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"Das ist einfach zynisch"

Mehr als 200.000 Menschen könnten versuchen, aus Libyen in Richtung EU zu fliehen. Franziska Brantner, Mitglied des Europäischen Parlaments für Die Grünen, fordert, dass auch Deutschland hier Verantwortung übernimmt. Deutschland "kann nicht einfach nur sagen, Italien, mach mal", sagt sie.

Franziska Brantner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.02.2011
    Christoph Heinemann: Rette sich, wer kann, das sagen sich zurzeit nicht nur viele Libyer, die sich vor Gaddafis Söldnern in Sicherheit bringen wollen. Die nordafrikanischen Staaten sind kaum noch in der Lage, die vielen Menschen in Afrika zurückzuhalten, die sich auf der anderen Seite des Mittelmeeres ein besseres Leben erhoffen. Ein Thema auf der Tagesordnung der EU-Innenminister, die mit durchaus unterschiedlichen Meinungen nach Brüssel gereist sind.

    Am Telefon ist Franziska Brantner, für die Grünen Abgeordnete im Europäischen Parlament, dort Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Guten Tag!

    Franziska Brantner: Guten Tag, Herr Heinemann.

    Heinemann: Frau Brantner, wir wollen uns kurz anhören, was unser Korrespondent Karl Hoffmann heute früh von der italienischen Insel Lampedusa berichtete.

    O-Ton Karl Hoffmann: Es gab eine Schätzung von Experten, die auch von Politikern geteilt wurde, dass möglicherweise bis zu 200.000 oder 300.000 Menschen aus Libyen jetzt versuchen könnten zu fliehen. Das muss nicht sein, dass sie alle nach Lampedusa kommen, aber nach Norden, Richtung Europa, das ist die Fluchtroute.

    Heinemann: Wohin mit den Flüchtlingen, wenn sie in See stechen?

    Brantner: Also ich glaube, dass wir uns darauf einstellen müssen und dass es eben nicht reicht, zu sagen, momentan brauchen wir nicht zu agieren. Ich glaube, die Flüchtlingswelle wird kommen, vor allen Dingen wenn Gaddafi weiter auf seine eigene Bevölkerung schießt. Und ich glaube, wir brauchen einen EU-Solidaritätsmechanismus. Wir brauchen eine gemeinsame Antwort aller 27 Mitgliedsstaaten. Es kann eben nicht allein an Italien und Spanien liegen. Dafür gibt es auch die Möglichkeiten in den Verträgen, die Möglichkeit ist da. Und ich glaube, wenn sich jetzt bewahrheitet, was manche befürchten – wir alle wünschen natürlich, dass es nicht kommt -, dann kann die Aufgabe eben nicht alleine den südlichen EU-Ländern überlassen werden. Dann braucht auch Deutschland eine neue Antwort und kann nicht einfach nur sagen, Italien, mach mal.

    Heinemann: Da sagt der Bundesinnenminister, Deutschland hat im vergangenen Jahr 40.000 Flüchtlinge aufgenommen, die Rückführung nach Griechenland wurde aus humanitären Gründen ausgesetzt, Italien hat gerade 4.000 Personen aufgenommen, also ein Zehntel.

    Brantner: Das stimmt. Ich glaube auch, wie Sie gerade schon angesprochen haben, dass durch die Aussetzung eigentlich das Prinzip, dass man immer nur in dem Land, wo man ankommt, den Antrag stellen kann – in Griechenland haben wir das Prinzip ja ausgesetzt -, eigentlich eben jetzt schon klar ist, dass dieses Prinzip auch nicht mehr greift und deswegen jetzt auch für die neuen ankommenden Flüchtlinge wir uns überlegen müssen, wie wir das europaweit aufteilen. Deutschland ist da ein großes Land. Wir sagen auch nicht, dass Deutschland jetzt alle aufnehmen soll, sondern wir sagen, wir brauchen einen europäischen Mechanismus, der wirklich überlegt, welches Land kann wie viele Flüchtlinge aufnehmen und dementsprechend diese Flüchtlinge auf alle 27 Mitgliedsländer verteilt. Nur blockiert momentan Deutschland den gesamten Prozess. Und das ist eben das Traurige daran.

    Heinemann: Wo sollten die denn hin in Deutschland?

    Brantner: Wir haben ja die Aufnahmezentren bei uns, die sind ja zum Teil auch leer, da gibt es Kapazitäten. Es gibt zum Beispiel ja auch die Kampagne "Save me", die klar einige Städte schon dazu gebracht haben, zu unterschreiben, dass sie bereit sind, Flüchtlinge auch aufzunehmen. Ich glaube, es gibt die Bereitschaft und wir haben die Kapazitäten dazu. Und das muss eben so geregelt werden, dass es menschenrechtskonforme Verfahren gibt und die Menschen auch dementsprechend dann untergebracht werden.

    Heinemann: Also zum Beispiel in Ihrem Wahlkreis in Heidelberg?

    Brantner: Ja, durchaus. Ich glaube, es ist immer dann die Frage, wo sind die Kapazitäten noch frei. Es wird dann auch innerhalb von Deutschland natürlich solidarisch zwischen den Bundesländern aufgeteilt werden. Ich glaube, wir können nicht jetzt den Menschen, die aus Libyen fliehen, vor der wahnsinnigen Gewalt, die Gaddafi gegen sein Volk anwendet, diesen Flüchtlingen sagen, es tut uns schrecklich leid, wir haben keinen Platz für euch. Das ist einfach zynisch.

    Heinemann: Sie sagen also ganz klar, wir Grünen sind dafür, meinetwegen verstärkte Flüchtlingsströme auch nach Baden-Württemberg zu führen?

