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Das Kreuz mit dem Rücken

Mit Rückenbeschwerden hat fast jeder Mensch im Lauf seines Lebens zu tun. Die Behandlungsmethoden haben sich in den letzten Jahren stetig verbessert. Doch Kritiker bemängeln: Es werde zu häufig operiert. Viele der 170.000 Bandscheibenoperationen allein im Jahr 2010 seien überflüssig gewesen.

Von Patric Seibel | 13.12.2011
    Der Präsident der Deutsche Wirbelsäulengesellschaft, kurz "DWG", spricht Klartext. Prof. Christof Hopf, Chefarzt der Wirbelsäulenchirurgie am Lubinus-Clinicum Kiel räumt ein, dass die Operationszahlen gestiegen sind.

    "Es ist uns trotz aller Anstrengungen, die wir im Vorfeld dieses Kongresses unternommen haben, herauszufinden, wodurch diese bedingt sind, nicht gelungen. Das liegt unter anderem an dem System, wie Operationsleistungen gezählt werden. Ein Anliegen dieses Kongresses ist es aber auch, darauf hinzuweisen, dass man alle Wege gehen muss und alle Wege kennen muss. Und ein Anliegen ist es sicherlich, mit den Kollegen gemeinsam zu besprechen wo die Grenzen der operativen Tätigkeit liegen müssen, wo eben andere Therapieverfahren zum Einsatz kommen müssen."

    Vor allem mit der Psyche ihrer Patienten wollen sich die Rückenexperten künftig sehr viel genauer beschäftigen. Neuere Studien bestätigen: Ist die Seele verletzt, schmerzt oft das Kreuz:

    "Die Psyche hat sehr viel mit dem Rücken zu tun. Man muss davon ausgehen, dass 30 Prozent der Bevölkerung unter psychischen Problemen leiden und die Psyche hat einen Einfluss auf die Schmerzverarbeitung und Patienten, die an psychischen Problemen leiden, haben eine andere Schmerzverarbeitung als Patienten, die gesund sind. Dies muss man wissen und bei den Planungen zu irgendwelchen Maßnahmen berücksichtigen."

    Sind Rückenschmerzen chronisch geworden, haben Patienten und Ärzte ein Problem: Der Schmerz wirkt wie eintätowiert ins Nervensystem. Ein Ausweg könnte die Psychotherapie sein: Statt auf den OP-Tisch sollen solche Patienten künftig auf die Couch.

    "Es gibt Schmerzbewältigungstherapien, bei denen der Patient einen Zugriff zu der Ursache seiner Schmerzchronifizierung findet und damit einen Teil seiner Beschwerden verstandesmäßig abarbeiten kann."

    Diese Behandlungen übernehmen Psychologen und Psychosomatische Mediziner. Ihr Wissen ist gefragt bei den in der DWG organisierten Orthopäden, Unfallchirurgen und Neurochirurgen. Auf der Suche nach Ursachen für chronische Rückenschmerzen stoßen Forscher unter anderem immer wieder auf biografische Faktoren:

    "Dass zum Beispiel das Schlagen von Kindern, Ursache für eine spätere Schmerzchronifizierung sein kann. Das muss man wissen, das müssen die Patienten herausfinden, damit sie dieses Problem mit professioneller Hilfe angehen können."

    Allerdings gehören nicht alle Rückenpatienten zum Psychotherapeuten, für andere kann eine Operation das einzig Sinnvolle sein. In gravierenden Fällen ist zudem Eile geboten, damit sich der Schmerz nicht chronifiziert, erklärt Oberarzt Dr. Phillip Lübke vom Lubinus Clinicum in Kiel:

    "Das auch vor dem Hintergrund, dass sich relativ schnell, das belegen neuere Studien, dass man relativ schnell von einer Schmerzchronifizeirung sprechen kann, schon nach einem Zeitraum von manchmal drei Monaten. Und sobald sich ein Schmerzgedächtnis entwickelt hat, ist ein Patient ganz ganz schwer in den Arbeitsalltag oder überhaupt in den Lebensalltag zu reintegrieren."

    Operieren oder konventionell kurieren, schneiden oder reden; Schrauben und Implantate oder Schmerzmittel und Physiotherapie - die Entscheidung über die richtige Therapie für Wirbelsäulenpatienten ist oft schwer zu treffen und verlangt vom behandelnden Arzt Kompetenzen in mehreren Fachgebieten. Angesichts dieser Herausforderungen setzt die DWG auf ärztliche Weiterbildung auf höchstem Niveau. Eine neues Zertifikat soll für exzellente Qualität sorgen. Neben ausführlichen Kenntnissen, die in sechs Modulen erworben werden, müssen die Mediziner alle gängigen Operationstechniken beherrschen:

    "Dieser OP-Katalog ist sehr viel umfangreicher als die OP-Kataloge der einzelnen Fachdisziplinen, so haben wir ein Vielfaches mehr an wirbelsäulenchirurgischen Eingriffen, was gefordert wird, zum Beispiel im Vergleich zum orthopädischen Facharzt. Das Zertifikat wird eine Art Gütesiegel darstellen."

    Und ruft daher nicht überall Begeisterung hervor. Die mit sechs Jahren relativ junge Deutsche Wirbelsäulengesellschaft wird ob ihrer Qualitätsoffensive misstrauisch beobachtet, glaubt Präsident Professor Hopf:

    "Aktivitäten der DWG werden von den etablierten Fachgesellschaften der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie oder der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie mit einer gewissen Skepsis gesehen. Die schnelle Entwicklung auf dem Wirbelsäulensektor erfordert nach unseren Vorstellungen ein schnelles Verfahren, dies wird von den anderen Fachgesellschaften nach meiner Einschätzung nicht im gleichen Umfang geteilt."