Albrecht Betz lehrt Literaturgeschichte in Aachen und Paris. Er veröffentlichte zahlreiche Essays zur deutschen und französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 2002 erschien sein Buch "Französisches Pathos. Selbstdarstellung und Selbstinszenierung".
Der Preis der Emanzipation
Mendelssohn und Heine
Mendelssohn und Heine
"Ich bin böse auf ihn wegen seines Christelns, ich kann diesem durch Vermögens-Umstände unabhängigen Menschen nicht verzeihen, den Pietisten mit seinem großen, ungeheuren Talente zu dienen. Je mehr ich von der Bedeutung des letzteren durchdrungen, desto erboster werde ich ob des schnöden Missbrauchs. Wenn ich das Glück hätte, ein Enkel von Moses Mendelssohn zu sein, so würde ich mein Talent wahrlich nicht dazu hergeben", "
schreibt Heine 1846 aus Paris an den jungen, ihn verehrenden Ferdinand Lassalle. Das "Christeln" meint die in seinen Augen nur anempfundene Religiosität des Komponisten des Paulus-Oratoriums, Felix Mendelssohn Bartholdy . Beide, Heine wie Mendelssohn, sind bereits europäische Berühmtheiten, Stars der Kulturszene, gelten als große Gestalten der deutschen Romantik; und beide sind protestantisch getaufte Juden.
Kann man vermuten, dass der polemische Tonfall Heines zu tun hat mit der Sicht des politischen Emigranten auf den, der sich mit den heimischen Mächten arrangiert und dort Karriere gemacht hat ? Die Stimmung ist ohnehin aufgeheizt. Immerhin sind es nur noch zwei Jahre bis zur März-Revolution von 1848...
Ja und nein. Nein, weil Felix Mendelssohn sich nicht zu arrangieren brauchte, denn der Sprössling einer Bankiersfamilie war bereits Teil - beinahe Teil - des Berliner Establishments und erfuhr von Preußen Förderung und Privilegien; mehr als sanfte Reformen des Status quo schienen da gar nicht wünschenswert. Ja, weil er sich in den Dienst einer Ideologie stellte ("Pietismus" steht in Heines Augen für Reaktion), die gerade jene Ideen des Fortschritts und der Aufklärung verriet, für die der Name Moses Mendelssohn einstand.
Jener Großvater von Felix, dem Heine offenbar große Bedeutung zumaß ?
Und das mit Recht - er huldigt ihm geradezu als einem Ahnherrn und Wegbereiter der Emanzipation. Über die gesellschaftliche Relevanz seiner Schriften notiert Heine in seinem großen Essay zur "Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland", 1834 :
""Moses Mendelssohn hat ... eine große soziale Bedeutung. Er war der Reformator der deutschen Israeliten, seiner Glaubensgenossen... Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nämlich die Tradition verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte und den wichtigsten Teil derselben übersetzte. Er zerstörte hierdurch den jüdischen, wie Luther den christlichen Katholizismus."
Wie Heine gleich darauf auf Moses Mendelssohns Freund Lessing zu sprechen kommt, dessen Kraft der Kritik und Streitlust rühmt, seinen Wagemut und seine Unverbiegbarkeit - im Zeichen von Vernunft und Freiheit - als forderndes Vorbild für die Schreibenden zum Leuchten bringt : darin wird deutlich, dass er sich selbst dieser aufklärerischen, in Deutschland stets minoritären Linie zugehörig weiß. Was er anstimmt, ist das Hohelied des Widerstands gegen das Bestehende. Später würde man sagen: das Nein-sagen-können als Tugend des Intellektuellen. Die Überzeugung, dass das, was ist, nicht alles ist. Und dass die Emanzipation alle menschlichen Bereiche umfassen soll, die religiöse nur der Anfang sein kann, die politische und soziale folgen müsse.
Das klingt ganz anti-autoritär ...
... und ist es auch. Kein Wunder, dass die 68er Heine als einen der ihren wiederentdeckten...
... wobei es schwer vorstellbar ist, einen so rebellischen Geist für eine Bewegung vereinnahmen zu wollen - auch wenn er sich auf dem Gipfel seiner Kampfzeit als Tambourmajor verstand .
Preußen scheint Heines permanenter Feind: autoritär und frömmlerisch zugleich; mit einem König an der Spitze - Friedrich Wilhelm IV. - der sich als Kunstliebhaber liberal maskiert.
