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Das Leid der Götter

In John Banvilles neuem Roman "Unendlichkeiten" leiden die Götter unter ihrer Unsterblichkeit. Außerdem versucht Zeus die Tochter eines im Sterben liegenden Erdlings zu verführen - Ähnlichkeiten zu "Amphitryon" voll beabsichtigt.

Von Gisa Funck | 20.07.2012
    In "Unendlichkeiten" wird Göttervater Zeus zum Schwerenöter.
    In "Unendlichkeiten" wird Göttervater Zeus zum Schwerenöter. (picture alliance / dpa)
    Die antiken Götter sind wieder mitten unter uns, so erzählt es zumindest der irische Schriftsteller John Banville. Aber man sollte sich keinesfalls auf sie verlassen. Denn die Götter des Olymps sind bekanntlich launisch - und mehr an sich selbst als an den Belangen der Menschen interessiert:

    "Ich mag die Vorstellung von Göttern, die genauso sind wie wir, nur ein kleines bisschen mächtiger, eben fliegen können, unsichtbar sind und solche Sachen, sonst aber genauso dumm, habgierig, lüstern und niederträchtig wie wir sind. Ich mag diese Idee. Die Götter sind nicht gut. Sie möchten vor allem Spaß haben, sich amüsieren. Und wir Menschen profitieren und leiden darunter gleichermaßen. Das austeilende Leben tut uns furchtbare, aber auch wundervolle Dinge an."

    Die launenhafte Schicksalsmacht der Götter bekam auch schon Max Morden, der melancholische Ich-Erzähler in Banvilles mit dem Booker Preis prämierten Vorgängerroman "Die See" zu spüren. Sein neues Buch "Unendlichkeiten" kann man nun als heiteres Gegenstück lesen. Denn wie in "Die See" geht es auch diesmal wieder um Sterben und Tod. Doch statt einer nachdenklichen Meditation legt John Banville diesmal ein tragikkomisches Lustspiel über die conditio humana vor, mit deutlichen Verweisen auf die antike Theaterdichtung. Ähnlich wie bei Aristophanes und Co. mischen sich nämlich auch in "Unendlichkeiten" die unsterblichen Götter immer wieder in die Handlung ein und melden sich persönlich zu Wort. Bei Banville ist es vor allem der wendige Hermes, der Schutzgott der Spieler, der vom Olymp herab zum Leser spricht:

    Mir scheint, ich sollte, ehe ich fortfahre, ein wenig von mir selbst berichten (...) Denn ich bin Hermes, den die Römer Merkur nennen, der Sohn des alten Zeus und von Maia, der Höhlenfrau. Was du nicht sagst, sagt ihr. Ich verstehe eure Zweifel. Warum auch sollten in solchen Zeiten wie der gegenwärtigen die Götter wiederkommen und sich abermals unter die Menschen mischen? Fakt ist jedoch, dass wir euch nie verlassen haben. Ihr habt nur aufgehört, mit uns zu rechnen. (....) Wenn irgendwann einmal an einem Sommertag ein jäher Windstoß in die Kronen der Bäume fährt oder aus heiterem Himmel ein sanfter Regenguss herniedergeht, dann streicht einer der unsrigen dort vorbei; wenn sich die Erde aufbäumt und den Schlund aufreißt, um ganze Städte zu verschlingen, wenn sich die See erhebt und eine ganze Inselkette samt Palmen, Strohhütten und einer Myriade heulender Eingeborener verschluckt, dann seid gewiss, dass einer von den Unseren schwer gelangweilt ist.

    "Das Geniale an den alten Griechen war doch ein Denksystem zu entwickeln, das alle naturwissenschaftlichen und menschlichen Phänomene erklärte. Es gab für fast alles einen Gott. Und alles, was passierte, wurde durch einen Gott verursacht. Das ist eine wundervolle Erklärung für unsere Welt. Und die alten Griechen stellten einem nach dem Tod auch nichts in Aussicht. Das Jenseits war für sie nur ein dunstiger Platz der Halbexistenz, nichts Wertvolles. Wertvoll für sie war allein das Hier und Jetzt. Am Leben zu sein. Um sein Leben zu kämpfen, das machte den Ruhm des Menschen aus. Kein lächerliches Jenseits, wo wir jeden wiedertreffen, den wir mal gekannt haben. Der christliche Himmel muss inzwischen ja ziemlich überfüllt sein. Oder auch der Islam mit seinen versprochenen Jungfrauen. Für mich sind solche völlig weltfernen Jenseits-Vorstellungen entsetzlich. Wir sollten lieber den Pantheismus wieder einführen, finde ich. Das wäre viel gesünder."