    Brantner: Ich sage mal, natürlich, wenn die einen Antrag gestellt haben – und es ist ja nicht so, dass wir sagen, jeder darf dann bleiben -, aber die Möglichkeit, dass eben die Flüchtlinge einen Antrag stellen können, dass sie erst mal nicht im Meer, sage ich mal, untergehen, die muss gegeben werden. Und natürlich, sage ich mal, als Zweites, was hinzukommt, ist natürlich die Flüchtlingswelle, die auch Richtung Ägypten geht. Und ich glaube, da muss die Europäische Union jetzt auch Unterstützung anbieten, weil Ägypten ist komplett überfordert mit der Bereitstellung von Lazaretten und Auffanglagern. Die sind ja selber gerade in einer sehr prekären Situation. Da kann die EU zum Beispiel auch humanitäre Hilfe leisten und auch dort dann zum Beispiel verstärkt die Flüchtlingsaufnahme dort organisieren. Das würde auch noch mal etwas an Druck rausnehmen an den Flüchtlingsströmen übers Mittelmeer.

    Heinemann: Frau Brantner, was haben die Menschen davon, wenn sie hier nicht bleiben dürfen?

    Brantner: Na ja, erst mal entgehen sie der Gewalt. Momentan ist es ja so, wir haben es gerade in Ihren eigenen Berichterstattungen gehört, dass willkürlich auf Menschen geschossen wird, dass man dort einfach nicht sicher ist und dass die Menschen vor der Gewalt und der Angst vor dem Tod fliehen. Und selbst wenn sie jetzt nun gehen während der Zeit, bis Gaddafi hoffentlich das Regime verlässt, und danach wieder bereit sind, an ihrem Land mit aufzubauen, dann entgehen sie wahrscheinlich dem Tod. Ich glaube, es ist natürlich von uns gerade einfach zu sagen, sie sollen dort bleiben und das Regime mit aufbauen, wenn momentan gerade sich es andeutet, dass es vielleicht zum Bürgerkrieg kommt. Und das ist ja die aktuelle Situation, von der wir sprechen. Also, ich glaube nicht, dass es jetzt auch darum unbedingt nur geht, diesen Menschen zu sagen, ihr könnt dann für immer bleiben, aber zumindest ihnen ein Signal zu geben, vor der aktuellen Gewalt geben wir euch auch Schutz als Europäische Union.

    Heinemann: Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn dreht den Spieß um. Er spricht von Völkermord in Libyen und fordert ein UN-Mandat zum Schutz der libyschen Bevölkerung. Schließen Sie sich dem an?

    Brantner: Ich finde es noch nicht sehr ausgekoren, was Herr Asselborn vorgeschlagen hat. Es ist überhaupt nicht klar, wie man momentan in Libyen militärisch oder mit Gewalt eingreifen sollte. Ich bin da sehr vorsichtig. Aber ich teile seine Einschätzung, dass die internationale Gemeinschaft wesentlich mehr Druck ausüben muss auf Gaddafi, um sein Vorgehen zu stoppen. Mich hat es sehr geärgert, dass sich gestern die europäischen Regierungen nicht dazu einigen konnten, harte Sanktionen zu verhängen. Berlusconi, also Italien, hat sich da zum Beispiel auch geweigert, seine Vermögen einzufrieren, Reisebeschränkungen zu machen. Ich glaube, wir brauchen dringend ein Flugverbot über Libyen, damit eben nicht mehr weiter auch Waffen geliefert werden können, auf die Bevölkerung geschossen werden kann. Da muss sich die EU natürlich genauso stark jetzt dafür einsetzen, da hat Herr Asselborn ganz recht. Es ist eben nicht damit getan, jetzt sich um die Flüchtlinge zu kümmern, sondern der Druck auf Gaddafi und sein Regime muss noch extrem erhöht werden und vor allen Dingen verhindert werden, dass er weiter mit Waffen beliefert wird. Da hat Herr Westerwelle sich leider auch nicht durchgesetzt.

    Heinemann: Die Politik der Europäischen Union, verkörpert durch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, erinnert an Loriots Farbenlehre, ein leuchtendes Aschgrau. Wieso ist die Europäische Union wieder mal so fahl?

    Brantner: Frau Ashton hat ja die Schwierigkeit, dass sie eben keine geeinten Minister hinter sich hat. Die 27 streiten sich, sind sich nicht einig. Und sie ist leider nicht diejenige, die dann sagt, gut, dann gehe ich mutig voran, sondern sie sagt, ich bin die Moderatorin dieser 27 und wenn die sich nicht einigen, dann kann ich nichts machen. Das führt zu dem Grau.

    Ich wünsche mir von ihr, dass sie eben mutiger vorangeht. Ich fand es immerhin schon gut von ihr, dass sie gesagt hat, wir suspendieren die Verhandlungen, die ja aktuell laufen zwischen der Europäischen Union und Libyen zu einem Handelsabkommen und einem Rücknahmeabkommen der Flüchtlinge. Schon seit eineinhalb Jahren kämpfe ich dagegen und fand es jetzt absolut wichtig, dass diese Verhandlungen endlich suspendiert wurden. Das war ihre Initiative. Aber wie gesagt, in all den anderen Fragen von Sanktionen hält sie sich eher an das, was die Mitgliedsstaaten machen. Und die sind leider sehr uneinig und nicht bereit, hart gerade durchzugreifen.

    Heinemann: Franziska Brantner, für die Grünen Abgeordnete im Europäischen Parlament, dort Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Brantner: Ich danke Ihnen!