Siegfried Kracauer ist ein symptomatischer Intellektueller für das 20. Jahrhundert. Und dazu gehört auch die Sehnsucht nach dem Roman.
Sie ist in der Rezeption Kracauers eher an den Rand gedrängt worden. Der Journalist und der Schriftsteller in ihm kämpften von Anfang an gegeneinander. Im Vordergrund schien zwar immer das soziologische und ästhetische Interesse des Autors zu stehen, aber manchmal verselbständigte sich die sensible Beschreibung des Details und wurde zur eigentlichen Analyse. Da drängte sich die Sehnsucht wieder vor, die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren.
Wenn der Suhrkamp Verlag nun eine groß angelegte Werkausgabe Kracauers vorlegt, erlaubt das eine Gesamtsicht auf die verschiedenen Schreibansätze und Genres. Beginnen wir mit Band 8: Das aufs Populäre zielende Buch über den Operettenkönig Jacques Offenbach schrieb Kracauer in bitterster Finanznot vor allem aus Geldgründen, im Exil in den späten 30er Jahren in Paris. In seinem Vorwort versucht er den intellektuellen Zugriff mit der gewählten Tonlage zusammenzubringen:
"Dieses Buch gehört nicht in die Reihen jener Biographien, die sich in der Hauptsache darauf beschränken, das Leben ihres Helden zu schildern. Solche Biographien gleichen photographischen Porträts: die in ihnen porträtierte Gestalt erscheint vor einem verschwimmenden Hintergrund. Von derartigen Werken unterscheidet sich das vorliegende grundsätzlich. Es ist keine Privatbiographie Jacques Offenbachs. Es ist eine Gesellschaftsbiographie.
Eine Gesellschaftsbiographie in dem Sinne, dass es mit der Figur Offenbachs die der Gesellschaft erstehen lässt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offenbach legt. Das heißt unter anderem, dass hier die rein musikalisch interessierten Leser zu kurz kommen werden. Sie seien gewarnt: wenn auch dieses Buch von der Operettenmusik Offenbachs nicht absieht, enthält es sich doch, seinem Vorhaben getreu, der innermusikalischen Analysen und Interpretationen. Sein eigentliches Thema ist viel eher die gesellschaftliche Funktion Offenbachs."
Die Gratwanderung zwischen populärem Thema und soziologischer Analyse war eine Spezialität Kracauers, in seinen Zeitungsartikeln in der Weimarer Republik hatte er sie virtuos bewältigt und zu wunderbaren Preziosen geführt - in der Offenbach-Biografie, die süffig geschrieben ist und das Pariser Leben des 19. Jahrhunderts kongenial abbildet, stieß er jedoch gerade bei potenziellen Bündnisgenossen auf Argwohn, bei Antifaschisten im im Gegensatz zu ihm gesicherten Exil. Theodor W. Adorno etwa war das Ganze einfach zu populär, er ärgerte sich über eine seiner Ansicht nach mangelnde musikalische Kompetenz Kracauers und erwog, die Beziehung zu dem Autor grundsätzlich abzubrechen. Kracauer, der im Paris kurz vor der deutschen Besetzung alles daran setzte, die Ausreise in die USA zu erlangen, bekam das zu seinem Glück nicht mit. Seine Eigenart drückte sich in einem Gedanken aus, der Adorno immer fremd geblieben ist, aber heute womöglich noch genauso aktuell ist wie zu Kracauers Zeit:
"Aus der Spottvogelperspektive der Offenbach-Operetten betrachtet, verkehrt sich das gewohnte Bild der Welt. Vieles, was unten zu sein scheint, befindet sich oben; vieles, was gemeinhin für groß erachtet wird, entpuppt sich als klein. Es entspräche nur der Absicht dieses Buches, wenn sein Geist dem der echten Operette nicht ganz unverwandt wäre."
Der Band in der neuen Ausgabe der "Werke" Kracauers enthält sämtliche Abbildungen des Erstdrucks, die in der bisher greifbaren Ausgabe von Kracauers "Schriften", die in den 70er Jahren erschien, nicht abgedruckt werden konnten; außerdem sind kleinere Texte Kracauers aus dem Umfeld der Offenbach-Arbeit mit aufgenommen. In der "Theorie des Films", die jetzt gleichzeitig mit der Offenbach-Biografie in der Werkausgabe erschienen ist, kann die Herausgeberin Inka Mülder-Bach dann mit einem interessanten Fund aufwarten: ihre Mitarbeiterin Sabine Biebl hat den frühen "Marseiller Entwurf" zu einer Theorie des Films von Kracauer entziffert und zu einer Druckvorlage ausgearbeitet. Die "Theorie des Films" war für Kracauer selbst zweifellos sein Opus magnum, er hat sie erst 1960 in New York veröffentlicht, aber im Grunde Zeit seines Lebens daran geschrieben: von den frühen Stummfilm-Eindrücken der Frankfurter Zeit angefangen bis zu den furiosen Filmkritiken aus der Weimarer Republik und der im amerikanischen Original 1947 erschienenen Studie "Von Caligari zu Hitler".