Dass Mendelssohn gerade von ihm sich hofieren lässt als Favorit, dass er als hochbegabter Musiker das Thron-und-Altar-System durch seine Kunst noch befestigt statt es zu unterminieren, das hält Heine für unverzeihlichen Opportunismus. Zugleich für das unfreiwillige Unterlaufen oppositioneller, eigener Anstrengungen; kurz: für autoritäts-frommes, überangepasstes Verhalten. Dieser Preis für Emanzipation und Assimilation scheint ihm zu hoch.
Die Gunstbezeigungen für Felix Mendelssohn durch den obersten Preußen fallen vor allem in den frühen 1840er Jahren in der Tat sehr dicht: Ernennung zum Königlich-preußischen Kapellmeister, Orden Pour-le-mérite, Ernennung zum Generalmusikdirektor, Leiter der kirchlichen und geistlichen Musik in Berlin, etc.: wahrscheinlich für Heine ein Gräuel.
Weshalb er ihn in seinem Versepos "Deutschland. Ein Wintermärchen" mit dem boshaften Vierzeiler abfertigt:
"Der Abraham hatte mit Lea erzeugt
Ein Bübchen, Felix heißt er,
Der brachte es weit im Christentum,
Ist schon Capellenmeister."
Und wie sah Mendelssohn Heine ?
Ähnlich kritisch. Er trennte zwischen dem - ihm unausstehlichen - Wortführer gefährlich liberaler, heute würde man sagen: linker Ideen; und dem Poeten, der der deutschen Lyrik einen neuen Ton hinzugewonnen hatte ; keinen zeitgenössischen Dichter vertonte er so häufig wie Heinrich Heine. Es waren die Heine-Lieder, die Mendelssohn als Liedkomponisten im In-und Ausland berühmt machten.
Die Welt der Naturgeister etwa mit ihrer elfenhaft-quirligen Unberechenbarkeit faszinierte beide, Shakespeares "Sommernachtstraum" hatte Pate gestanden.
Kann es sein, dass die Lust am Gefälligen, am Schönklang, die einem Teil der Mendelssohnschen Kompositionen die Popularität sicherte ? Oft wurde ihm ja Glätte nachgesagt, eine gewisse Konventionalität ...
... und dass das Interesse an "bahnbrechender Neuerung" fehlte, wie Dietrich Fischer-Dieskau meint. Es werden aber auch, durch diesen Wohlklang, sehr suggestiv Sehnsuchtsräume erschlossen, Erwartungen hochgespannt, die, oft mit einem Hauch von Resignation umhüllt, imaginär ein Anderes erahnbar machen ; Gesang kann, in diesen Liedern, die Identität im Einklang mit der Natur suchen - oder in künstliche Paradiese schweifen ...
Vermutlich hat Mendelssohns Prominenz in den beiden Jahrzehnten vor der 1848er Revolution auch mit seiner Universalität als Musiker zu tun: er ist nicht nur Komponist sondern auch europäischer Stardirigent, Klaviervirtuose und - in Leipzig - Gründer der ersten deutschen Musikhochschule. Seine Verdienste um die Widerbelebung der musikalischen Tradition ...
Sie spielen an auf die Bach'sche Matthäuspassion, die er als Zwanzigjähriger aus der Versenkung holte und in Berlin, im März 1829 zur Wiederaufführung brachte.
Der Glaube an die seligmachende Wirkung der "Alten Meister" war ihm von seinem Lehrer Zelter vermittelt worden, dem Leiter der Berliner Singakademie und Duzfreund von Goethe.
Dieser Wiederaufführung, einem historischen Event der deutschen Musikszene im Vormärz, wohnt Heine bei - und trägt einen lebenslangen Widerwillen gegen die Bach'sche Musik davon. Er hält sich gerade für einige Monate in Berlin auf, arbeitet an seinen "Reisebildern" und frequentiert den Salon Rahel Varnhagens und den der Familie Mendelssohn.
