Außenminister und Ex-Premier sein, auch der ehemalige inguschetische Präsident Auschew, die Oppositionspolitiker Irina Chakamada und Grigori Jawlinksi, am allermeisten aber wohl Aslambek Aslachaanow. Der Dumaabgeordente der Republik Tschetschenien schämte sich für seine Landsleute nicht nur in Grund und Boden, gemeinsam mit der tschetschenischen Diaspora in Moskau versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Die Angst, das sich das ohnehin zerrüttete Verhältnis zwischen Tschetschenen und Russen noch weiter verschlechtert, ist nach dieser Massengeiselnahme begründet. Achmad Kadyrow, der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef in Tschetschenien, geht mit den Verbrechern, die auch seine Landsleute sind, hart ins Gericht.
Das ist die vollständige Offenbarung ihrer wahren Gesichter, auch für die die mit ihnen mitgefühlt haben, sie unterstützt haben, die sie empfangen haben. Auch in Amerika. Sie zeigten ihre Gesicht, das Gesicht von Terroristen.
Ruslan Auschew, der als ehemaliger Präsident Inguschetiens die Grenzen seines Landes öffnete und bis heute über 150 000 Tschetschenienflüchtlinge beherbergt, sieht in dem Geiseldrama das Versagen der Politik, das seiner Meinung nach noch schwerer wiegt als die Unfähigkeit der Polizei, eine solche von langer Hand geplante Aktion zu verhindern.
Wenn sich ein Land im Krieg befindet, muss es sich auf die Folgen dessen gefasst machen. Wir sehen hier die Folgen dessen. Als Präsident von Inguschetien und als Mitglied des Föderationsrates habe ich immer wieder dazu aufgerufen: Lassen sie uns das Problem Tschetschenien genauer betrachten. Was geht dort im einzelnen vor sich. Aber weder der heutige Föderationsrat noch die Duma wollen wirklich wissen was dort, im Süden Russlands, vor sich geht. Sie müssen sich heute ernsthaft die Frage stellen, warum sie gewählt worden sind, warum man sie noch für die Führer der Föderation halten soll.
Der russische Präsident, der anders als früher, dieses Mal von Anfang an präsent war, wird auch trotz des blutigen Ausgangs des Geiseldramas weiter mit Unterstützung durch die russische Bevölkerung rechnen können.
Unser Handeln ist darauf gerichtet, das Leben der Menschen zu retten. Lassen wir alle politischen Erklärungen und Debatten beiseite, sie sind fehl am Platz und schädlich. Diejenigen, die die Geiseln gefangen genommen haben, rufen zur Beendigung des Krieges und des Blutvergießens auf, aber zugleich passt ihnen eine solche Entwicklung ja gar nicht. Sie und die , die hinter ihnen stehen, fürchten in Wahrheit die Stabilisierung der Verhältnisse in Tschetschenien, die Annahme einer Verfassung und die Wahl der Volksvertreter. Genau das wollen sie nicht, das fürchten sie, diesen Prozess wollen sie stören.
Leider ist die Stabilität in Tschetschenien noch reines Wunschdenken, statt dessen beherrscht alltägliche Terrorismus das Leben. Anschläge von Freischärlern, Menschenrechtsverletzungen durch russische Truppen. Der Sprengstoff dieses Konfliktes ist dieses Mal in Moskau hochgegangen.
Sabine Adler aus Moskau. Der Tschetschenien-Konflikt quält Russland schon seit über zehn Jahren. Die Tschetschenen streben nach Unabhängigkeit, aber Russland will sie nicht dorthin entlassen. Ein solcher Schritt könnte Signalwirkung in andere Regionen Russlands haben. Außerdem hat Russland ein hohes wirtschaftliches Interesse daran, dass Tschetschenien im Staatsverbund bleibt. Modelle einer gewissen Autonomie haben sich bisher als nicht tragfähig erwiesen. Dennoch wurde heute in vielen Stellungnahmen in Moskau, aber auch in anderen Ländern, der Ruf nach einer politischen Lösung für Tschetschenien immer lauter. Ob die Terroristen wenigstens erreicht haben, dass sich die Welt wieder diesem Konflikt zuwendet, wird die Zukunft zeigen. Auch erst in den nächsten Tagen werden wir wohl erfahren, inwieweit dieser Anschlag auch internationale Unterstützung erfahren hat, ob z.B. die El Quaida bei Planung und Durchführung mitgewirkt hat. Heute schon sprachen einige davon, dass unter den Terroristen auch Araber gewesen sein sollen. Aber hier sollten wir abwarten, bis der Pulverdampf der vergangenen Nacht uns den Blick auf die Fakten wieder ermöglicht. Aber wie kam es, dass der Tschetschenien-Konflikt plötzlich mit dieser Schärfe nach Moskau getragen wurde? Dieser Frage ist mein Kollege Robert Baag nachgegangen, der sich zur Zeit ebenfalls in Moskau aufhält.
