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"Das ist ganz gewiss ein schriftliches Denkmal"

In Frankreich wurde gestern der Prix Goncourt an Atiq Rahimi vergeben. Rahimi wurde in Afghanistan geboren und lebt seit Mitte der 80er-Jahre in Paris, wohin er vor dem Krieg in seinem Land geflohen war. Er promovierte an der Sorbonne und ist seither Schriftsteller. Der ausgezeichnete Roman "Syngué Sarbour", "Stein der Geduld" ist der erste, den er nicht mehr auf Persisch, sondern auf französisch geschrieben hat - die Niederschrift der Klage einer leidenden Frau.

    Karin Fischer: Frage an meinen Kollegen Jürgen Ritte, nun ist dieser Roman gleich mit dem bedeutendsten und begehrtesten Literaturpreis Frankreichs ausgezeichnet worden. Worum geht es in dem Buch?

    Jürgen Ritte: Es geht in diesem Roman um die herausgeschriene, herauserzählte Leidensgeschichte einer Frau am Bett ihres im Koma liegenden Mannes. Der ist einem Attentat in Afghanistan zum Opfer gefallen. Das Ganze spielt in Afghanistan. Und das erklärt auch diesen etwas sonderbaren Titel "Stein der Geduld". Das geht weit zurück in die persische Mythologie. Und dieser Geduldsstein ist eben der Stein, an dem man so alles aus sich heraus lässt, was einem auf der Seele liegt. Und das tut nun diese Frau. Das heißt, Atiq Rahimi schlüpft in die Rolle einer afghanischen Frau und die erzählt nun so alles, was sie auf dem Herzen hat. Und das ist so einiges. Es geht auch um die Rolle der Frau in solchen Regimen. Die Geschichte beruht auch wieder auf einem konkreten historischen Anlass. Atiq Rahimi war nach Afghanistan gereist, nachdem eine junge Schriftstellerin von ihrem Mann erschlagen worden ist aus offenbar religiösen Gründen, der daraufhin sich selbst versucht hat aus dem Leben zu nehmen, indem er sich Benzin in die Venen gespritzt hat. Und diesen Sterbenden hat Atiq Rahimi gesehen und in dem Moment ist ihm die Idee gekommen, was würde ich diesem Mann alles sagen, wäre ich seine Frau gewesen.

    Fischer: Bei uns bekannt ist ja vielleicht die Erzählung "Erde und Asche" von Atiq Rahimi, die dieser selbst auch verfilmt hat. Und in diesem Film setzt er den Toten der Kriege in Afghanistan auch schon ein sehr, sehr trauriges Denkmal. Eine Million Afghanen sind ja allein während der sowjetischen Besatzungszeit getötet worden. Und niemand, sagt Rahimi, hat sich die Zeit genommen, sie zu betrauern. Und man ist immer sofort gleich zur Rache übergegangen. Ist das auch ein Denkmal, ein schriftliches?

    Ritte: Ja, das ist ganz gewiss ein schriftliches Denkmal. Und diesmal eines von einer lebenden Frau gesprochen. Aber es ist eben die Klage einer Frau. Und ich glaube, es geht diesmal vor allen Dingen darum. Wie alle seine Bücher zwischen dem eben genannten "Erde und Asche" und dem jetzigen lag noch ein anderes, das war "Das Haus der Träume und des Schreckens". Und da erzählt er seine neuntägige Flucht, seinen neuntägigen Fußweg in einer Kolonne von 2000 Afghanen, die versuchen aus dem Land Richtung Islamabad zu fliehen.

    Fischer: Wir sollten ganz kurz erwähnen, Jürgen Ritte, dass der Prix Renaudot ein ebenfalls sehr prestigeträchtiger französischer Literaturpreis an einen afrikanischen Autor ging, an Tierno Monénembo aus Guinea. Ist das vielleicht ein Zeichen, dass die außereuropäische französische Literatur derzeit Gewichtigeres zu sagen hat als die inländische?

    Ritte: Ob sie Gewichtigeres zu sagen hat, wage ich jetzt nicht zu entscheiden. Aber auf jeden Fall ist ein deutliches politisches Signal von beiden Jurys. Seit einigen Jahren schon bemängeln französische Literaturkritiker den Non Brillisme, die Nabelschau der meisten französischen Schriftsteller und rufen nach einer, sagen wir, neuen französischen Weltliteratur. Da fällt natürlich einiges zusammen mit dem Prestige oder mit dem Prestigedenken, das es in Frankreich natürlich auch noch gibt und der ganz entschiedenen Verteidigung der Frankofonie in der Welt. Und ich glaube mit diesen beiden doch sehr prestigeträchtigen Preisen an zwei Autoren, die französische Sprache als ihre Heimat gewählt haben, versucht man dieses Zeichen zu setzen und sagen, das Französische ist noch eine Sprache, die weltmächtig ist, denn sie bietet vielen Schriftstellern, die ursprünglich keine Franzosen waren, eine Heimat.

    Fischer: Vielen Dank an Jürgen Ritte über diese Einschätzung der zwei wichtigsten französischen literarischen Auszeichnungen an Atiq Rahimi und Tierno Monénembo.