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Das Leben im Pappkarton

In einem überdimensionierten Pappkartonhaus lässt Regisseur Jan Bosse "Peer Gynt" durch die Welt reisen: Die fantasievolle und episodenreiche Geschichte Henrik Ibsens erscheint in der Inszenierung am Thalia Theater Hamburg jedoch als reines Gedankenspiel, das Herz bleibt kalt.

Von Michael Laages |
    Als es ans Sterben geht und der magisch-mystische Knopfgießer kommt, um den eher missratenen Lebensentwurf des Sterbekandidaten umzuschmelzen zu etwas Nützlicherem, da lässt Henrik Ibsen den faustischen Helden Peer Gynt ein immer gültiges Bild finden für das Leben an sich - es gleiche einer Zwiebel. In immer neuen Häutungen müssten kurz vor Schluss die Verpackungen weggerissen werden, bis irgendwann - und unter Tränen, es ist ja eine Zwiebel - "der Kern" zum Vorschein komme, das Ich, das Unverwechselbare und Einmalige; das, wofür gerade dieses Leben gut und gemacht war.

    Aus einer ganz anderen, weniger poetischen als vielmehr sehr praktischen Idee von durchaus ähnlicher Verpackung mag der Gedanke entstanden sein, der diesen jüngsten Versuch am großen Gedicht von der Ich-Werdung des Menschen nachhaltig prägt. Das Leben sei doch heute eher ein profaner Pappkarton, hat womöglich der Bühnenbildner Stephane Laimé dem Regisseur Jan Bosse vorgeschlagen. Und nun steht da ein Haus aus Kartons auf der Drehbühne des Thalia Theaters in Hamburg. Am kleineren Berliner Maxim-Gorki-Theater, dem Koproduzenten dieser Inszenierung, wird diese Kartonburg den Raum wohl sogar ganz füllen.

    Immer wieder gibt es Inszenierungen, die - wie diese - einer fundamental-gestalterischen Bildidee für den Raum ganz und gar folgen - oder ihr verfallen. Auch aus diesem Bild gibt es kein Entrinnen, und alle anderen Raumbehauptungen sind so, wie sie geschrieben stehen zum Beispiel im Stück, von nun an nicht mehr realisierbar.

    Allerdings sind ja auch die Reisen von Ibsens Peer kaum real zu bebildern - von scharfen Felsengraten an Norwegens bergiger Küste bis zu Wüstenoasen und untergehenden Schiffen. Das kann ja stets nur Mummenschanz und Budenzauber sein - das ganze Stück handelt von nichts anderem, von nichts als dem augen- und sinnestäuscherischen Lügenspiel des Lebens. Da ist der Pappkarton als Sinnbild an sich gar nicht schlecht - nur ist er eben - im Gegensatz zur lebendigen, atmenden Zwiebelfrucht - ein kaltes Kunstprodukt. Und akkurat so kommt nun leider auch Jan Bosses komplette Inszenierung daher - als Gedankenspiel, das jeden vordergründig sinnlichen Verführungszauber des Theaters meidet wie der Teufel das Weihwasser.

    All die schrägen, schrillen Abenteuer des jungen wie des älteren Gynt bewältigen - neben den Hauptpartien - fünf Darsteller in zwei Dutzend Rollen: Gynts trickreichen Brautraub, das eigentlich ziemlich lustvolle Abenteuer mit Trollinnen und Trollen, das Gelage des Unternehmers Gynt vor Marokkos Küste an Bord der eigenen Jacht, die ihm von den noch geschickteren Gästen aus politischen Gründen geklaut wird, die vielversprechende, aber leider ergebnislose Begegnung mit der Schleiertänzerin Anitra, das suizidale Massaker im Irrenhaus, schließlich die Heimkehr per Schiff im - für den Rest der Schiffsmannschaft - tödlichen Sturm. All das entwickelt Bosse in einer Art Werkstattatmosphäre, szenisch sehr sparsam, teils mit vorproduzierten Videosequenzen außen auf der Fassade, teils per Livekamera innen drin in der Pappkartonburg. Sehr technisch wirkt das und immer sieht es auch ein bisschen nach Notlösung aus. Es markiert allerdings - und eben konsequenterweise - den Kern der Inszenierung: die Kunst des Verpackens.

    Auch Arno Kraehahns Musik klingt so - oft wie der Sound einer Orchesterprobe, wie das Vorspiel für etwas, das noch kommen könnte, dann aber doch nicht kommt. Für das Ensemble dieser Gynt-Werkstatt ist in derlei illusionsloser Unterkühlung naturgemäß wenig Profil zu erspielen; nicht mal für Marina Galic in der immer irgendwie undankbaren Rolle der lebenslang wartenden Solveig, die Peer jedoch durch eben diesen immerwährenden Glauben an ein Stück Glück vor der Knopfgießer- und Umschmelzerei des Todes bewahren kann.

    Als sie Peer das erste Mal traf, beim Fest, das mit dem Brautraub endete, rauschte sie wie ein sehr schmuckes Aschenputtel herein - und hinterließ einen Schuh. Das ist aber auch das einzig Märchenhafte an diesem Abend.

    Karin Neuhäuser, neu in Hamburg, ist ein furiose Gynt-Mutter Aase, mit beträchtlichen Fallhöhen aus Ironie und Alltags-Slang auch später, als knopfgießender Botschafter aus dem Jenseits. Jens Harzer stemmt das Monstrum von Solotext mit der ihm eigenen Fahrigkeit, die immer nach Haltungen in Text und Ton zu suchen scheint. Ihm bleibt damit die größte Herausforderung des Abends: das Weltbild Gynt wie in einer Art Traum Szene um Szene neu herbei zu fantasieren. Das ist anstrengend, für ihn wie für uns.

    Wie diese ganze gedankliche Bemühung - Bosse zeigt einen Blick auf "Peer Gynt", dem der Kopf zu folgen vermag. Aber das Herz bleibt kalt.