In seiner großen, soeben auf deutsch erschienenen Mendelssohn-Biografie schreibt der amerikanische Musikwissenschaftler Larry Todd:
"Am Aufführungstag stellte sich heraus, dass im Vorfeld zu viele Konzertkarten verkauft worden waren, so dass 1000 Berliner wieder fortgeschickt werden mussten. Im Publikum saßen der König und sein Hofstaat, Schleiermacher, Hegel, Heinrich Heine, Rahel Varnhagen, Spontini und Zelter, möglicherweise auch Nicolo Paganini, der Anfang März zu eine Reihe von Solokonzerten eingetroffen war. Mendelssohn hatte das Werk gekürzt und überarbeitet. Die Absicht hinter diesen behutsamen Änderungen: Sie sollten die Berliner Zuhörer veranlassen, in Bachs Meisterwerk ihre eigene geistliche Herkunft als deutsche Protestanten zu erkennen. In dem Moment, in dem Bachs Komposition das Publikum wie eine göttliche Offenbarung erfasste, wurde aus der Singakademie eine Art musikalisches Heiligtum.
Als Dirigent leitete Mendelssohn symbolisch die ‚Gemeinde'... Der Zuspruch, den die Aufführung erfuhr, war außergewöhnlich. Die Bach-Mysterien aus Zelters engstem Kreis waren nun - als "das höchste, welches Deutsche Kunst hervorgebracht hat" - publik gemacht... Ganz Deutschland erlebte eine Bach-Renaissance, und die "Matthäuspassion" wurde zum Symbol des protestantischen Idealkunstwerks ... Die Wiederaufführung war der krönende Abschluss von Mendelssohns Jugendjahren. Durch den Erfolg war ihm symbolisch die Assimilation
an die preußische Kultur gelungen."
Symbolisch, nicht tatsächlich, wie sich später zeigen sollte. Heine, dem Rückwärtsgewandtheit und Vergangenheitskult eher fatal waren, der in seiner emanzipatorischen Perspektive Luther nicht als feste Burg der Frömmigkeit und der Innerlichkeit brauchte, sondern als einen Vorkämpfer der Geistesfreiheit, der zum Protestantismus konvertiert war aus rein pragmatischen Gründen - der Taufzettel als "Entreebillett zur europäischen Kultur" - Heine, der die Geistesgeschichte und sogar die Volksmythen durchkämmte auf progressive Gestalten und Potentiale, konnte solch - in seinen Augen - romantisch-kirchlicher Restauration nichts abgewinnen. Dieser Erfolg dürfte seine Aversion gegen Preußen und dessen prominentesten jungen Musiker gesteigert haben. Das war nicht die Assimilation, die ihm vorschwebte.
In den Erinnerungen des mit Mendelssohn befreundeten Schauspielers Eduard Devrient, dem Mitinitiator der Wiederaufführung, findet sich die interessante Notiz, Mendelssohn habe die Bedeutung ihrer beider Unternehmung in die Bemerkung gefasst:
"... dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen."
Woraus man schließen kann, dass trotz aller rechtlicher Gleichberechtigungsbestrebungen, die seit Napoleons Code civil in der Luft lagen, von einer Integration der deutschen Juden weder in ihrem Selbstverständnis noch dem der sie umgebenden Gesellschaft die Rede sein konnte. Im Falle Felix Mendelssohns: auch wenn man aus einer berühmten Familie kam, über die schon Friedrich der Große seine Hand gehalten hatte.
Diese Einschätzung, nicht ganz zum deutschen Kulturkreis zu gehören, und das Staunen über das Auftauchen von jüdischen Komponisten und Dichtern selbst bei Wohlgesinnten, geht aus dem Brief Zelters an Goethe hervor, in dem er seinen hochbegabten Schüler Felix erwähnt, nicht ohne zwei - karikierend gemeinte - jüdisch-deutsche Wörter einfließen zu lassen:
"Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich's gehört; es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde."
Zelter bringt den jungen Felix, der rasch als musikalisches Wunderkind gilt, mehrfach zu seinen Besuchen in Weimar mit - der siebzigjährige Goethe hat an dem Knaben mit dem großen Talent Gefallen gefunden. Im Junozimmer seines Hauses am Frauenplan hat er einen neuen Hammerflügel aufstellen lassen und der zwölfjährige Mendelssohn ist einer der ersten, der ihm darauf vorspielen und improvisieren darf. "Ich bin Saul, und du bist mein David", sagt er ihm gönnerhaft und bewundernd. Der künftige Komponist revanchiert sich für die Zuneigung durch die Vertonung mehrerer Gedichte Goethes und die der "Ersten Walpurgisnacht" aus dem Faust. 1830 bescheinigt Goethe dem "trefflichen Felix", zu einer "hoch zu feiernden ... vollendeten liebenswürdigen Kunst" gelangt zu sein, deren Wirkung er als "besonders wohltätig" schätze.