    Wie in der altgriechischen Mythologie ist es auch in Banvilles Götterfarce vor allem Urvater Zeus, der Unfug treibt und seinem Ruf als Schwerenöter einmal mehr gerecht wird. In "Unendlichkeiten" hat sich der Göttervater in eine junge Frau namens "Helen" verguckt, bei der man natürlich sofort an die schöne Helena aus dem Trojanischen Krieg denken muss. Es ist nur eine Anspielung von sehr vielen in diesem Buch. Das fängt schon damit an, dass sich die Handlung – wie im antiken Drama - an nur einem einzigen, exemplarisch anmutenden Sommertag abspielt; in einer Zeit, die man historisch nicht einordnen kann. Während die Post noch altmodisch mit dem Pony ausgetragen wird, werden die Autos schon futuristisch mit Salzwasser betrieben. Ort des Geschehens ist ein Landsitz namens "Arden": den Wald gleichen Namens kennt man aus Shakespeares "Sturm". Doch vor allem der menschliche Hauptheld dieses modernen Dionysos-Spiels trägt einen mehr als vielsagenden Namen: Er heißt nämlich Adam Godley, also: Adam Göttlich. Was nicht zuletzt auf seine größenwahnsinnige Profession hindeutet. Denn dieser Adam ist ein berühmter Mathematiker und hat als solcher nichts Geringeres als das Zeitparadoxon der Unendlichkeit theoretisch geknackt. Nun aber ist seine eigene Zeit abgelaufen. Adam liegt nach einem Schlaganfall im Koma – und die Familie hat sich um sein Sterbebett versammelt: Ehefrau Ursula, Tochter Petra, Sohn Adam junior und ebenjene Schwiegertochter Helen, auf die es Göttervater Zeus so abgesehen hat. Und, weil in Banvilles Sommertags-Sterbetraum nun einmal fast alles hochsymbolisch aufgeladen ist, ist Helen außerdem auch noch Schauspielerin. Und probt – natürlich nicht ganz zufällig - gerade Heinrich von Kleists "Amphitryon". Jenes Theaterstück also, in dem Zeus die Heldin Alkmene in Verkleidung ihres Gatten Amphitryon verführt:

    "Ursprünglich wollte ich mich mit dem Roman sehr nah auf Heinrich von Kleists "Amphitryon" beziehen. Und das Skelett von 'Amphitryon' ist im Buch ja auch noch erkennbar. In diesem großartigen Stück kommen die Götter auf die Erde, um mit den Sterblichen ihren Schabernack zu treiben. Und das machen meine Götter auch. Nur das Entscheidende ist, dass bei mir hinter allem ein Mann namens Adam Godley steht, der einen Schlaganfall erlitten hat. Und der sich nun in einem Zustand zwischen Leben und Tod befindet. Und mir kommt es manchmal so vor, als ob alle Stimmen des Romans tatsächlich nur in seinem Kopf sind. Als ob es also gar keine Götter gäbe, keinen Hermes, keinen Jupiter. Sondern nur Adam Godleys Gehirn. Welches natürlich mein Gehirn ist, weil ich der Gott der Geschichte bin. Jeder Schriftsteller denkt ja von sich, er sei ein kleiner Gott."