Der Film als moderne, ein Massenpublikum ergreifende, von den bisher absolut gesetzten Kunstgattungen deutlich unterschiedene Ausdrucksform hat Kracauer von Anfang an beschäftigt, und seine Ästhetik erwies sich dann in den 60err Jahren, als sie endlich greifbar wurde, als äußerst streitbar und vielleicht auch zum Teil schon überholt - dies wäre aber eine eigene Untersuchung wert, die Herausgeberin tippt das in ihrem Nachwort an einigen Punkten an, ohne es detaillierter auszuführen.
Kracauers Ausgangspunkt ist, dass es sich um eine "materiale Ästhetik"
handelt. Dies war in den 20er Jahren auf der Höhe der Zeit, in den 50er Jahren revolutionär - und was dies heute bedeutet, wäre eine Debatte wert. Kracauer sagt über sein Buch:
"Es beruht auf der Annahme, dass der Film im wesentlichen eine Erweiterung der Fotografie ist und daher mit diesem Medium eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt um uns her gemeinsam hat. Filme sind sich selber treu, wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen. Nun schließt diese Realität viele Phänomene ein, die wir kaum wahrnehmen würden, wenn die Filmkamera nicht die Fähigkeit besäße, sie sozusagen im Flug zu erfassen. Und da jedes Medium den Dingen besonders zugetan ist, die es allein darstellen kann, scheint das Kino vom Wunsch beseelt, vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten. Leben in seiner vergänglichsten Form. Straßenmengen, unbeabsichtigte Gebärden und andere flüchtige Eindrücke sind seine Hauptnahrung. Bezeichnenderweise fanden die Zeitgenossen Lumières dessen Filme - die ersten, die je gemacht wurden - deshalb so bewundernswert, weil sie "das Zittern der vom Wind erregten Blätter' zeigten. "
Die Konsequenz aus diesem Ansatz ist für Kracauer unter anderem, dass Film und Tragödie miteinander unvereinbar seien. Die Welt des Films ist, so sagt er,
"ein Fluss zufälliger Ereignisse, der sowohl Menschen wie leblose Objekte
mit sich führt. Durch Bilder solcher Ereignisse kann Tragisches nicht
beschworen werden; es ist eine ausschließlich geistige Erfahrung, die keine
Entsprechungen in der Kamera-Realität hat..."
Man könnte einwenden, dass der Film, als Medium der Oberfläche,
mittlerweile vielleicht Dimensionen des Tragischen erfasst, die abseits der
Definition Kracauers existieren - eine spannende Frage, die sich aber
letztlich auch nur den Fragestellungen Kracauers verdankt.
Was der Band 3 der "Werke" nun an Hintergrundinformationen bietet, vor allem den "Marseiller Entwurf" aus den Jahren 1940/41, in Marseiller Cafés in der bangen Erwartung der Überfahrtmöglichkeit in die USA notiert, ist für die
Genese von Kracauers Theorie und die zeitgeschichtlichen Grundlagen sehr
erhellend. In dieser Zeit arbeitete Kracauer auch an einer Studie über
"totalitäre Propaganda", die nie veröffentlicht werden konnte, und die
ersten Ansätze zu einer Theorie des Films stehen ganz in diesem Zeichen, im Zeichen der Erfahrung nationalsozialistischer Breitenwirkung:
"Der Film verwickelt die ganze materielle Welt mit ins Spiel, er versetzt
zum ersten Mal - über Theater und Malerei hinausgreifend - das Seiende in
Umtrieb. Er zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach
unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen. Der Abhub interessiert ihn, das, was da ist - am Menschen selber und außerhalb des Menschen. Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: 'Danse macabre'. Zu welchem Ende? Das wird man sehen."
In der 20 Jahre später fertig gestellten "Theorie des Films" sind diese
anfänglichen Ansätze verdeckt, sie sind überführt in die Erfahrung des
amerikanischen Exils und des Siegs über den NS-Staat - ohne aber die
"materiale Ästhetik" als solche in Frage zu stellen.
Kracauer ist ein essayistischer Grenzgänger des 20. Jahrhunderts,
der wie kaum ein anderer zwischen Primär- und Sekundärliteratur changiert
und deshalb einen Prototyp des zeitgenössischen Literaten verkörpert. Er
saugt das Wissen seiner Epoche ein, um das Ungenügen daran in suchenden Schreibbewegungen auszuloten. Vielleicht ist deshalb der bereits im Frühjahr des letzten Jahres erschienene Band 7 der Werkausgabe als das
geheime Kraftzentrum zu verstehen, der Band mit den erzählerischen
Versuchen.
Im Mittelpunkt stehen die beiden Romane "Ginster" und "Georg". Ergänzt
werden sie durch einige Erzählungen, die zum einen im Umfeld dazu
entstanden sind, zum anderen aber die ersten Schreibversuche Kracauers
überhaupt dokumentieren. "Das Fest im Frühling", das er 1907 als
18-Jähriger geschrieben hat, dreht sich um einen "Weltschmerzler und
Nachtschwärmer" und verrät eine große Nähe zu den damaligen Modeströmungen der Lebensphilosophie. Über die Entstehungsgeschichte des Romans "Ginster", der 1928 erschien, ist nicht all zu viel bekannt - dazwischen lagen der Erste Weltkrieg, das Studium der Architektur sowie der Eintritt in die Redaktion der "Frankfurter Zeitung" 1921.
