"Aus einiger Entfernung klang das Instrument schrill und klagend, es ließ die Hörer an die Brutalitäten der Liebe denken und an mancherlei Hunger. Die Töne kamen beißend scharf; der Zahn, der zubiß schien von Schmerz ausgehöhlt zu sein."
Doch schon bald muß der Sizilianer in blutigen Zusammenstößen zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen sein Leben lassen; ein Konkurrenzkonflikt der sich auf unterschiedliche Weise bei jeder Immigrationswelle wiederholt. Das Akkordeon gelangt in den Besitz deutscher Siedler, die sich mit den Iren Musikgefechte liefern, und nachdem sich die Deutschen amerikanisiert haben, landet es bei einer Familie mexikanisch-texanischer Virtuosen, die in melodramatischen Ausbrüchen zum Totentanz ihrer Identität aufspielen.
"Sie steckte die Arme durch die Gurte und hob das schwere Instrument hoch. Während sie spielte, blickte sie ihn wütend an. Er dachte, sie würde irgendein angeberisches Potpourri bringen, einen Flickenteppich gängiger Sachen mit viel Quiek- und Pfeiftönen oder eine Paradenummer, aber sie überraschte ihn. Sie blickte zur Decke auf, sagte 'por Chencho, Tom's, por Pap' Abelardo' und sang dann das herzdurchbohrende Se me fue mi Amor, das Carmen y Laura im letzten Kriegsjahr aufgenommen hatten. Ihre Balgführung war außerordentlich, mit dramatischen Crescendi und erstickenden Sforzati-Explosionen. Sie kratzte, rieb und schlug die Tasten, ließ die Rückseite der Fingernägel über die Balgfalten gleiten. [...] 'Das ist die schönste Musik von der Welt', sagte sie und ging hinaus ins Badezimmer, wo ihr Schluchzen von den Kacheln widerhallte."
Über acht Stationen verfolgt Annie Proulx den Weg des Akkordeons bis in die Gegenwart, in der es schließlich, kaputt und unbrauchbar, auf irgeneinem Highway von einem Lastwagen überrollt wird. Aber natürlich liefert das Akkordeon dem Roman nur einen losen, oft zwanglos geknüpften roten Faden, der von den reichlich angelagerten Geschichten zunehmend überwuchert wird. Tatsächlich sind das acht konzentrierte Romane nebeneinander, in denen am Beispiel verschiedener Familien und Volksgruppen die Geschichten von Identitätsverlust und Assimilation, von Pioniergeist und Modernisierung und den mal tragischen mal verrückten Zickzackläufen des Lebens erzählt wird.
Annie Proulx sagt über ihr Buch:
"Ich interessiere mich sehr für diesen amerikanischen Drang, sich immer neu zu erfinden, unsere Faszination für Veränderungen der Erscheinung, der Karriere, für plastische Chirurgie und kosmetische Runderneuerung, für Geschlechtsumwandlung, unsere alle Wurzeln zerstörende Mobilität - wie und warum sind wir so geworden? War es die Erfahrung der Einwanderung, der Zwang, uns in einem Initiationsritus als Amerikaner neu zu definieren? Das grüne Akkordeon war der Versuch einer Antwort."
Annie Proulx hat viel und genau recherchiert für diesen Roman, nicht nur in musikalischen Dingen, auch über vergessene Handwerkstechniken, Lebensformen und den Niederschlag historischer Ereignisse im Leben einfacher Leute. Was an kultur- und sozialgeschichtlichem Material in diesem Buch steckt, ist beträchtlich. Erneut baut sie mit eminenter Beschreibungslust eine detailreiche Gegenwelt auf, deren mitlaufende Botschaft sich auch als verschmitzter Protest gegen kulturelle Einebnung und die Entmaterialisierung des Medienzeitalters lesen läßt.
Was jedoch literarisch viel mehr besticht, das ist die atmosphärische Prägnanz und Farbigkeit mit der Annie Proulx ihr Material mitsamt dem riesigen Figurenreigen in abwechslungsreiche, fast immer spannende, höchst lebendige Geschichten verwandelt. Selbst wenn die Leseneugier angesichts der Überfülle von Charakteren für Momente zu erlahmen droht, wird sie binnen kurzem aufs neue geweckt von der lakonischen, unsenti-mentalen Gewitztheit, mit der da wieder ein anderer Lebenslauf pointiert und anschaulich ins Bild gerückt wird. Gewiß: Es werden hier zuweilen auch ganz schlichte nostalgische Empfindungen geweckt; doch serviert werden sie nicht, da Stil und Tonlagen davon völlig frei bleiben. Als ein Exempel für den modernen Roman unserer Tage kann dieses Buch zwar nicht gelten - trotz der Anlehnung an die Form des episodischen Fragments eines John DosPassos; doch in der Art wie es auf Vergangenes zurückblickt, ist es dennoch sehr zeitgemäß. Vor allem aber bietet es wunderbare Glanzlichter der schönen alten Kunst des Erzählens.
Das Buch hat den Horizont von Schiffmeldungen, den Blick auf ein Leben, die Tiefenschärfe, nur daß hier sieben solcher Romane nebeneinanderherlaufen. Allerdings nicht in der modernistischen Form der Fragmentierung sondern durchaus als Erzählung in der ein Leben und Charaktere sich abzeichnen so wie das exemplarische Erzählen der Legende aus jedem Fall eine kleine Welt ein Beispiel des Lebens macht. Dieses Akkordeon ist kein Held, sondern ein Spiegel der Wahrheit. Wer es in die Hand bekommt über den erfahren wir alles.
Kein Füllhorn des Lebens wird da ausgeschüttet, wie es manche tun, ein Rausch des Vitalismus, sondern die ungeheure Präzision verleiht jeder Geschichte ihr eigenen Charakter und Stimmung und macht sie unverwechslebar. Das ist das eigentliche Wunder dieses Buches. Die Erzählerin als Stimme des Kollektivs.