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Das grüne Akkordeon

Sie läßt sich inspirieren von den weiten Ausblicken Wyomings, wo sie eigenhändig ein Haus gebaut hat. Ihr Faible gilt dem Leben wie es so spielt, und mögen diese Spiele noch so ruppig, die Schauplätze desolat und der höhere Sinn der Daseinsplackerei gänzlich zweifelhaft sein. Hauptsache, es handelt sich nicht um das Leben in Bürotürmen und Appartmenthäusern, in Yuppie-Reservaten und Mittelstands-Zonen. Nicht daß Edna Annie Proulx darauf aus wäre, sich als passionierte Gegnerin der metropolitanen Alltags- und Konsumwelten zu profilieren. Doch wer die Nase in ihre Bücher steckt, spürt sofort einen anderen Wind, der nicht aus Straßenschluchten oder U-Bahn-Schächten weht. "Schiffsmeldungen" hieß bezeichnenderweise ihr zweiter Roman und erste große Erfolg, mit dem sie in den Staaten und auch hier Bestsellerruhm erntete. Das war nicht nur die Geschichte eines unseligen Großstadt-Versagers, der erst in der neufundländischen Heimat seiner Vorfahren zu sich und seinen verborgenen Talenten findet. Zugleich war das ein Buch wie ein Haus am Meer: mit weiten Horizonten, sturen oder skurrilen, doch stets gradlinigen Nachbarn, genauen Einblicken ins Provinzleben; und was dort an Problemen auftrat, das blieb immerhin halbwegs durchschaubar. Ein rechtes Buch für Stadt- und Zivilisationsflchtlinge also, von denen es ja - zumindest potentiell - viele gibt. Immer mehr Autoren scheinen übrigens seit einiger Zeit solche literarischen Ausflüge in rauhe, ursprüngliche Gefilde anzubieten: Peter Hoegs >>Fräulein Smilla<< zählt dazu genauso wie David Gutersons>>Schnee der auf Zedern fällt<< oder Peter Landesmans>>Meereswunden<<. Ein neuer Outdoor-Trend in der Literatur läßt sich da ohne weiteres konstatieren.

Eberhard Falcke |
    Darüber aber geht die 62-jährige Annie Proulx mit ihrem neuen Roman "Das grüne Akkordeon" schon wieder hinaus. Überhaupt macht ihr das, was ihr hier gelungen ist, vermutlich so schnell keiner nach. Das ist nicht mehr allein ein Ausflug in die Gegenwelt der überschaubaren Provinz sondern ein Streifzug durch viele Bezirke und Landschaften. In diesem Fall sind das die Lebenssphären jener verschiedenen Einwanderergruppen, die als Iren, Polen oder Deutsche über den Atlantik kamen, um sich mehr oder weniger zu Amerikanern umschmelzen zu lassen. Leitmotiv des Romans ist ein grünes Knopfakkordeon, das über hundert Jahre hinweg durch die Hände etlicher Generationen wandert und auf dem von sizilianischen Volksliedern über deutsches Liedgut, französische Musette-Walzer, Cajun- und Zaydeco-Songs, polnische Polkas und irische Weisen all das gespielt wird, womit sich die meist armen Immigranten über den Verlust ihrer Heimat trösteten. Ins Land gebracht wurde das Instrument um 1890 von einem sizilianischen Akkordeonbauer, der es auf einen Klang gestimmt hatte, in dem sich Melancholie und Lebenslust eines wechselhaften Schicksals wunderbar vermischten.

    "Aus einiger Entfernung klang das Instrument schrill und klagend, es ließ die Hörer an die Brutalitäten der Liebe denken und an mancherlei Hunger. Die Töne kamen beißend scharf; der Zahn, der zubiß schien von Schmerz ausgehöhlt zu sein."

    Doch schon bald muß der Sizilianer in blutigen Zusammenstößen zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen sein Leben lassen; ein Konkurrenzkonflikt der sich auf unterschiedliche Weise bei jeder Immigrationswelle wiederholt. Das Akkordeon gelangt in den Besitz deutscher Siedler, die sich mit den Iren Musikgefechte liefern, und nachdem sich die Deutschen amerikanisiert haben, landet es bei einer Familie mexikanisch-texanischer Virtuosen, die in melodramatischen Ausbrüchen zum Totentanz ihrer Identität aufspielen.