"Ginster" ist autobiografisch, aber in der äußeren Form merkt man davon
nichts. Der Titel des Romans ist gleichzeitig der Name des Helden. Es gibt
keine Psychologie, nichts wird erklärt. Alles erscheint in Distanz gerückt.
Dabei entsprechen die Stationen des Romans durchaus dem Lebensweg
Kracauers: die Heimatstadt Frankfurt, das Studium in München, die
Kriegserfahrung als Fußartillerist der Reserve in Mainz, die Tätigkeiten
als Hilfsarchitekt in einem Frankfurter Büro und beim Stadtbauamt in
Osnabrück. Im Anhang des Bandes sind einige architektonische Skizzen
Kracauers wiedergegeben, und sie entsprechen verblüffend genau den im Text geschilderten Objekten.
Ein Ich, mit dem man sich identifizieren könnte, taucht in diesem Roman
jedoch an keiner Stelle auf, im Gegenteil: die Grenzen des Ich verschwimmen ständig. Lebendiges und Lebloses wechseln die Aggregatzustände. Die Gegenstände bewegen sich und werden sinnlich wahrgenommen, die Menschen wirken dagegen starr und maskenhaft, wie Marionetten - oder aber wie Gestalten aus den frühen Stummfilmen. Das Exerzieren im Kasernenhof ist eine groteske Filmsequenz, mit Schattenrissen und ein bisschen zu schnellen, ruckartigen Bewegungen. Joseph Roth schrieb in seiner fulminanten Kritik: "Ginster im Krieg: das ist Chaplin im Warenhaus". Es ist tatsächlich ein unerbittlicher Kamerablick, mit dem diese Prosa ihre Sujets abtastet. In ihren stärksten Passagen sieht man die Verfilmung gleich mit:
"In dem Zimmer herrschte ein Elterngeruch, der von den zwei kleinen Leuten ausstrahlte, die ihren Sohn mit den Blicken verschlangen. Sie
verzehnfachten sich, zehn Elternpaare, die ihn umringten, damit die Welt
sich seiner nicht bemächtigen konnte. Über dem Bauch des Vaters, der den
Rock abgelegt hatte, spannte die Hose, und der Mutterkopf ragte aus einem
Hauskleid mit Wellenlinien hervor. Durch die Enge des Zimmers wurde das
elterliche Fleisch in die nächste Nähe gerückt, es lag unter einer Lupe,
seine Poren öffneten sich, und auch die Gefühle bestanden aus Fleisch."
Ginster sagt einmal von sich: "Am liebsten zerrieselte ich." Er ist eine
Ausgeburt der Moderne, geht in der sich ständig verändernden Großstadt, in
den neuen technischen Möglichkeiten wie in einer Montage auf. Er entspricht
Kracauers Filmkritiken, in denen er die geistesabwesende "Zerstreutheit"
Buster Keatons genauso feierte wie die "ich-lose Erscheinung" Chaplins.
Kracauer seziert in seiner Prosa die Oberfläche, er blickt nicht ins Innere
seiner Figuren. Das Innere drückt sich vollständig in der Beobachtung des
Äußeren aus und geht darin auf. Der Roman entspricht der avancierten
Erzähltheorie seiner Zeit, die Kracauer parallel dazu an den besten
Beispielen darstellte - seine Besprechungen der damals gerade erscheinenden Kafka-Texte weisen ihn auch als herausragenden Literaturkritiker aus. Was kam vorher - die Theorie, durch die Analyse zeitgenössischer Kunstwerke, oder der Roman selbst, der so geschrieben werden musste, weil er unbedingt in seiner Zeit fußte?
Manchmal verheddert sich der Film, und das sieht dann so aus - die Rede ist
von Mutter und Tante:
"Ihrem Bestreben, sich nichts wissen zu machen, stand die jetzt erfolgte
Zurückweisung des Esspakets im Weg, die das Verhalten Ginsters allzu
deutlich enthüllte."
Die Vertracktheit dieses Satzbaus ist der Ästhetik des Romans geschuldet,
dem Slapstick, der Augenblicks-Groteske. Hier ist die Crux des Autors
Kracauer ausgedrückt: seine Konsequenz, aber auch seine
Theoriegebundenheit. Man kann darin ein sehr aktuelles Problem sehen.