"Der Krieg dauert an!" - Auf diese knappe Formel brachte es heute morgen der prominente Journalist Vitalij Korotitsch, als er im russischen Fernsehen nach seiner Einschätzung zum Ausgang des Geiseldramas gefragt wurde. Damit wiederholte er eine Meinung die bei vielen Russen vorherrscht: Sie haben den offiziellen Verlautbarungen aus Kreml, Verteidigungs- und Innenministerium noch nie so recht getraut, wonach der Zweite Tschetschenienkrieg doch schon längst beendet sei und die Lage in der Nordkaukasus-Republik sich zunehmend normalisiere. Denn der veritable Partisanenkrieg dort, den eine vergleichsweise kleine Zahl inzwischen äußerst kampferfahrener Tschetschenen seit dem Spätherbst 1999 gegen die russischen Streitkräfte immer noch führt, lässt sich nicht wegdiskutieren. Und das heute blutig beendete Moskauer Geiseldrama, dem das eiskalte, logistisch perfekt organisierte zugleich aber auch menschenverachtend verbrecherische Kidnappen von über 800 ahnungslosen und unschuldigen Musical-Besuchern mitten in Moskau voraus ging, ist nun der vorläufige Höhepunkt einer verhängnisvollen Entwicklung, die seit Anfang der 90er Jahre eine - vermeidbare! - Eigendynamik entwickelt hat.
Der Zerfall der Sowjetunion 1991 setzte noch unter der Diktatur Stalins geknebelte Nationalgefühle frei, denen das neue, sich jetzt der Demokratie verpflichte Russland hilflos gegenüber stand. Als Präsident Jelzin damals den vielen ungeduldigen Klein- und Kleinstvölkern der russischen Föderation zurief, sie mögen sich doch so viel Souveränität zusammenraffen wie sie nur wollten, setzte er unbeabsichtigt eine Lawine in Gang. Und die Nordkaukasus-Republik Tschetschenien sollte sich dabei buchstäblich als härtester Felsbrocken erweisen. Moskau reagierte bald zunehmend gereizter auf tschetschenische Unbotmäßigkeiten, die unter dem Schutz ihrer selbst proklamierten Unabhängigkeit durchaus kriminelle Aktivitäten zum Schaden auch der russischen Wirtschaft entwickelten. Waffenschmuggel, Rauschgifthandel, Geldwäsche, Kreditbetrügereien gab es sicherlich nicht nur in Tschetschenien -aber eben in einem Umfang, den Russland sich nicht mehr bieten lassen wollte.
Ein entscheidender, ein verhängnisvoller Fehler aber war, das Moskau ausgerechnet am Fall Tschetschenien ein abschreckendes Exempel statuieren wollte. Anstatt geschmeidig und flexibel mit dessen ersten Präsidenten Dschochar Dudajew zu verhandeln und vielleicht eine gemeinsame Geschäftsgrundlage für die Zukunft auszuhandeln, setzte der Kreml auf militärische Gewalt. Und: Verrechnete sich. Denn das Volk der Tschetschenen wehrte sich, hatte die russisch-sowjetische Bevormundung der vergangenen 250 Jahre nicht vergessen und schlug zurück. Die Folge: Der so genannte Erste Tschetschenien-Krieg von 1994 bis 1996 mit zehntausenden Toten auf beiden Seiten - und einer demütigenden de-facto-Niederlage für die russische Armee am Ende.
Eine echte Chance - so sehen es viele Beobachter bis heute - bot jedoch im Spätsommer 1996 der russisch-tschetschenische Vertrag von Chassawjurt, eine Art Friedensvertrag. Die Tschetschenen sollten sich - so die Übereinkunft - 5 Jahre Zeit lassen und danach entscheiden, ob sie bei Russland verbleiben wollen. Heute ist keine Rede mehr davon.
Aber anstatt damals eine derartige Möglichkeit zu nutzen, ernsthaft mit dem 1997 demokratisch gewählten und vor allem anfangs konstruktiv-gutwilligen Präsidenten Aslan Maschadov zum beiderseitigen Nutzen zusammenzuarbeiten, ließ Moskau die ungeliebte Nordkaukasus-Republik wirtschaftlich am langen Arm verhungern und topedierte sogar den Wiederaufbau.
Tschetschenien versank wieder in Elend, Chaos und - in der Folge - immer tiefer in einen kriminellen Sumpf. Maschadow geriet von zwei Seiten in Bedrängnis: Zum einen - die Radikalen im eigenen Lager, die zunehmend auch den Islamismus als ideologische Basis für ihren Kampf entdeckten. Und zum zweiten: eben das kompromisslos nur auf Härte setzende Moskau, das seinen einstigen potentiellen Verhandlungspartner Maschadow in den Zweiten Tschetschenienkrieg förmlich hineindrängte, da es zunächst wieder glaubte, nach der klassischen Kolonial-Devise des "Teile und herrsche" die tschetschenische Führung spalten zu können.