Solche individuellen Beziehungen sagen freilich wenig aus über die mehrheitliche Einstellung der sogenannten ‚Gebildeten', die damals unvermindert dazu neigen, die durch die Hardenbergschen Reformen angebahnte Judenintegration abzuwehren. In Berlin hatten Autoren der zweiten Romantik schon 1811 - als Gegenmodell zu den jüdischen Salons der späten Aufklärung - eine "Christlich-teutsche Tischgesellschaft" entworfen; deren Wortführer, Clemens Brentano und Achim von Arnim, deklarierten, Juden, Franzosen und Philister dürften keinen Zugang haben: ein wenig unschuldiger Akt der Ausgrenzung. Brentano und Arnim erfanden die unappetitliche Verknüpfung von Philister- und Judensatire, eine provokative Zusammenstellung unter dem gemeinsamen Nenner: verspätet, leblos, verbraucht, "ohne Zusammenhang mit dem lebendigen Blutumlauf". Nur eine Etage höher als auf der populären Ebene wurden hier die Reaktionsweisen Spott und Verachtung reproduziert.
Eine unglückliche Konstellation: das Bewusstsein von deutscher nationaler Identität, das in der Romantik zu keimen beginnt, soll produziert werden durch den Ausschluss von Minderheiten und die schroffe Abwehr all dessen, was aus dem erst königsmörderischen, dann - unter Napoleon - imperialistischen Frankreich kommt; das Neue, Fortschrittliche wird als verbunden mit Unterdrückung erfahren: so die Republik und die Menschenrechte.
Im später zum deutschnationalen Klassiker avancierten Werk Ernst Moritz Arndts Geist der Zeit heißt es bereits 1814, das "germanische Wesen" sei im höchsten Maße bedroht durch das Voranrücken der Franzosen und der Juden. Die Sprache der Franzosen sei falsch und frivol, die der Juden "verdorben und entartet".
Heine sollte sich dieses explosiven Gemischs seit seinem Pariser Exil zu erwehren haben: der Verbindung von antijüdischer und anti-französischer Haltung, die künftig die Erbfeindschaftsthese munitionieren sollte. Er, der - nach Nietzsches Ausdruck - "gute Europäer", der die umfassende Emanzipation auf seine Fahnen geschrieben hatte und sie propagierte in Gedichten und in Prosa, wurde zur Lieblingszielscheibe der rechtskonservativen Publizistik; sie wollte "nur" deutsch sein und diese kaum begonnene Emanzipation rückgängig machen. Sie konnte Heine nicht verzeihen, dass er die Ideen von 1789 so strahlend als Kometen in die Umlaufbahn des provinziellen Deutschland katapultiert hatte.
War es eine Illusion, die den Juden den bürgerlichen ‚Wertehimmel' als Zugangsweg in die Gesamtgesellschaft erscheinen ließ ? Der sie die Citoyen-Ideale als Sicherheit gewährende Leitplanken einer fortschreitenden Humanität und Zivilisation verstehen ließ ?
Vielleicht könnte man einen großen Teil des "langen" 19.Jahrhunderts darstellen unter dem Titel: "Die Emanzipation und ihre Feinde". Die drei großen Gruppen, die sich, zurecht, unterdrückt fühlen, sind die Juden, die Frauen und - als Ergebnis der industriellen Revolution - die Arbeiter. Die Forderung nach Gleichberechtigung macht sie gefährlich; Hierarchie und Privilegienstruktur könnten ins Rutschen kommen. Schon gelangen neue Begriffe in den Alltagsdiskurs, wie: Arbeiterfrage, Frauenfrage, Judenfrage, oder auch: Frauenbewegung und Arbeiterbewegung. All dies greift der französische Frühsozialismus um 1830 bereits auf - Heine steht zeitweilig den Saint-Simonisten nahe.
Erfahrungsgemäß werden solche neuen Tendenzen diffamiert, werden Gegenstand von Karikaturen, die sie maßlos verzerren ...