Kracauer nannte nicht seinen Namen als Autor, sondern fügte einen
Untertitel hinzu: "Ginster. Von ihm selbst geschrieben". So beginnt das
Spiel mit dem Ich und den Identitäten. 1928 erhielt der Roman blendende
Kritiken, und Kracauer machte sich sofort an den nächsten - wenn die
Zeitumstände anders gewesen wären, hätte er in den 30er Jahren als
Schriftsteller existieren wollen. Während "Ginster" 1963 immerhin in der
Bibliothek Suhrkamp wieder aufgelegt wurde, sah Kracauer seinen zweiten,
noch umfangreicheren Roman nie gedruckt. Er erschien unter dem Titel
"Georg" erst posthum 1973, herausgegeben von Karsten Witte als Band 7 der damals edierten "Schriften" Kracauers, und deswegen wurde er nur am Rande rezipiert. Wäre er damals, Anfang der 30er Jahre, veröffentlicht
worden, gälte er heute sicher als vielzitiertes Schlüsselwerk zur
Geisteslage der Weimarer Republik.
Georg rutscht eher zufällig in eine kleine Zeitungskarriere hinein. Er wird
hin und her geschleudert von den Diskussionen und Ideologien um ihn herum.
Ursprünglich sollte der Roman "Gesellschaft" heißen, und in den diversen
Salons und Soiréen, durch die Georg taumelt, entsteht ein ungeschöntes Bild
der 20er Jahre: Da agieren die Karrieristen, die akademischen
Diskursjongleure, und die Kulturflittchen schlafen sich über mehrere
Stationen an einflussreiche Medienfiguren heran. Einmal erlebt Georg eine
Soirée bei dem Bankdirektor Heydenreich und seiner Frau:
"'Unsere herrliche Sozialpolitik', sagte Herr Heydenreich, 'richtet die
Wirtschaft zusehends zugrunde.'"
Frau Heydenreich seufzte: 'Wenn jeder soviel täte wie wir...'
Ich bin im Theater - wieder, und stärker als vorhin, wurde Georg von diesem
Eindruck beherrscht; nur dass er sich jetzt in einem völlig gelähmten
Zustand befand, der ihn daran hinderte, mitzuspielen oder gar einzugreifen.
Dr. Wolff bearbeitete Charlie wie eine Klientin, die noch nicht weiß, ob
sie soll: 'Also abgemacht, Sie besuchen mich morgen im meinem Büro.' -
'Ausgeschlossen, erkläre ich Ihnen', erwiderte Charlie. 'Um welche Zeit
dachten Sie überhaupt?' Der Diener beugte sich über Frau Heydenreich. Frau Gilbert zuckte blitzartig mit dem Kopf. Man durfte nicht ihre
Aufmerksamkeit erregen, sie alle, wie sie da saßen, waren erfundene
Figuren, die flüchtig auf der Bildfläche erschienen und sich bei der
leisesten Störung davongemacht hätten."
Es sind alles Romanfiguren, das stellt Kracauer unmissverständlich dar, er
spielt ständig mit dem Verfremdungseffekt und stellt die Szene dennoch
hautnah realistisch dar. In der Zeitung dominieren die Wichtigtuer und
Bescheidwisser, die organisch in die entscheidenden Positionen gelangen.
Georg ist sich seiner nie sicher, und er hat kein Talent zum Opportunismus.
Deswegen wird er trotz einiger Erfolge zum Schluss zwangsläufig
ausgestoßen. Aber er hat, im Gegensatz zu "Ginster", eine Entwicklung
durchgemacht.
Kracauers ästhetische Prinzipien verdichten sich manchmal zu kleinen
selbstständigen Einheiten: die Szene auf der Treppe zum Beispiel, auf der der Korrektor Kummer steht, ist wieder in "Ginster"-Manier eingefangen, und ein dionysisch anmutender Faschingsball glitzert in allen Facetten. Georg
bleibt ähnlich wie Ginster eine Figur, die das Geschehen als eine
Kamerafahrt erlebt. Dies drängt sich jedoch nicht mehr formal in den
Vordergrund. Geheimnisvoll sind Kracauers Kenntnisse des psychischen
Apparats in den Text verwoben, seine Faszination für das Androgyne - den
Sog aber übt die pralle Gegenwart selbst aus. Dabei setzt sich das
Schreiben über die Vorgaben hinweg, und die Hauptfigur wird unversehens zur moralischen Instanz. "Georg" war ein Versprechen für den Schriftsteller
Kracauer, das durch die Umstände des Exils nicht mehr eingelöst werden
konnte.
Vieles kommt einem heute aktuell vor. Die Typologie der Medienfiguren ist
der heutigen ziemlich ähnlich, und viele der neueren Entwicklungen
relativieren sich, wenn man sie mit dem klaren Blick Kracauers von damals
sieht.: das Medium, das sich von den Inhalten loslöst und selbst zum Inhalt
wird. Das Absolutsetzen der gerade modischen Denkstile. Die Erkenntnis,
dass es immer weniger Wissen gibt, je mehr Informationen auf einen
einprasseln. Unter der Hand wird in Kracauers Medien- und Bewusstseinsroman das Individuum zur einzigen Bezugsgröße, trotz aller theoretischen Prämissen. Das resultiert offenkundig daraus, dass er sich auf die Literatur eingelassen hat. Es gibt bei Kracauer keine Fiktion. Seine Romane bestehen aus einzelnen Reportagen und Feuilletons, die sich immer mehr verdichten, bis sie langsam zu schweben beginnen und etwas Großes und Ganzes werden. Vielleicht ist die Zeit von "Georg" jetzt gekommen.