Einen Krieg im klassischen Verständnis, eine offene Feldschlacht mit einem Gewinner und Verlierer danach / das wird es im Nordkaukasus auch in Zukunft nicht geben. Ein zynischer Spruch lautet dagegen: "Moskau kann den Krieg nur gewinnen - wenn es schließlich keine Tschetschenen mehr gibt."
Nicht zuletzt das auch gegenüber dem eigenen Leben nihilistische Verhalten der 20- bis 30 jährigen Geiselnehmer von Moskau beweist, dass die Gewaltbereitschaft in Tschetschenien heute so ausgeprägt ist wie wohl kaum zuvor. Ein einfaches Beispiel: Der heute morgen beim Sturm auf das Theatergebäude ums Leben gekommene Terroristen-Anführer Movsar Barajew war gerade mal 24 Jahre alt. Aber seit seinem 14. Lebensjahr lebte er nur in einem Umfeld von Krieg, krimineller Anarchie, Gewalt und Tod. Ein Phänomen, das sich für Russland mittel- und langfristig verheerend auswirken kann. Stimmen aus dem kleinen Lager der russischen Menschenrechtler haben schon vor langer Zeit warnend darauf hingewiesen, dass sich Moskau mit seiner langen, brutalen Pazifizierungs-Politik die sie bedrohenden Terroristen und Kidnapper selbst heranzüchte. Bisher umsonst.
Und erste Reaktionen aus dem Pro-Putin-Lager geben erneut keine allzu grossen Hoffnung auf einen möglicherweise moderateren Kurs in naher Zukunft. Militäraktionen gegen die tschetschenischen Kämpfer müssten jetzt - nach dem Ende des Geiseldramas - unbedingt fortgesetzt werden, war etwa zu hören. Man dürfe die Verbrecher und ihre Hintermänner nicht zur Ruhe kommen lassen.
Obwohl bis jetzt keine überprüfbaren Beweise vorliegen, die Aslan Maschadow in Verbindung mit dem Terrorakt von Moskau bringen, halten Teile des Regierungs-Lagers sowie Duma-Vertreter Maschadow jetzt für diskreditiert und - wie sie formulieren - für "verbrannt". Denn die Welt dürfte spätestens jetzt das wahre Gesicht des tschetschnischen Separatismus erkannt haben. Russland müsse in Tschetschenien bleiben, um den Islamismus dort abzuwehren. Bestimmte, nicht namentlich genannte westliche Länder fordere man schließlich auf, dort lebende Drahtzieher der Moskauer Tragödie an Russland auszuliefern.
Für Putin selbst dürfte die Bilanz des dreitägigen Dramas gemischt ausfallen: Er hat seinen Landsleuten bei der Lösung des Geiselproblems sicherlich Führungsstärke und Nervenkraft demonstriert. Nicht zuletzt solche Eigenschaften, die sich die meisten seiner Landsleute von einem russischen Präsidenten wünschen. - Allerdings sind heute nach dem Sturmangriff sehr viele Todesopfer zu beklagen und die russischen Sicherheitsstrukturen werden erklären müssen, ob es wirklich nur die von ihnen gewählte Variante gegeben hat, das Musiktheater-Gebäude zu stürmen. Vor allem aber bleibt die Frage offen, wie es überhaupt zu dieser schockierenden Geiselnahme - mitten im Herzen des Landes - kommen konnte. Und gespannt darf man schließlich sein, ob die russischen Entscheidungsträger wenigstens diesmal über ihren Schatten zu springen bereit sind und sich vom stereotypen Feindbild "Tschetschene" zu verabschieden vermögen. - Denn aneinandergekettet bleiben sie beide, Tschetschenen und Russen. Dafür sorgt allein schon die Geographie im Nordkaukasus - ob mit oder ohne bewachten Grenzzaun zwischen beiden Völkern. Dieser Vorschlag für einer vermeintlichen Lösung des Problems war in Moskau schon wieder zu hören.
Das, meine Damen und Herren, war eine erste Einordnung der Ereignisse der vergangenen Tage in Moskau. Noch sind zahlreiche Fragen unbeantwortet, aber das ist klar angesichts der Kürze der Zeit, die seit den Ereignissen vergangen ist. Widerstreitende Gefühle prägen diese Stunden: Erleichterung über das Ende der Aktion, die für viele positiv ausging, aber auch Trauer und Entsetzen über den Tod von mehr als 100 Menschen. Ich wünsche Ihnen dennoch einen Guten Abend.