... im harmlosen Fall. Im schlimmsten Fall werden sie dämonisiert. Da werden "Weiber zu Hyänen" gemacht, die ihre natürliche Bestimmung verleugnet haben, Juden zu Kraken, die den Globus aussaugen, Arbeiter zum aus der Tiefe aufsteigenden Ungeheuer.
Mit jüdischen Sozialrevolutionären als Führern: siehe Marx und Lassalle. Oder, spiegelverkehrt, mit einflussreichen Bankiers: siehe Rothschild in Paris und London, Salomon Heine in Hamburg oder die Mendelssohns in Berlin. Sehr öffentlich sichtbare Gestalten, privilegiert und exponiert zugleich. Und wegen ihrer inter-nationalen Verbindungen unsichere Kantonisten in nationalistischer Sicht. Sie als in jedem Fall Fremde zu stigmatisieren schien aus Selbstschutz geboten.
Auf jüdische Künstler bezogen lagen die Dinge komplizierter. Heine und Mendelssohn waren die beiden ersten Deutschen ihres - wie man damals sagte - Stammes, die sowohl nationale als internationale Anerkennung gewonnen hatten und die sich als große Namen dem deutschen Kulturkreis zugehörig wussten. Für sich selber konnten sie die Emanzipation, jeder auf seine Weise, für bereits gelungen halten. Der Preis dafür war hoch, wie sich zeigen sollte.
Den teutonischen Gegnern - Heine nannte sie ironisch: die "Champions der Nationalität, die auf germanische Rassereinheit pochen" - blieb als wirksame Waffe, den Wahn eines angeblich Authentischen zu inszenieren: allein Deutsche "rein" deutscher Abstammung könnten der "Volksseele" als Dichter und Musiker Ausdruck verleihen. Wer sein Volk nicht "in sich" habe, sei allenfalls zur Imitation imstande, könne nicht zur schöpferischen Produktion beitragen, bleibe steril im Bann der Uneigentlichkeit, des "Als ob".
Wohl deshalb setzten sich zwei Pamphlete zum Ziel, Mendelssohn und Heine des Unauthentischen zu überführen. Das erste stammt von Richard Wagner und erschien 1850 unter Pseudonym mit dem Titel "Das Judentum in der Musik". Der Autor des zweiten ist Karl Kraus. 1910 veröffentlichte er "Heine und die Folgen". Beide sind schlimme, fast exorzistische Polemiken, die viel über die je eigenen Selbstzweifel ihrer Verfasser verraten. Die Wirkung reichte bis weit ins 20. Jahrhundert, da beide Pamphlete offenbar auf willige Resonanz stießen: Sie bedienten massiv antisemitische Klischees. Und das, obwohl der eine der beiden Autoren, Karl Kraus, selbst jüdischer Abkunft war.
Es lohnt, sich das zeitgeschichtliche Umfeld von Wagners "Judentum"-Aufsatz ins Gedächtnis zu rufen. Mit dem niedergeschlagenen Dresdner Aufstand, 1849, an dem Wagner beteiligt war, galt die Märzrevolution als endgültig gescheitert. Zwar gelang ihm die Flucht - er wurde steckbrieflich gesucht -, aber der Versuch, an der Pariser Oper Fuß zu fassen, scheiterte; Aufführungen hatte er keine, ihm drohte - inzwischen im Zürcher Exil - die Vergessenheit: für einen Künstler das Inferno.
Solche Perioden, mit ihren Existenzkrisen und Bedrohungsängsten, sind stets ein Nährboden für Feindbildprojektionen. Es müssen Schuldige gefunden werden, Verschwörung liegt in der Luft, ein ‚Sündenbockmechanismus' setzt sich in Gang. Fast paranoid stilisiert Wagner von nun an die erfolgreicheren jüdischen Kollegen Mendelssohn und Meyerbeer zu Verderbern deutschen Volksgeistes und deutscher Kunst - unlautere Rivalen, deren Geschick nur darin bestehen kann, den korrupten, internationalen Musikbetrieb zu bedienen.
Kann oder konnte, denn Mendelssohn starb wenige Jahre zuvor. Auch von den beiden jüdischen Schriftstellern, mit denen er bei dieser Gelegenheit ebenfalls abzurechnen versucht, ist einer bereits tot, Ludwig Börne; der andere, dem Wagner weit mehr als nur die Anregung zum Fliegenden Holländer und zum Tannhäuser, überhaupt zur Aktualisierung des Mythos verdankt, erzielt noch immer starke Resonanz : Heinrich Heine. In wenigen Monaten wird dessen späte Gedichtsammlung Romanzero erscheinen, die "dritte Säule seines lyrischen Ruhms", der sehr viel satirisches auch zum Lauf der Kultur-Welt enthält.