Sie ist in der Rezeption Kracauers eher an den Rand gedrängt worden. Der Journalist und der Schriftsteller in ihm kämpften von Anfang an gegeneinander. Im Vordergrund schien zwar immer das soziologische und ästhetische Interesse des Autors zu stehen, aber manchmal verselbständigte sich die sensible Beschreibung des Details und wurde zur eigentlichen Analyse. Da drängte sich die Sehnsucht wieder vor, die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren.
Wenn der Suhrkamp Verlag nun eine groß angelegte Werkausgabe Kracauers vorlegt, erlaubt das eine Gesamtsicht auf die verschiedenen Schreibansätze und Genres. Beginnen wir mit Band 8: Das aufs Populäre zielende Buch über den Operettenkönig Jacques Offenbach schrieb Kracauer in bitterster Finanznot vor allem aus Geldgründen, im Exil in den späten 30er Jahren in Paris. In seinem Vorwort versucht er den intellektuellen Zugriff mit der gewählten Tonlage zusammenzubringen:
"Dieses Buch gehört nicht in die Reihen jener Biographien, die sich in der Hauptsache darauf beschränken, das Leben ihres Helden zu schildern. Solche Biographien gleichen photographischen Porträts: die in ihnen porträtierte Gestalt erscheint vor einem verschwimmenden Hintergrund. Von derartigen Werken unterscheidet sich das vorliegende grundsätzlich. Es ist keine Privatbiographie Jacques Offenbachs. Es ist eine Gesellschaftsbiographie.
Eine Gesellschaftsbiographie in dem Sinne, dass es mit der Figur Offenbachs die der Gesellschaft erstehen lässt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offenbach legt. Das heißt unter anderem, dass hier die rein musikalisch interessierten Leser zu kurz kommen werden. Sie seien gewarnt: wenn auch dieses Buch von der Operettenmusik Offenbachs nicht absieht, enthält es sich doch, seinem Vorhaben getreu, der innermusikalischen Analysen und Interpretationen. Sein eigentliches Thema ist viel eher die gesellschaftliche Funktion Offenbachs."
Die Gratwanderung zwischen populärem Thema und soziologischer Analyse war eine Spezialität Kracauers, in seinen Zeitungsartikeln in der Weimarer Republik hatte er sie virtuos bewältigt und zu wunderbaren Preziosen geführt - in der Offenbach-Biografie, die süffig geschrieben ist und das Pariser Leben des 19. Jahrhunderts kongenial abbildet, stieß er jedoch gerade bei potenziellen Bündnisgenossen auf Argwohn, bei Antifaschisten im im Gegensatz zu ihm gesicherten Exil. Theodor W. Adorno etwa war das Ganze einfach zu populär, er ärgerte sich über eine seiner Ansicht nach mangelnde musikalische Kompetenz Kracauers und erwog, die Beziehung zu dem Autor grundsätzlich abzubrechen. Kracauer, der im Paris kurz vor der deutschen Besetzung alles daran setzte, die Ausreise in die USA zu erlangen, bekam das zu seinem Glück nicht mit. Seine Eigenart drückte sich in einem Gedanken aus, der Adorno immer fremd geblieben ist, aber heute womöglich noch genauso aktuell ist wie zu Kracauers Zeit:
"Aus der Spottvogelperspektive der Offenbach-Operetten betrachtet, verkehrt sich das gewohnte Bild der Welt. Vieles, was unten zu sein scheint, befindet sich oben; vieles, was gemeinhin für groß erachtet wird, entpuppt sich als klein. Es entspräche nur der Absicht dieses Buches, wenn sein Geist dem der echten Operette nicht ganz unverwandt wäre."
Der Band in der neuen Ausgabe der "Werke" Kracauers enthält sämtliche Abbildungen des Erstdrucks, die in der bisher greifbaren Ausgabe von Kracauers "Schriften", die in den 70er Jahren erschien, nicht abgedruckt werden konnten; außerdem sind kleinere Texte Kracauers aus dem Umfeld der Offenbach-Arbeit mit aufgenommen. In der "Theorie des Films", die jetzt gleichzeitig mit der Offenbach-Biografie in der Werkausgabe erschienen ist, kann die Herausgeberin Inka Mülder-Bach dann mit einem interessanten Fund aufwarten: ihre Mitarbeiterin Sabine Biebl hat den frühen "Marseiller Entwurf" zu einer Theorie des Films von Kracauer entziffert und zu einer Druckvorlage ausgearbeitet. Die "Theorie des Films" war für Kracauer selbst zweifellos sein Opus magnum, er hat sie erst 1960 in New York veröffentlicht, aber im Grunde Zeit seines Lebens daran geschrieben: von den frühen Stummfilm-Eindrücken der Frankfurter Zeit angefangen bis zu den furiosen Filmkritiken aus der Weimarer Republik und der im amerikanischen Original 1947 erschienenen Studie "Von Caligari zu Hitler".