    "Sie steckte die Arme durch die Gurte und hob das schwere Instrument hoch. Während sie spielte, blickte sie ihn wütend an. Er dachte, sie würde irgendein angeberisches Potpourri bringen, einen Flickenteppich gängiger Sachen mit viel Quiek- und Pfeiftönen oder eine Paradenummer, aber sie überraschte ihn. Sie blickte zur Decke auf, sagte 'por Chencho, Tom's, por Pap' Abelardo' und sang dann das herzdurchbohrende Se me fue mi Amor, das Carmen y Laura im letzten Kriegsjahr aufgenommen hatten. Ihre Balgführung war außerordentlich, mit dramatischen Crescendi und erstickenden Sforzati-Explosionen. Sie kratzte, rieb und schlug die Tasten, ließ die Rückseite der Fingernägel über die Balgfalten gleiten. [...] 'Das ist die schönste Musik von der Welt', sagte sie und ging hinaus ins Badezimmer, wo ihr Schluchzen von den Kacheln widerhallte."

    Über acht Stationen verfolgt Annie Proulx den Weg des Akkordeons bis in die Gegenwart, in der es schließlich, kaputt und unbrauchbar, auf irgeneinem Highway von einem Lastwagen überrollt wird. Aber natürlich liefert das Akkordeon dem Roman nur einen losen, oft zwanglos geknüpften roten Faden, der von den reichlich angelagerten Geschichten zunehmend überwuchert wird. Tatsächlich sind das acht konzentrierte Romane nebeneinander, in denen am Beispiel verschiedener Familien und Volksgruppen die Geschichten von Identitätsverlust und Assimilation, von Pioniergeist und Modernisierung und den mal tragischen mal verrückten Zickzackläufen des Lebens erzählt wird.

    Annie Proulx sagt über ihr Buch:

    "Ich interessiere mich sehr für diesen amerikanischen Drang, sich immer neu zu erfinden, unsere Faszination für Veränderungen der Erscheinung, der Karriere, für plastische Chirurgie und kosmetische Runderneuerung, für Geschlechtsumwandlung, unsere alle Wurzeln zerstörende Mobilität - wie und warum sind wir so geworden? War es die Erfahrung der Einwanderung, der Zwang, uns in einem Initiationsritus als Amerikaner neu zu definieren? Das grüne Akkordeon war der Versuch einer Antwort."

    Annie Proulx hat viel und genau recherchiert für diesen Roman, nicht nur in musikalischen Dingen, auch über vergessene Handwerkstechniken, Lebensformen und den Niederschlag historischer Ereignisse im Leben einfacher Leute. Was an kultur- und sozialgeschichtlichem Material in diesem Buch steckt, ist beträchtlich. Erneut baut sie mit eminenter Beschreibungslust eine detailreiche Gegenwelt auf, deren mitlaufende Botschaft sich auch als verschmitzter Protest gegen kulturelle Einebnung und die Entmaterialisierung des Medienzeitalters lesen läßt.

    Was jedoch literarisch viel mehr besticht, das ist die atmosphärische Prägnanz und Farbigkeit mit der Annie Proulx ihr Material mitsamt dem riesigen Figurenreigen in abwechslungsreiche, fast immer spannende, höchst lebendige Geschichten verwandelt. Selbst wenn die Leseneugier angesichts der Überfülle von Charakteren für Momente zu erlahmen droht, wird sie binnen kurzem aufs neue geweckt von der lakonischen, unsenti-mentalen Gewitztheit, mit der da wieder ein anderer Lebenslauf pointiert und anschaulich ins Bild gerückt wird. Gewiß: Es werden hier zuweilen auch ganz schlichte nostalgische Empfindungen geweckt; doch serviert werden sie nicht, da Stil und Tonlagen davon völlig frei bleiben. Als ein Exempel für den modernen Roman unserer Tage kann dieses Buch zwar nicht gelten - trotz der Anlehnung an die Form des episodischen Fragments eines John DosPassos; doch in der Art wie es auf Vergangenes zurückblickt, ist es dennoch sehr zeitgemäß. Vor allem aber bietet es wunderbare Glanzlichter der schönen alten Kunst des Erzählens.

    Das Buch hat den Horizont von Schiffmeldungen, den Blick auf ein Leben, die Tiefenschärfe, nur daß hier sieben solcher Romane nebeneinanderherlaufen. Allerdings nicht in der modernistischen Form der Fragmentierung sondern durchaus als Erzählung in der ein Leben und Charaktere sich abzeichnen so wie das exemplarische Erzählen der Legende aus jedem Fall eine kleine Welt ein Beispiel des Lebens macht. Dieses Akkordeon ist kein Held, sondern ein Spiegel der Wahrheit. Wer es in die Hand bekommt über den erfahren wir alles.

    Kein Füllhorn des Lebens wird da ausgeschüttet, wie es manche tun, ein Rausch des Vitalismus, sondern die ungeheure Präzision verleiht jeder Geschichte ihr eigenen Charakter und Stimmung und macht sie unverwechslebar. Das ist das eigentliche Wunder dieses Buches. Die Erzählerin als Stimme des Kollektivs.