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"Das Mädchen, das man ruft"
Der Körper als Währung

Wo beginnt der sexuelle Missbrauch? Diese seit Beginn der Me-too-Debatte allgegenwärtige Frage erkundet der französische Schriftsteller Tanguy Viel in seinem achten Roman „Das Mädchen, das man ruft“. Er spielt im Schattenreich der politisch Mächtigen.

Von Christoph Vormweg | 29.03.2022
Tanguy Viel: "Das Mädchen, das man ruft"
Tanguy Viel: "Das Mädchen, das man ruft" (Portraitfoto: Nadine Michau / Buchcover: Wagenbach Verlag)
Normalerweise gibt es in den Romanen von Tanguy Viel - etwa in „Unverdächtig“ oder in „Das absolut perfekte Verbrechen“ - viel zu lachen. Denn er ist ein Meister des parodistischen Spiels mit den klassischen Motiven, Plots und Mythen des Krimi-Genres. In seinem achten Roman „Das Mädchen, das man ruft“ ist das anders. In ihm dominiert die Beklemmung. Das liegt an seinem Stoff: die seit Beginn der Me-too-Debatte allgegenwärtige Frage, wo der sexuelle Missbrauch beginnt. 

Bretonische Provinz-Helden

Laura hat als Fotomodell für Unterwäsche Karriere gemacht. Als Teenagerin war sie aus ihrem durch Suff, Fremdgehen und Gewalt zerrütteten Elternhaus geflohen. Doch kehrt sie mit leeren Taschen heim in die kleine bretonische Hafenstadt. Darin gleicht sie ihrem Vater, dem französischen Ex-Box-Meister, der mittlerweile als Chauffeur arbeitet.
„Seinerzeit hätten sie sich beinahe auf benachbarten Plakaten begegnen können, Vater und Tochter an den Granitwänden, den Körper weitgehend entblößt, der magnetische Blick dazu bestimmt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dabei einander entgegengesetzt, da sie jeweils die archetypischen maskulinen und femininen Signale ausstrahlten — er das
muskelbepackte Biest, dessen geschwollene Adern Kraft und Virilität verströmten, sie ganz laszive Kurven und gebleichte Zähne, mit denen sie sich auf die Unterlippe biss. So hätten sie einander begegnen, sich gegenseitig betrachten können, sozusagen inzestuös an den Wänden der Stadt, aber das war nicht geschehen.“
Schnee von gestern. Wenigstens ein bisschen will der abgestürzte Boxer-Vater wieder gut machen: mit der Bitte an seinen Chef, den Bürgermeister, seiner Tochter bei der Wohnungs- und Jobsuche zu helfen.

Mitmachen in einem uralten Ritual

Beim Besuch von Laura im Rathaus ist das Prinzip aber sofort klar: Tue ich dir einen Gefallen, tust du mir einen. Die Gesten des Bürgermeisters lassen keine Zweifel zu. Druck muss er kaum ausüben, um Laura als Gegenleistung für die Stelle im Casino seines alten Weggefährten dort regelmäßig zum schnellen Sex treffen zu können. Doch als der Bürgermeister zum Minister in Paris aufsteigt, erstattet sie Anzeige.
„Und jetzt war es, als wäre ihre Geschichte nicht wirklich ihre eigene, im Grunde war sie sogar dafür hierhergekommen, um ihre Geschichte in der dritten Person zu erzählen, sie, die weder von Vergewaltigung noch von Zuhälterei sprach, schon gar nicht von missbräuchlichem Handel mit Einfluss oder missbräuchlicher Ausnutzung, sondern lediglich chronologisch die verschlungene und zunehmende Ausdehnung seiner Macht über sie beschrieb.“
Tanguy Viel verschränkt  die Erzählung mit der Aussage, die Laura vor zwei Polizisten macht. Innen- und Außensicht kreuzen sich anspielungsreich. Schließlich stellt sie – in aller Naivität - die Kernfrage:

'"Aber Macht", sagte sie, "ist kein Verbrechen, oder?"'
Mit kühler Distanz steuert Tanguy Viel auf die emotionalen Sprengsätze zu, die im Spiel sind und sich mit jeder Seite weiter aufladen. Auch alte Kleinstadt-Konflikte kommen wieder an die Oberfläche. Die Frage, wer die Lage zum Eskalieren bringt und wohin das führt, bleibt bis zuletzt offen. In jedem Fall: Tanguy Viels Faible für Film-Techniken kommt oft zum Tragen. Denn er schaltet bei den Treffen von Laura und dem Bürgermeister auf Zeitlupe. Die Szenen werden so langsam und schonungslos im Detail erzählt, dass einem beim Lesen fast übel wird. Doch arbeitet er so die ganze menschliche Kläglichkeit des Bürgermeisters heraus.
So hart die Thematik ist: Von Beginn an lässt Tanguy Viel – wie gewohnt - an seinen hohen stilistischen Selbstansprüchen keinen Zweifel. Vor allem bei der Übersetzung seiner genau austarierten Schachtelsätze kann Hinrich Schmidt-Henkel seine Klasse demonstrieren. Bestechend ist der Roman „Das Mädchen, das man ruft“ nicht nur durch den gut geschnittenen, spannenden Plot und starke Metaphern, sondern auch durch die Dynamik des Diffusen. Denn Laura weiß selbst nicht, wer oder was sie bei all dem gesteuert hat. Wie in seinen früheren Romanen versteht es Tanguy Viel dabei, unsere Erwartungshaltungen immer wieder in die Irre zu führen. Und: er lässt das Missbrauchsdrama am Schluss in eine Satire auf die Hörigkeit der Medien gegenüber den Politstrategen gipfeln – bitter, zupackend und literarisch versiert bis zur letzten Zeile.
Tanguy Viel: „Das Mädchen, das man ruft“
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 156 Seiten, 20 Euro.