Der Film als moderne, ein Massenpublikum ergreifende, von den bisher absolut gesetzten Kunstgattungen deutlich unterschiedene Ausdrucksform hat Kracauer von Anfang an beschäftigt, und seine Ästhetik erwies sich dann in den 60err Jahren, als sie endlich greifbar wurde, als äußerst streitbar und vielleicht auch zum Teil schon überholt - dies wäre aber eine eigene Untersuchung wert, die Herausgeberin tippt das in ihrem Nachwort an einigen Punkten an, ohne es detaillierter auszuführen.
Kracauers Ausgangspunkt ist, dass es sich um eine "materiale Ästhetik"
handelt. Dies war in den 20er Jahren auf der Höhe der Zeit, in den 50er Jahren revolutionär - und was dies heute bedeutet, wäre eine Debatte wert. Kracauer sagt über sein Buch:
"Es beruht auf der Annahme, dass der Film im wesentlichen eine Erweiterung der Fotografie ist und daher mit diesem Medium eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt um uns her gemeinsam hat. Filme sind sich selber treu, wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen. Nun schließt diese Realität viele Phänomene ein, die wir kaum wahrnehmen würden, wenn die Filmkamera nicht die Fähigkeit besäße, sie sozusagen im Flug zu erfassen. Und da jedes Medium den Dingen besonders zugetan ist, die es allein darstellen kann, scheint das Kino vom Wunsch beseelt, vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten. Leben in seiner vergänglichsten Form. Straßenmengen, unbeabsichtigte Gebärden und andere flüchtige Eindrücke sind seine Hauptnahrung. Bezeichnenderweise fanden die Zeitgenossen Lumières dessen Filme - die ersten, die je gemacht wurden - deshalb so bewundernswert, weil sie "das Zittern der vom Wind erregten Blätter' zeigten. "
Die Konsequenz aus diesem Ansatz ist für Kracauer unter anderem, dass Film und Tragödie miteinander unvereinbar seien. Die Welt des Films ist, so sagt er,
"ein Fluss zufälliger Ereignisse, der sowohl Menschen wie leblose Objekte
mit sich führt. Durch Bilder solcher Ereignisse kann Tragisches nicht
beschworen werden; es ist eine ausschließlich geistige Erfahrung, die keine
Entsprechungen in der Kamera-Realität hat..."
Man könnte einwenden, dass der Film, als Medium der Oberfläche,
mittlerweile vielleicht Dimensionen des Tragischen erfasst, die abseits der
Definition Kracauers existieren - eine spannende Frage, die sich aber
letztlich auch nur den Fragestellungen Kracauers verdankt.
Was der Band 3 der "Werke" nun an Hintergrundinformationen bietet, vor allem den "Marseiller Entwurf" aus den Jahren 1940/41, in Marseiller Cafés in der bangen Erwartung der Überfahrtmöglichkeit in die USA notiert, ist für die
Genese von Kracauers Theorie und die zeitgeschichtlichen Grundlagen sehr
erhellend. In dieser Zeit arbeitete Kracauer auch an einer Studie über
"totalitäre Propaganda", die nie veröffentlicht werden konnte, und die
ersten Ansätze zu einer Theorie des Films stehen ganz in diesem Zeichen, im Zeichen der Erfahrung nationalsozialistischer Breitenwirkung:
"Der Film verwickelt die ganze materielle Welt mit ins Spiel, er versetzt
zum ersten Mal - über Theater und Malerei hinausgreifend - das Seiende in
Umtrieb. Er zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach
unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen. Der Abhub interessiert ihn, das, was da ist - am Menschen selber und außerhalb des Menschen. Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: 'Danse macabre'. Zu welchem Ende? Das wird man sehen."
In der 20 Jahre später fertig gestellten "Theorie des Films" sind diese
anfänglichen Ansätze verdeckt, sie sind überführt in die Erfahrung des
amerikanischen Exils und des Siegs über den NS-Staat - ohne aber die
"materiale Ästhetik" als solche in Frage zu stellen.
Kracauer ist ein essayistischer Grenzgänger des 20. Jahrhunderts,
der wie kaum ein anderer zwischen Primär- und Sekundärliteratur changiert
und deshalb einen Prototyp des zeitgenössischen Literaten verkörpert. Er
saugt das Wissen seiner Epoche ein, um das Ungenügen daran in suchenden Schreibbewegungen auszuloten. Vielleicht ist deshalb der bereits im Frühjahr des letzten Jahres erschienene Band 7 der Werkausgabe als das
geheime Kraftzentrum zu verstehen, der Band mit den erzählerischen
Versuchen.
Im Mittelpunkt stehen die beiden Romane "Ginster" und "Georg". Ergänzt
werden sie durch einige Erzählungen, die zum einen im Umfeld dazu
entstanden sind, zum anderen aber die ersten Schreibversuche Kracauers
überhaupt dokumentieren. "Das Fest im Frühling", das er 1907 als
18-Jähriger geschrieben hat, dreht sich um einen "Weltschmerzler und
Nachtschwärmer" und verrät eine große Nähe zu den damaligen Modeströmungen der Lebensphilosophie. Über die Entstehungsgeschichte des Romans "Ginster", der 1928 erschien, ist nicht all zu viel bekannt - dazwischen lagen der Erste Weltkrieg, das Studium der Architektur sowie der Eintritt in die Redaktion der "Frankfurter Zeitung" 1921.