    Der Romanschriftsteller als eigentlicher Gott der Geschichte und die Götterwelt nur als Erklärungskonstrukt der menschlichen Fantasie: In "Unendlichkeiten" wird der antike Mythos zwar noch einmal wiederbelebt, aber nur noch als ironisches Spiel. Und ein besonderer Kniff von Banvilles schnoddriger, geradezu slapstickhaft aufgetunter und manchmal arg überladener Amphitryon-Adaption besteht darin, dass hier die ursprünglich äußerst selbstbewussten Götter ungewohnt postmoderne Zweifel hegen. Ja, mit ihrer Omnipotenz und Allwissenheit regelrecht hadern. Nicht genug, dass Banvilles Götter nur sehr ungern der Wahrheit in ihrer grausamen Totalität ins Auge sehen, die für einen Menschen – so Hermes – auf der Stelle tödlich wäre. Nein, diese höchst menschlichen Götter leiden auch ausgerechnet am Schlimmsten darunter, worum die Menschen sie doch am meisten beneiden: unter ihrer Unsterblichkeit:

    "Die zwei Dinge, um die uns die Götter beneiden, auch wenn sie uns kreiert haben, sind: Wir werden sterben und wir können lieben. Denn die Götter können nicht lieben, sondern nur Lust empfinden. Hermes sagt es ja auch: 'Das ist es, was wir Götter nicht erwartet haben: Wir erfanden die menschlichen Kreaturen, aber die Liebe ist ihre Erfindung.' Denn die Liebe ist ja nur deshalb so heftig und wunderbar, weil wir Menschen wissen, dass sie enden wird. Dass wir sie verlieren werden. Wir haben dieses Bewusstsein des Todes dabei. Die Tiere sind sich zwar auch des Todes bewusst, aber sie brüten nicht so darüber wie wir. Wir sind von unserer Endlichkeit besessen. Davon, dass wir sterben werden, dass alles Geliebte sterben wird, die Liebe selbst. Das macht sie zwar sehr grausam, aber es gibt der Liebe auch eine außergewöhnliche Süße, solange sie lebt."

    Liebe und Tod: Das sind bei Banville auch diesmal wieder die ebenso untrennbar wie tragisch miteinander verbundenen Pole der menschlichen Existenz. Eins ist ohne das andere nicht zu haben. Göttliche Unsterblichkeit darum nicht wirklich erstrebenswert. Mitleiden aber tut man mit Banvilles Göttern und Menschen nicht, die eher wie exemplarische Typen als wie individuelle Charaktere wirken. Und auch die Carpe-diem-Botschaft seiner Sterbeparabel vom alten Adam ist natürlich nicht neu. Trotzdem ist dieses Buch ein Lesevergnügen und macht einen bei aller gelegentlichen Albernheit auch nachdenklich. Denn so respektlos der irische Autor einerseits die olympischen Götter zum Tanzen bringt, so ernst ist es ihm doch andererseits mit seinem Aufruf zu mehr Rückbesinnung auf die antike Lebenskunst. Die einzige Unendlichkeit, die dem Menschen demnach vergönnt ist, liegt allein im intensiv erlebten Augenblick. Nur wer mit allen Sinnen bewusst die Gegenwart genießt, erhascht bei Banville zumindest momentweise einen Hauch von Ewigkeit. Diese alte Mythenweisheit der "Unendlichkeiten" gewinnt angesichts einer ständig auf Fortschritt ausgerichteten, christlichen Leistungsgesellschaft, die ihre Bedürfnisse allzu gern auf morgen verschiebt, tatsächlich ungeahnt neue Brisanz:

    "Ich glaube der Monotheismus hat wirklich eine Verwüstung angerichtet und ist eine unserer schlimmsten Erfindungen. Sehen Sie sich in der Welt um! Betrachten Sie den Schaden, den das Christentum angerichtet hat. Darin heißt es, dass dieses Leben wertlos sei. Alles, wonach wir streben sollen, ist ein Leben nach dem Tod. Aber es gibt kein Leben nach dem Tod. Hier ist der Himmel, und hier ist die Hölle. Das ist alles, was wir haben und alles, was wir bekommen werden. Und es ist ein sehr guter Deal. Das Leben ist kurz und geht schnell vorbei. Doch solange es da ist, ist es phantastisch. Warum also etwas anderes wollen?"

    Literaturhinweis:
    John Banville: "Unendlichkeiten". Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 288 Seiten, 19.99 Euro.