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Das Gehirn

Das menschliche Gehirn ist die größte Leistung, die die Natur in vier Milliarden Jahren Evolution hervorgebracht hat. Es verarbeitet unterschiedlichste Wahrnehmungen gleichzeitig, speichert millionenfach Informationen und währenddessen koordiniert es auch noch Bewegungen und Gedanken. Und nun kommt ein amerikanischer Neurowissenschaftler daher und bezeichnet dieses Wunderwerk als ineffizientes Zufallsprodukt.

Von Michael Lange | 25.04.2010
    Zunächst räumt David J. Linden mit Vorurteilen auf, wie sie von allerlei populären Sachbüchern, Fernsehdokumentationen, aber auch von Psychologen und Hirnforschern in die Welt gesetzt wurden. Das Gehirn, so heißt es dort immer wieder, sei eine geniale Konstruktion. "Eben nicht", lautet die Antwort von David J. Linden. Er hält diese Sichtweise für irreführend. Sie widerspricht im Grunde der gängigen Evolutionslehre.

    Der Aufbau unserer Gehirnstrukturen ist keineswegs ideal, sondern eher umständlich. Die Informationsverarbeitung im Gehirn ist für die zahlreichen Aufgaben eigentlich viel zu langsam. Nicht wenige Prozesse finden parallel in verschiedenen Gehirnteilen statt und kommen sich gegenseitig in die Quere. Das Gehirn ist ein überfordertes Organ, das im Laufe der Evolution immer mehr Aufgaben übernehmen musste. Dazu wurde es ständig ausgebaut und umgebaut. Äußere Zwänge und der Baumeister Zufall führten zu einem verschachtelten Durcheinander, das jede Unternehmensberatung verzweifeln ließe. Das ist so, als ob Autos heute immer noch auf der Basis eines Ford Model T von 1925 gebaut würden, erklärt David J. Linden. Nichts wird verworfen, alles wird wieder verwendet.

    Im Plauderton stellt der renommierte Forscher verschiedene Fachbereiche moderner Neurowissenschaft vor. Wie zufällig beantwortet er genau die Fragen, die dem Leser gerade in den Sinn kommen. Die Antworten bestehen manchmal aus komplizierten biochemischen oder zellbiologischen Erläuterungen, manchmal aber auch aus kuriosen Einblicken in die tägliche Arbeit der Hirnforscher. So schreibt Linden von Liebespaaren im Computertomographen, gestressten Mäusen, die sich in Labyrinthen verlaufen, und von Forschern, die sich im Fingerhakeln üben. Alles im Dienste der Wissenschaft.

    Auch Themen wie Sex im Gehirn, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Suchtentstehung oder Religion als Konstrukt des Gehirns spart der Autor nicht aus. Auf Beispiele aus der Medizin verzichtet er weitgehend. Stattdessen führt er elegant Erkenntnisse aus Evolutionsbiologie und Hirnforschung zusammen, um zum Schluss seine Leser doch staunen zu lassen, gerade weil ein derartiges Zufallsprodukt wie unser Gehirn dennoch funktioniert.

    David J. Linden: Das Gehirn. Ein Unfall der Natur und warum es dennoch funktioniert
    ISBN: 978-3-498-03932-5
    Rowohlt Verlag, 316 Seiten, 19,95 Euro