"Ginster" ist autobiografisch, aber in der äußeren Form merkt man davon
nichts. Der Titel des Romans ist gleichzeitig der Name des Helden. Es gibt
keine Psychologie, nichts wird erklärt. Alles erscheint in Distanz gerückt.
Dabei entsprechen die Stationen des Romans durchaus dem Lebensweg
Kracauers: die Heimatstadt Frankfurt, das Studium in München, die
Kriegserfahrung als Fußartillerist der Reserve in Mainz, die Tätigkeiten
als Hilfsarchitekt in einem Frankfurter Büro und beim Stadtbauamt in
Osnabrück. Im Anhang des Bandes sind einige architektonische Skizzen
Kracauers wiedergegeben, und sie entsprechen verblüffend genau den im Text geschilderten Objekten.
Ein Ich, mit dem man sich identifizieren könnte, taucht in diesem Roman
jedoch an keiner Stelle auf, im Gegenteil: die Grenzen des Ich verschwimmen ständig. Lebendiges und Lebloses wechseln die Aggregatzustände. Die Gegenstände bewegen sich und werden sinnlich wahrgenommen, die Menschen wirken dagegen starr und maskenhaft, wie Marionetten - oder aber wie Gestalten aus den frühen Stummfilmen. Das Exerzieren im Kasernenhof ist eine groteske Filmsequenz, mit Schattenrissen und ein bisschen zu schnellen, ruckartigen Bewegungen. Joseph Roth schrieb in seiner fulminanten Kritik: "Ginster im Krieg: das ist Chaplin im Warenhaus". Es ist tatsächlich ein unerbittlicher Kamerablick, mit dem diese Prosa ihre Sujets abtastet. In ihren stärksten Passagen sieht man die Verfilmung gleich mit:
"In dem Zimmer herrschte ein Elterngeruch, der von den zwei kleinen Leuten ausstrahlte, die ihren Sohn mit den Blicken verschlangen. Sie
verzehnfachten sich, zehn Elternpaare, die ihn umringten, damit die Welt
sich seiner nicht bemächtigen konnte. Über dem Bauch des Vaters, der den
Rock abgelegt hatte, spannte die Hose, und der Mutterkopf ragte aus einem
Hauskleid mit Wellenlinien hervor. Durch die Enge des Zimmers wurde das
elterliche Fleisch in die nächste Nähe gerückt, es lag unter einer Lupe,
seine Poren öffneten sich, und auch die Gefühle bestanden aus Fleisch."
Ginster sagt einmal von sich: "Am liebsten zerrieselte ich." Er ist eine
Ausgeburt der Moderne, geht in der sich ständig verändernden Großstadt, in
den neuen technischen Möglichkeiten wie in einer Montage auf. Er entspricht
Kracauers Filmkritiken, in denen er die geistesabwesende "Zerstreutheit"
Buster Keatons genauso feierte wie die "ich-lose Erscheinung" Chaplins.
Kracauer seziert in seiner Prosa die Oberfläche, er blickt nicht ins Innere
seiner Figuren. Das Innere drückt sich vollständig in der Beobachtung des
Äußeren aus und geht darin auf. Der Roman entspricht der avancierten
Erzähltheorie seiner Zeit, die Kracauer parallel dazu an den besten
Beispielen darstellte - seine Besprechungen der damals gerade erscheinenden Kafka-Texte weisen ihn auch als herausragenden Literaturkritiker aus. Was kam vorher - die Theorie, durch die Analyse zeitgenössischer Kunstwerke, oder der Roman selbst, der so geschrieben werden musste, weil er unbedingt in seiner Zeit fußte?
Manchmal verheddert sich der Film, und das sieht dann so aus - die Rede ist
von Mutter und Tante:
"Ihrem Bestreben, sich nichts wissen zu machen, stand die jetzt erfolgte
Zurückweisung des Esspakets im Weg, die das Verhalten Ginsters allzu
deutlich enthüllte."
Die Vertracktheit dieses Satzbaus ist der Ästhetik des Romans geschuldet,
dem Slapstick, der Augenblicks-Groteske. Hier ist die Crux des Autors
Kracauer ausgedrückt: seine Konsequenz, aber auch seine
Theoriegebundenheit. Man kann darin ein sehr aktuelles Problem sehen.
Kracauer nannte nicht seinen Namen als Autor, sondern fügte einen
Untertitel hinzu: "Ginster. Von ihm selbst geschrieben". So beginnt das
Spiel mit dem Ich und den Identitäten. 1928 erhielt der Roman blendende
Kritiken, und Kracauer machte sich sofort an den nächsten - wenn die
Zeitumstände anders gewesen wären, hätte er in den 30er Jahren als
Schriftsteller existieren wollen. Während "Ginster" 1963 immerhin in der
Bibliothek Suhrkamp wieder aufgelegt wurde, sah Kracauer seinen zweiten,
noch umfangreicheren Roman nie gedruckt. Er erschien unter dem Titel
"Georg" erst posthum 1973, herausgegeben von Karsten Witte als Band 7 der damals edierten "Schriften" Kracauers, und deswegen wurde er nur am Rande rezipiert. Wäre er damals, Anfang der 30er Jahre, veröffentlicht
worden, gälte er heute sicher als vielzitiertes Schlüsselwerk zur
Geisteslage der Weimarer Republik.
