Und dies kann der Autor nicht akzeptieren. Denn wer Slavoj Zizek kennt, kennt seine, etwas altmodisch anmutende, Hauptthese: Das kapitalistische System, das Grundübel der heutigen Gesellschaft, die durch Egoismus und Beliebigkeit charakterisiert ist, muß abgeschafft werden. Dafür bedarf es eines radikalen Neuanfangs: Hier spannt der slowenische Philosoph nun den Bogen zum Christentum:
"In allen älteren geistigen Weltanschauungen ist die grundlegende Haltung: wir sind gefangen in einem kosmischen Kreislauf der Gerechtigkeit oder von Schuld und Sühne. Wir tragen die Schuld für unsere vergangenen Handlungen - eine tragische Perspektive: Man macht etwas, kennt die Konsequenzen nicht, danach muß man dafür zahlen. Im Gegensatz dazu gibt es im Christentum die Wiedergeburt. Das bedeutet in meinen Augen: tabula rasa, absoluter Neuanfang. Der Glaube legt uns nicht von vornherein fest: Revolutionen sind möglich. In Revolutionen bricht man die Regeln des Universums und man beginnt beim Nullpunkt. Der marxistische Gedanke der Revolution gehört einer Tradition an, die sich gegen die Tradition wendet und den Neubeginn denkt - und diesen Gedanken hat das Christentum hervorgebracht."
Aber kann dies allein einen atheistischen Marxisten wie Slavoj Zizek davon überzeugen, das christliche Erbe zu verteidigen? Für gewöhnlich ist er als Haken schlagender Ouerdenker und Provokateur dafür bekannt, keinen gesellschaftlichen Bereich zu schonen und keine Werte unangetastet zu lassen - was er in seinem letzten Buch "Liebe deinen Nächsten? Nein danke!" bewiesen hat, in dem er die westliche Haltung der Toleranz und Nächstenliebe als Attitüde selbstverliebter und letztlich intoleranter Menschen darstellte. Warum also sein Plädoyer für das Christentum? Slavoj Zizek begründet es nicht allein mit der Dimension des radikalen Neuanfangs, sondern mit einem zweiten, ethischen Moment, das das christliche Erbe in sich berge: die Vorstellung vom Anderen als Rätsel. Der Andere, so führt der Philosoph aus, trete in der jüdisch-christlichen Tradition nicht als erkennbarer, rationaler Gesprächspartner gegenüber. Vielmehr handele es sich immer um eine traumatische Begegnung mit dem unerkennbaren Anderen. Dies zeige sich beispielhaft bei der Anrufung des Volkes Israels in der Wüste Sinai:
"Ein Haufen Leute rennt durch die Wüste Sinai. Und plötzlich geschieht die Anrufung: "Hey, du, das Volk von Israel!" Das war ein traumatisches Ereignis: "Warum gerade wir, was haben wir getan?" Keine Antwort. Genau das gleiche ist im Christentum der Fall, wie etwa bei der Gnade - warum Gnade gerade uns gegenüber? Dieses Rätsel, das Jacques Lacan das rätselhafte Begehren des Anderen nennt - man bemerkt, der Andere will etwas von einem, man weiß nicht was und warum, ebensowenig weiß das der Andere - dieses rätselhafte Begehren des Anderen bildet die Grundeinstellung der Psychoanalyse und ebenso der jüdisch-christlichen Tradition. Und dieses Rätsel ist die Grundlage jeder wahrhaften Zwischenmenschlichkeit. Habermas parodierend behaupte ich: Intersubjektivität geschieht nicht in einer transparenten und rationalen Kommunikation, sondern Zwischenmenschlichkeit gibt es nur, wenn der Andere ein Rätsel bleibt."
Slavoj Zizeks Punkt ist nicht neu in der philosophischen Debatte der letzten Jahre. Daher fehlen in seinem Text auch nicht die Verweise auf die wichtigsten Denker der Andersheit wie Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. Ebensowenig neu ist die Begründung, warum das Geheimnis des Anderen bewahrt werden mußt Ein völlig transparenter Anderer wäre meiner Beherrschung ausgeliefert, insofern ich ihn total kontrollieren könnte. Im Gegensatz zu den französischen Philosophen der Andersheit scheut sich Slavoj Zizek allerdings nicht, ein eher banales und, wie er es nennt, melodramatisches Beispiel aus dem Alltag zu geben, um zu veranschaulichen, warum eine wahrhaft ethische Beziehung nur dann stattfinden kann, wenn der Andere ein Mysterium bleibt:
"Man liebt jemanden nur, wenn man ihn bzw.sie nicht kennt. Angenommen, Sie sind verliebt und ich bitte Sie darum, aufzulisten, warum Sie den Menschen lieben. Sie sagen nun: Es gibt Für und Wider. Er hat Mundgeruch, mir paßt seine Größe nicht. Andererseits mag ich seinen Körper, seinen Geist, er hat Humor. Die Pros überwiegen, also liebe ich ihn. Aber das ist natürlich keine Liebe! Sobald man so verfahren kann, liebt man nicht. Denn Liebe richtet sich immer auf etwas Mysteriöses, auf etwas, das man nicht kennt. Deswegen ist es nicht nur gut, sondern entscheidend, das jüdisch-christliche Erbe heute aufrechtzuerhalten."
Was allerdings nicht bedeutet, daß der slowenische Philosoph die Gesellschaft christianisieren will:
Ich sage nur, welche Dimensionen das Christentum eröffnet. Ich sage keinesfalls, daß wir Christen werden sollten. Ich bin Atheist. Ich suche nur nach einem Bezugspunkt, von dem aus ich dem globalen Kapitalismus und seiner Ideologie etwas entgegensetzen kann. Und ich denke, wir sollten auf die jüdischchristliche und die marxistisch Tradition setzen. Heute herrsche, so schreibt der Philosoph, ein ungeschriebenes Denkverbot: Sobald man auch nur die kleinsten Anstalten treffe, sich mit politischen Projekten zu befassen, die darauf abzielen, die bestehende Ordnung ernsthaft zu verändern, laute die unmittelbare Reaktion: "Das mag ja gut gemeint sein, läuft aber zwangsläufig auf einen neuen Gulag hinaus!" So könne man auf scheinheilige Weise die bestehende Ordnung gegen die angeblich völlig unrealistischen Utopien, die eine bessere Gesellschaftsordnung entwerfen, verteidigen. Dieses Argument lässt Slavoj Zizek allerdings nicht gelten. Denn Utopien seien häufig reeller als die Wirklichkeit selbst, insofern sie den Kern der Dinge ausdrucken. Und in diesem Sinne plädiert Slavoj Zizek für ein utopisches Denken:
"Ich bin für Utopie und gegen Realität. Das, was in der Utopie formuliert wird, ist oft fundamentaler als die Realität selbst.