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Das fliegende Kondensat

Physik.- Vor 15 Jahren kreierten Forscher erstmals ein sogenanntes Bose-Einstein-Kondensat: eine winzige und extrem kalte Gaswolke, deren Atome sich ähnlich verhalten wie das Licht eines Lasers. Nun hat ein Forscherteam dem Bose-Einstein-Kondensat das Fliegen beigebracht.

Von Frank Grotelüschen | 22.06.2010

    Der Verschluss hakt aus, die Kapsel stürzt abwärts – wie ein Fahrstuhl, dessen Seil gerissen ist. Knapp fünf Sekunden später, nach 150 Metern, rauscht die Kapsel mit 170 Sachen in ein Becken voller Styroporkugeln. Schauplatz des Spektakels ist der Bremer Fallturm. Ein Mekka für alle Forscher, die Experimente bei Schwerelosigkeit lieben.

    "Dann hat man für kurze Zeit, etwa für viereinhalb Sekunden, die Bedingungen, wie ich sie auch im Satelliten habe – wie die Internationale Raumstation, die um die Erde herumsaust. Diese Art von Schwerelosigkeit – bis auf ein Millionstel der Erdbeschleunigung sind da die Restbeschleunigungen reduziert",

    sagt Wolfgang Ertmer vom Institut für Quantenoptik der Universität Hannover. Sein Team hat etwas Besonderes den Fallturm hinabstürzen lassen – eine Apparatur, die ein Bose-Einstein-Kondensat erzeugen kann. Eine ultrakalte Gaswolke aus Rubidium, die sich so benimmt, als sei sie ein einziges Riesenatom – der vielleicht merkwürdigste Zustand, den Materie überhaupt einnehmen kann.

    "Wir haben diese Apparatur, die normalerweise ein Physiklabor füllt, komprimiert auf etwa einen Kubikmeter. Wir haben das in eine Kapsel gepackt, etwa 60 Zentimeter Durchmesser, etwas über zwei Meter hoch. Und dafür gesorgt, dass die Apparatur so stabil wird, dass sie den freien Fall aus 150 Metern Höhe überlebt. Man stelle sich vor, man lässt ein Auto aus der Höhe fallen. Dann ist da unten nur noch Schrott. Bei uns muss die Apparatur das überleben. Also eine extrem hohe mechanische Stabilität."

    Eine derartige Stabilität erreicht man dadurch, indem man die einzelnen Komponenten so klein wie möglich auslegt. Denn je kleiner ein Bauteil, umso weniger kann es wackeln und vibrieren. Und so haben die Forscher die ganze komplexe Apparatur, die es für die Erzeugung eines Bose-Einstein-Kondensats braucht, als Miniaturversion nachgebaut: das Lasersystem, das die Gaswolke bis auf Mikrokelvin herunterkühlt, also auf einige Millionstel Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt bei -273 °C. Und der sogenannte Atomchip. Er hält die ultrakalte Wolke in der Schwebe und kühlt sie noch weiter ab, bis sie schlagartig kondensiert.

    "Das Schöne ist hier: Anders als in einer normalen Apparatur im Labor fällt das Bose-Einstein-Kondensat nicht an der Kamera vorbei, sondern die Kamera fällt mit dem Kondensat."

    Denn in die fallende Kapsel ist auch gleich jene Spezialkamera eingebaut, die das Kondensat beobachtet. Der Vorteil: Im Labor muss man das Kondensat, um es zu untersuchen, in einen Magnetkäfig einsperren, weil es sonst schlicht zu Boden fällt. Im Fallturm dagegen lässt es sich unbeeinflusst von den magnetischen Schranken beobachten – quasi in freier Wildbahn. Nun planen Ertmer und seine Leute weitere Versuche. So wollen sie nachschauen, ob das Äquivalenzprinzip überhaupt stimmt. Es besagt, dass schwere Masse und träge Masse identisch sind – der Grundpfeiler von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Und:

    "Ich kann die Wechselbeziehung zwischen allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenmechanik hinterfragen, also die berühmte Quantengravitation. Da gibt es einige Theorien, und die kann man durch Experimente ausschließen oder verfeinern."

    Auch für die Technik könnte das fliegende Kondensat relevant sein, etwa für ultrapräzise Navigationssysteme für Raumschiffe und Satelliten.

    "Beschleunigungssensoren, mit denen ich sehr genau Rotationen messen kann – viel genauer, als ich das hier mit Laser-Gyroskopen machen kann, oder auch Beschleunigungen messen. Das ist mit Sicherheit interessant für die interplanetare Navigation. Aber könnte auch interessant sein hier auf der Erde, dass man solche Navigationssysteme basierend auf atomaren Systemen baut."

    In zwei bis drei Jahren wollen die Forscher den nächsten Schritt gehen – den Schritt vom Fallturm zum Weltraum.

    "Dann wird diese Apparatur in eine Rakete reingepackt, in einen Parabelflug gebracht. Und dann haben wir bis zu 20 Minuten Schwerelosigkeit. Das ist dann der Test, um zu zeigen: Das Ding überlebt jeden Raketenstart. Und dann soll es auch auf die Weltraumstation!"

    Doch bevor es soweit ist wird noch manche Kapsel den Fallturm zu Bremen hinunterrauschen.