Georg rutscht eher zufällig in eine kleine Zeitungskarriere hinein. Er wird
hin und her geschleudert von den Diskussionen und Ideologien um ihn herum.
Ursprünglich sollte der Roman "Gesellschaft" heißen, und in den diversen
Salons und Soiréen, durch die Georg taumelt, entsteht ein ungeschöntes Bild
der 20er Jahre: Da agieren die Karrieristen, die akademischen
Diskursjongleure, und die Kulturflittchen schlafen sich über mehrere
Stationen an einflussreiche Medienfiguren heran. Einmal erlebt Georg eine
Soirée bei dem Bankdirektor Heydenreich und seiner Frau:
"'Unsere herrliche Sozialpolitik', sagte Herr Heydenreich, 'richtet die
Wirtschaft zusehends zugrunde.'"
Frau Heydenreich seufzte: 'Wenn jeder soviel täte wie wir...'
Ich bin im Theater - wieder, und stärker als vorhin, wurde Georg von diesem
Eindruck beherrscht; nur dass er sich jetzt in einem völlig gelähmten
Zustand befand, der ihn daran hinderte, mitzuspielen oder gar einzugreifen.
Dr. Wolff bearbeitete Charlie wie eine Klientin, die noch nicht weiß, ob
sie soll: 'Also abgemacht, Sie besuchen mich morgen im meinem Büro.' -
'Ausgeschlossen, erkläre ich Ihnen', erwiderte Charlie. 'Um welche Zeit
dachten Sie überhaupt?' Der Diener beugte sich über Frau Heydenreich. Frau Gilbert zuckte blitzartig mit dem Kopf. Man durfte nicht ihre
Aufmerksamkeit erregen, sie alle, wie sie da saßen, waren erfundene
Figuren, die flüchtig auf der Bildfläche erschienen und sich bei der
leisesten Störung davongemacht hätten."
Es sind alles Romanfiguren, das stellt Kracauer unmissverständlich dar, er
spielt ständig mit dem Verfremdungseffekt und stellt die Szene dennoch
hautnah realistisch dar. In der Zeitung dominieren die Wichtigtuer und
Bescheidwisser, die organisch in die entscheidenden Positionen gelangen.
Georg ist sich seiner nie sicher, und er hat kein Talent zum Opportunismus.
Deswegen wird er trotz einiger Erfolge zum Schluss zwangsläufig
ausgestoßen. Aber er hat, im Gegensatz zu "Ginster", eine Entwicklung
durchgemacht.
Kracauers ästhetische Prinzipien verdichten sich manchmal zu kleinen
selbstständigen Einheiten: die Szene auf der Treppe zum Beispiel, auf der der Korrektor Kummer steht, ist wieder in "Ginster"-Manier eingefangen, und ein dionysisch anmutender Faschingsball glitzert in allen Facetten. Georg
bleibt ähnlich wie Ginster eine Figur, die das Geschehen als eine
Kamerafahrt erlebt. Dies drängt sich jedoch nicht mehr formal in den
Vordergrund. Geheimnisvoll sind Kracauers Kenntnisse des psychischen
Apparats in den Text verwoben, seine Faszination für das Androgyne - den
Sog aber übt die pralle Gegenwart selbst aus. Dabei setzt sich das
Schreiben über die Vorgaben hinweg, und die Hauptfigur wird unversehens zur moralischen Instanz. "Georg" war ein Versprechen für den Schriftsteller
Kracauer, das durch die Umstände des Exils nicht mehr eingelöst werden
konnte.
Vieles kommt einem heute aktuell vor. Die Typologie der Medienfiguren ist
der heutigen ziemlich ähnlich, und viele der neueren Entwicklungen
relativieren sich, wenn man sie mit dem klaren Blick Kracauers von damals
sieht.: das Medium, das sich von den Inhalten loslöst und selbst zum Inhalt
wird. Das Absolutsetzen der gerade modischen Denkstile. Die Erkenntnis,
dass es immer weniger Wissen gibt, je mehr Informationen auf einen
einprasseln. Unter der Hand wird in Kracauers Medien- und Bewusstseinsroman das Individuum zur einzigen Bezugsgröße, trotz aller theoretischen Prämissen. Das resultiert offenkundig daraus, dass er sich auf die Literatur eingelassen hat. Es gibt bei Kracauer keine Fiktion. Seine Romane bestehen aus einzelnen Reportagen und Feuilletons, die sich immer mehr verdichten, bis sie langsam zu schweben beginnen und etwas Großes und Ganzes werden. Vielleicht ist die Zeit von "Georg" jetzt gekommen.