Wagner macht mit seinem Pamphlet den kulturellen, teils schon rassistischen Antisemitismus salonfähig; er kann sich auf den in Europa jahrhundertealten Antijudaismus stützen, den der moderne Antisemitismus nicht ablöst, sondern bloß überlagert; Wagner weiß, dass er als stille Reserve im kollektiven Gedächtnis schlummert. Seine Schrift scheint insofern repräsentativ, als er die Schuldigen - ihnen fehlt die wurzelhafte Verbundenheit - glaubt gefunden zu haben und sein Text so zum Ventil des Unbehagens an der kapitalistischen Moderne wird.
Paradox ist, dass Mendelssohn die Oberflächlichkeit des Musikbetriebs seiner Zeit bereits Jahre zuvor gegeißelt hatte; dass Heine in Paris das Ware-Werden der Kunst in der metropolitanen Kulturindustrie seit langem mit der soziologischen Schärfe eines Vorläufers der Frankfurter Schule entlarvte: als gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die an keine Konfession gebunden war; während Wagner den ganzen Komplex nun mit Aplomb - als spezifisch jüdisch - ins Rampenlicht stellte: als Verhängnis der Gegenwart.
Dass Heine auch Mendelssohn und Meyerbeer kritisiert hat, greift Wagner mit giftiger Freude auf. Er schreibt - nach einer Verbeugung vor dem "ungemein begabten dichterischen Juden" und seiner Fähigkeit, die Dinge "mit hinreißendem Spotte aufzudecken":
"Auch seine berühmten musikalischen Stammesgenossen geißelte er unbarmherzig für ihr Vorgeben, Künstler sein zu wollen; keine Täuschung hielt bei ihm vor: von dem unerbittlichen Dämon des Verneinens dessen, was verneinenswert schien, ward er rastlos vorausgejagt... durch alle Illusionen moderner Selbstbelügung hindurch."
Einem streitbaren Geist wie Heine, der sich in berühmt gewordenen Polemiken auch mit Gestalten wie Platen oder dem Literaturpapst Wolfgang Menzel angelegt hatte, dem es egal war ob Mendelssohn getauft und Meyerbeer ungetauft war, war es um Geistesfehden gegangen, politische, soziale, ästhetische. Bei Wagner wurde das Judentum, das Jüdische, der Jude zu einem denunziatorischen Kollektivsingular; auf Künstler bezogen meinte das eine negative Sphäre von Seichtem und Trivialem, von Unechtem und Nachahmung, von Reproduktion und Manipulation. Auf das "Volk" und seine Gemeinschaft - an solch romantisierender Vorstellung hielt Wagner fest - könne derlei nur zersetzend wirken.
Man kann in seinem Aufsatz "Über das Dirigieren" eine Wortschöpfung finden, die offenbar in diesen Zusammenhang gehört: der Musikbankier. Er wird in Verbindung mit Mendelssohn und "seiner Schule" gebraucht.
Das ist eine Prägung Wagners, die auf seinem frühbewegten Antikapitalismus fußt. Er will ausdrücken, dass sich die Distributions- und Zirkulationssphäre vor die eigentliche Produktionssphäre geschoben hat; anders gesagt, im modernen Konzertbetrieb sind die Dirigenten wichtiger als die Komponisten geworden: eine Perversion. Den Pultvirtuosen, die mit den Schöpfungen anderer Geld verdienen, gilt Wagners besonderer Biss. Mendelssohn als Dirigent des Leipziger Gewandhauses - seine Werke, bis heute im Konzertsaal präsent, übergeht Wagner - war nur der berühmteste. Mit professioneller Routiniertheit und gefälliger Eleganz nivellieren sie, die Musikbankiers, die Ausdrucksqualitäten der schöpferischen - und eben nicht "glatten" - Werke, nehmen den Dingen ihren ursprünglichen, vielleicht sperrigen Gehalt, profitieren von purer Vermittlertätigkeit; so, wie die in Wagners Verständnis unproduktiven Bankiers alle konkreten Gebrauchswerte auf ihren abstrakten Waren- und Geldwert reduzieren: um von Geld zu Mehr-Geld zu gelangen.
So klingt es bei neutraler Wiedergabe seiner Gedanken. In den originalen Texten finden sich drastischere Formulierungen. Immerhin: in seltenen Augenblicken wurde sich Wagner der eigenen Bosheit bewusst und konnte sich selbstironisch darüber erheben, Heine kopierend:
"Im wunderschönen Monat Mai
Kroch Richard Wagner aus dem Ei.
Ihm wünschen, die zumeist ihn lieben,
Er wäre besser drin geblieben."
Dass es Heine an einer authentischen lyrischen Sprache fehle - die sei epigonal und aus zweiter Hand - gehört zu den Invektiven von Karl Kraus. Der Wiener Autor und Herausgeber der "Fackel" versperrte mit seiner Polemik "Heine und die Folgen", die 1910 erschien, einer ganzen Intellektuellengeneration in Deutschland und Österreich den Zugang zu Heines Werk, seinen Gedichten und seiner Prosa. Scheinbar avanciert argumentierend, begründete er die Herabsetzung nicht politisch oder rassistisch, sondern ästhetisch. Ähnlich Wagner ging er von der "öffentlichen Verkommenheit des deutschen Kunstgefühls" aus, was bei einem Sprachkritiker wie Kraus vor allem eine Degeneration des Sprachbewusstseins meinte. Heine, so Kraus, sei der Ahnherr des aktuellen Feuilletonismus, der sich zwischen den Polen Witz und Sentimentalität bewege, den Dingen äußerlich bleibe und jedes Thema zu überzuckern vermöge; die verhängnisvolle Folge sei die zur zweiten Natur gewordene Glätte, Seichtigkeit und Imitierbarkeit der Sprache.
Der Impuls, sich von Heine zu distanzieren, ist überdeutlich. Kraus hat den Antisemitismus, den er nicht ausspricht, verinnerlicht, und gebraucht seine Argumente: psychologisch ein Musterbeispiel für die Identifikation mit dem Sieger, aus dem Bedürfnis, dazuzugehören.
Am meisten hat sich die sehr suggestive Formel eingeprägt, Heine habe der deutschen Sprache das Mieder gelockert, so, dass jeder Kommis an ihren Brüsten herumfingern könne.
Das ist ebenso suggestiv wie infam. Was er sagen will, ist, Heine habe durch seinen Gebrauch der Sprache ihre Reinheit kompromittiert; die Sprache Goethes sei - durch Einführung der Feuilletonsprache - kommerzialisiert worden. Davon haben sich, dank der großen Autorität die Kraus damals besaß, jüdische Intellektuelle von Benjamin und Canetti bis Adorno beeindrucken lassen; sie gingen zu Heine auf Distanz, hielten gar die Lektüre für überflüssig.
So, als stehe er für den korrumpierten Literaturbetrieb, als Vermischer der Genres mit unsicherem Standort: innen und außen zugleich.
Heine hat absichtlich jede Form poetischer Reinheit verletzt: gerade weil sie noch zu behaupten Unwahrheit bedeutet hätte. Die gewaltige Spannung, die er auszutragen hatte, war die zwischen der zur Konvention gewordenen romantischen Sprache und dem Entstehen der modernen Gesellschaft; einer mit krassen Widersprüchen schwanger gehenden und keineswegs harmonischen. Sie war alles andere als rein. Sie auszublenden, wie es so viele Lyriker seines Jahrhunderts taten, zu behaupten, im Zustand der Versöhnung angekommen zu sein, hätte in seinen Augen intellektuelle Unredlichkeit bedeutet.
Seine Sprache weist darauf hin, gegen welche Widerstände jeder Fortschritt in der Emanzipation errungen werden muss und was in der Emanzipation der Menschheit noch nicht gelungen ist. Der Prozess ist offen.
In seinem späten, autobiografischen Gedicht "Enfant perdu" heißt es:
"Verlorner Posten in dem Freiheitskriege,
Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.
Ich kämpfte ohne Hoffnung, dass ich siege,
Ich wusste, nie komm ich gesund nach Haus.
...
Ein Posten ist vakant! - Die Wunden klaffen -
Der eine fällt, die andern rücken nach -
Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen
Sind nicht gebrochen - Nur mein Herze brach."